Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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verhielt das Pferd, das leise schnaubte. Auf der Treasure löste sich eine Gestalt aus den Schatten und trat langsam an die Fallreeppforte.

      »Captain!« Dan grinste ihn breit an. In seinem Gesicht standen die Spekulationen, warum sein Captain wohl nicht an Bord seines Schiffes geschlafen hatte.

      »Guten Morgen, Dan.« Jess sprang ab und wickelte die Zügel eilig um einen Poller. Dann ging er mit langen Schritten über die Laufplanke an Bord. »Weck die Männer, Dan. Wir stechen unverzüglich in See.«

      Jess ignorierte das verdutzte Gesicht Dans und ging zum Achterdeck. Dort stellte er sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Balustrade und sah über den Hafen. Noch lag leichter Frühnebel auf der Wasseroberfläche, der jedoch von den rasch kräftiger werdenden Strahlen der Sonne verbrannt wurde und damit die letzten Zeugen der kühleren Nacht vertrieb.

      Es dauerte nicht lange, bis die ersten Männer das Deck betraten. Eilig rückten sie ihre Kleidung zurecht und versammelten sich neugierig auf dem Hauptdeck. Jintel war unter ihnen und nickte erstaunt, als Dan ihm den Befehl des Captains weitergab. Doch sofort straffte sich seine Gestalt, und seine kräftige Stimme erscholl: »Auf eure Stationen, ihr verschlafenes Gesindel! Macht, dass ihr auf die Beine kommt!«

      Cale kam den Niedergang herauf und sah ihn ernst an. Die Fragen, die ihn beschäftigten standen ihm ins Gesicht geschrieben, aber er grüßte Jess nur knapp und stellte sich dann abwartend neben ihn. Jess nickte ihm zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Männer, die eilig den Befehlen Jintels Folge leisteten.

      »Klar bei Vor-und Achterleine!«, hörte er seinen Profos rufen und ignorierte die Antworten von Kadmi und Sam, die die Leinen lösten.

      Inzwischen waren alle Mann an Deck und hatten ihre Positionen eingenommen. In ihren Gesichtern spiegelte sich Neugier, und Kadmi tuschelte leise mit N’toka, der sich leicht zu dem wesentlich kleineren, jungen Mann hinunterbeugte, um ihn verstehen zu können. Doch niemand stellte offen die Frage, die sie alle beschäftigte. Jess räusperte sich und wartete, bis Fock- und Großsegel gesetzt waren und die Monsoon Treasure auf die Hafenausfahrt zuhielt. Dann umfasste er das glatte Holz der Balustrade und sah über Deck. Die Männer hielten in ihrer Arbeit inne, als ob sie spürten, dass Jess ihnen etwas Wichtiges mitteilen wollte.

      »Wir alle sind in diesen Hafen eingelaufen mit der Hoffnung, hier ein wenig Ruhe finden zu können, bevor wir uns in die nächste Schlacht werfen.« Jess machte eine Pause und wusste zum ersten Mal nicht, welche die richtigen Worte waren. »Wir dachten, wir haben einen Sieg errungen, und ich habe, dank eurer Hilfe, die Monsoon Treasure zurückerobern können. Doch in Wirklichkeit scheint Bairani immer stärker zu werden! Gestern erhielt der Gouverneur die Kunde, dass die Waidami eine kleine Küstenstadt überfallen haben und dort ausnahmslos jeden töteten. Beinahe gleichzeitig wurde von ihnen ein Kloster angegriffen. Dieser Überfall konnte jedoch glücklicherweise zurückgeschlagen werden. – Ihr seht also, dass wir nicht wirklich einen Sieg errungen haben. Offensichtlich haben wir sie mit der Schlacht um die Silberflotte noch nicht einmal empfindlich getroffen. Sie müssen inzwischen so viele Schiffe gebaut haben, dass sie mit ihnen die Gewässer förmlich überschwemmen.« Jess machte eine Pause, in der ein entsetztes Raunen durch die Mannschaft ging. »Es ist keine Frage, ob sie uns finden werden und uns vernichten, es ist sicher, dass sie es tun werden. Im Augenblick haben wir aber noch Handlungsspielraum und die Möglichkeit selbst die Entscheidung zu treffen, wann dies sein wird und wie viel Zerstörung sie in dieser Zeit noch anzurichten vermögen.« Jess richtete sich nun kerzengerade auf, mit dem Bewusstsein, dass die Männer wie gebannt an seinen Lippen hingen. »Mein Ziel ist es weiterhin, den Obersten Seher zu vernichten. Aber es gibt nur einen Weg, nahe genug an ihn heranzukommen. Nur wenn er davon überzeugt ist, dass ich auf seiner Seite stehe, dass ich sein Verbündeter bin, wird er seine Aufmerksamkeit irgendwann vernachlässigen, und das wird der Augenblick sein, in dem ich ihn töte. – Ich werde mich also den Waidami wieder anschließen.«

