Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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kurz darauf prustend aus dem Wasser auftauchte.

      Wütend sah Cale zu ihm hoch.

      »Du bist ein verdammter Idiot, Jess Morgan! Das ist ein Fehler, du wirst sehen!«

      »Spar dir deinen Atem. Bis zur Pier zurück ist es noch ein ganzes Stück, Cale. Such den Gouverneur auf, er wird dir helfen.« Jess richtete sich auf. Sein Blick glitt zurück zum Hafen. Die Monsoon Treasure segelte gerade unter den Kanonenmündungen der östlichen Festungsanlage hindurch und würde gleich das offene Meer erreichen. Es war ein weites Stück zu schwimmen, aber Jess hatte keinen Zweifel daran, dass Cale die Strecke bewältigen würde.

      »Leb wohl, mein Freund«, setzte er leise hinzu. Wieder hatte er eine Brücke eingerissen und mit dem Gefühl, dass die Verfolgung seiner Ziele doch so viel mehr als Preis forderte als nur sein Leben, nahm er wieder seinen Platz auf dem Achterdeck ein.

      »Kurs Bocca del Torres, Männer!«, sagte er entschieden und lauschte den Strömungen seiner Männer, die ihm zum ersten Mal von ihren Zweifeln erzählten, ob er gerade das Richtige tat.

      *

      Lanea ließ die Schriftrolle sinken und schloss ergeben die Augen.

      Bei den Göttern, dachte sie verzweifelt und konzentrierte sich auf den Rhythmus ihrer Atmung, in der Hoffnung, sich so an die reale Welt um sie herum klammern zu können und nicht den Verstand zu verlieren. Konnten sie denn niemals wieder Ruhe finden? Sie konnte es einfach nicht glauben, was sie gerade gelesen hatte. Aber es erklärte den überstürzten Aufbruch von Jess und zerriss ihr Herz.

      Jess hatte sich nicht einmal umgedreht, als sie ihn gerufen hatte. Nein, sie hatte nicht gerufen. Sie hatte seinen Namen geschrien und damit beinahe die gesamte Dienerschaft auf den Plan gerufen. Tirado war bereits dort gewesen, und sie war ihm geradewegs in die Arme gelaufen, mit denen er sie zurückgehalten hatte.

      Tirado!

      Lanea öffnete die Augen und begegnete dem teilnahmsvollen Blick des Gouverneurs. Doch unmittelbar hinter seinem Mitgefühl drängte sich die Ungeduld hervor und legte sich auf seinem gutaussehenden Gesicht nieder. Er hoffte unverkennbar darauf, endlich von ihr den Inhalt der Schriftrolle erfahren zu können. Doch Cristobal Tirado y Martinez war nicht der Mann, der dieser Regung nachgeben würde und sie in der gegenwärtigen Situation zu irgendetwas drängte. Seine Hände ruhten also entspannt auf den Armlehnen seines Stuhles. Seine langen Beine hatte er lässig von sich gestreckt und vermittelte den Eindruck, dass er eine zwanglose Gesellschaft genoss.

      Lanea seufzte leise, und ihr Gegenüber hob unmerklich eine Augenbraue.

      »Möchtet Ihr, dass ich Euch das Schreiben übersetze?«

      »Ich möchte wirklich nicht ungeduldig erscheinen, angesichts der Situation, in der Ihr Euch momentan befindet, aber – ja – ich wäre Euch zutiefst dankbar, wenn Ihr mir den Inhalt offenbaren könntet.« Tirado hatte seine Beine eingezogen und sich aufrecht hingesetzt. Aufmunternd lächelte er sie an. »Ich weiß, dass es sehr schmerzlich für Euch sein muss.«

      Lanea presste die Lippen fest aufeinander und nickte. Sanft streichelte sie mit den Fingerspitzen über die Schriftzeichen. Die letzten Überbleibsel eines Lebens, das von der Besessenheit seiner Visionen gezeichnet war und deren Intensität auch überdeutlich zwischen den Worten dieses Schriftstückes lag. Lanea verweilte einen Moment, in dem sie die Gegenwart Tirados fast vollständig vergaß. Erst als auf ein leises Klopfen hin ein Diener eintrat und dem Gouverneur verstohlen etwas zuflüsterte, fand sie wieder zurück in das Hier und Jetzt.

      Tirado bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick und erhob sich elegant aus seinem Stuhl.

      »Entschuldigt mich bitte einen Augenblick. Es wird nicht lange dauern.« Dann folgte er dem Diener, der mit teilnahmslosem Gesicht an der Tür wartete, dass sein Herr ihm folgte.

      Was mochte so dringend sein, dass der Gouverneur seine Neugierde vergaß und sie alleine zurückließ? Unentschlossen stand sie auf und trat an das große Fenster, das den Blick auf den Garten freigab, dessen Springbrunnen sie bei ihrem ersten Besuch so fasziniert hatte. Doch jetzt empfand sie das Rauschen der beständigen Wasserfontäne als störend und verschwenderisch. Eine überflüssige Spielerei, die oberflächlich eine heile Welt vorgaukelte, in der es eben nicht nur um Spiel, sondern um Leben und Tod ging. Düster betrachtete sie die Palmen, die um den Brunnen herum gepflanzt waren. Zorn stieg in ihr auf, doch die Tür wurde wieder geöffnet und riss sie aus ihren Gedanken.

      »Ich muss Euch nochmals um Verzeihung bitten, Lanea. Ich werde Euch gleich von den Nachrichten, die ich erhalten habe, berichten, doch ich möchte zunächst auf das Schriftstück zurückkommen, wenn Ihr gestattet.«

      Lanea nickte und hob das Schriftstück, das sie immer noch in Händen hielt. Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und begann:

      »Jess, mein Sohn!

      Ich kann nicht umhin, diese Anrede für Dich zu verwenden, auch wenn ich weiß, dass Du es, nein, dass Du mich verabscheust. Aber dieses Wort verleiht dem Ausdruck, was ich für Dich empfinde; was ein Vater für seinen Sohn empfindet, mit all seinen Sorgen und seinem Stolz.« Lanea hielt mit zitternder Stimme inne und rang um Fassung. Ihre Kehle schnürte sich bei jedem Wort weiter zu, und sie räusperte sich mehrfach, bevor sie weiterlas: »Wenn Du dieses Schriftstück erhältst, befindet ihr euch, Du, Lanea und die Crew in Sicherheit, und die Monsoon Treasure ist wieder ein Teil von Dir. Doch der Sieg ist kein wirklicher Sieg. Gerade habt Ihr von dem Überfall auf die Abtei von Santo Domingo und auf Puerto Cabballas erfahren, u nd das wird nicht alles sein, was die Waidami in naher Zukunft zerstören werden. Jedes erreichbare Kloster wird vernichtet werden, denn die Waidami wollen keine Religion neben der ihren dulden. Keine Küstenstadt, kein Fischerdorf, selbst Cartagena wird sicher sein, wenn es mir nicht gelingt, Dich davon zu überzeugen, dass meine Vision kein Hirngespinst ist und Du der Schlüssel zur Vernichtung Bairanis bist. – Du hast mich auf Bocca del Torres gefragt, ob Du am Ende frei sein wirst, und ich habe Dir nicht geantwortet. Die Antwort darauf geht über meine Kräfte. Es gibt keine Gewissheit, denn wie Du weißt, sind die Visionen letztendlich nur Möglichkeiten, doch ich sehe auch jetzt nur ein Ende voller Leid und Schmerz.« Laneas Stimme versagte abrupt. Sie hatte den Text doch schon gelesen und wusste genau, was darin stand. Wieso konnte sie nicht einfach vorlesen, ohne mit den Tränen kämpfen zu müssen? Ihr Blick verschleierte sich und sie wischte sich hastig über die Augen. Reiß Dich zusammen, ermahnte sie sich und holte tief Luft: »Dein Ende wird von dem gleichen Fluss gespeist wie Dein Leben; er ist voller Steine und Untiefen. Die Angst davor, Einzelheiten zu nennen und Dich damit dazu zu verleiten, die falschen Entscheidungen zu treffen, ist einfach zu groß. Alles wäre gefährdet! Aber mein Freund Durvin, der ebenfalls ein Seher ist und der Überbringer dieser Nachricht, wird Dich, soweit es in seiner Macht steht, unterstützen und über Dich wachen. Doch manche Dinge sind leider unvermeidbar auf dem Weg, der vor Dir liegt. Jess, es fällt mir schwer, denn ich weiß, was ich von Dir verlange, aber verlasse unverzüglich Cartagena und begib Dich nach Bocca del Torres. Waidami-Schiffe werden an der Insel patrouillieren und Dich dort finden und gefangen nehmen. Auch wenn es Dir unwahrscheinlich erscheinen mag, aber Bairani will Dich und braucht Dich, um seine Macht und seinen Schrecken in die Karibik zu tragen. – Ein Weg, der unglaublich viel verlangt und doch ist der andere Weg, der Dir offensteht, nicht weniger leidvoll. Schon bald ist die Übermacht der Waidami so groß, dass der spanische Gouverneur gezwungen ist, Hilfe aus Spanien zu erbitten. Doch keinem seiner Schiffe wird der Durchbruch gelingen und die so dringend benötigte Hilfe wird nicht eintreffen. Die spanischen Schiffe werden zum größten Teil vernichtet und selbst Cartagena wird fallen. Danach gibt es niemanden mehr, der sich noch gegen die Waidami stellen könnte. Lanea wird, wie unzählige andere, bei einem Angriff ums Leben kommen, und Du bleibst gebeugt unter der Last des Wissens zurück, dass Du dies hättest verhindern können. – Erneut meine Bitte, mein Flehen, verlasse auf der Stelle Cartagena. Nur, wenn Du Dich dem Willen Bairanis unterwirfst, wird Dir auf diesem Weg ein Mensch begegnen, der das Schicksal zu unseren Gunsten wenden wird, und nur so wird Dir die Gelegenheit verschafft werden, Bairani zu töten. – Mit einem Gewissen, das voller Schuld auf Dein Leben blickt, erbitte ich Deine Vergebung – Tamaka« Laneas Stimme wurde bei den letzten Worten immer leiser. Dann ließ sie die Rolle kraftlos sinken. Ihre Augen brannten so sehr, dass die Tränen dahinter unter dem Schmerz