      Cale sog scharf die Luft ein und starrte Jess verständnislos an, der ihn ignorierte und sich wieder an die Mannschaft wandte: »Ich werde dies alleine tun. Allerdings kann ich die Monsoon Treasure nicht alleine segeln. Das Einzige, was ich von euch erwarte, ist, dass ihr mich nach Bocca del Torres segelt. Ihr werdet mit einem anderen Schiff die Insel verlassen, sobald die Treasure vor Anker liegt. Die Waidami werden mich dort wenige Tage später finden und mitnehmen.«

      Minutenlang geschah nichts. Keiner der Männer sagte ein Wort. Mit bleichen Gesichtern sahen sie zu ihm auf, unfähig ihren Unglauben in Worte zu fassen.

      »Das ist Wahnsinn! Das kann nicht dein Ernst sein, Jess«, keuchte Cale. »Wie kommst du auf so einen irrsinnigen Plan? Was denkst du, werden die Waidami mit dir anstellen, wenn sie dich ein weiteres Mal in ihre Finger bekommen? Warum sollten sie es zulassen, dass du dich ihnen anschließt?« Cale war wütend und ballte hilflos die Fäuste.

      Jess hob eine Augenbraue und begegnete kühl dem Blick seines Freundes. Innerlich seufzte er. Er hatte befürchtet, dass Cale sich nicht so einfach auf dieses Vorhaben einlassen würde.

      »Meine Entscheidung steht fest. Du kannst mich nicht aufhalten.«

      »Aber ich kann es versuchen, Jess!« Cale ging mit zornesrotem Gesicht auf die Balustrade zu und stellte sich so, dass jeder an Bord gute Sicht auf ihn hatte. »Ist es wirklich das, was ihr wollt? Wollt ihr dem irrationalen Befehl folgen und euren Captain den Waidami als Geschenk überreichen? Diese Idee beruht doch nur wieder auf eine dieser wahnwitzigen Visionen und entbehrt doch jeder Grundlage. Warum sollte Bairani Jess jemals wieder als Verbündeten akzeptieren? Sie werden ihm nur erneut die Treasure aus der Brust schneiden und all das, wofür wir bisher gekämpft haben, war umsonst. Denkt nach Männer! Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie Jess sich selbst ausliefert, und fordere euch daher auf, ihm nur dieses eine Mal den Gehorsam zu verweigern!«

      Jess hörte seinem Ersten Maat mit eisiger Ruhe zu, dessen Stimme immer beschwörender geworden war. Dann sah er zu Jintel, Dan, McPherson und den anderen hinüber. Unsicher wanderten ihre Blicke zwischen Cale und ihm hin und her. Ihre Strömungen waren zwiespältig und fegten wie ein Wirbelsturm umher, der nicht wusste, welche Richtung er einschlagen sollte.

      Cales Strömung war gleichfalls ein Sturm, getragen von der Verzweiflung und dem Wissen, das Kommende nicht aufhalten zu können. Jess holte tief Luft und bereute bereits jetzt, was gleich folgen würde.

      »Jeder von euch hat bereits mehrfach getötet, um sein eigenes Leben oder das eines Freundes zu retten und jeder von euch wäre dazu bereit, für einen Freund zu sterben. Ihr könnt mir nicht verwehren, dass ich dieses Risiko eingehen will. Wir werden ständig über die Schulter sehen müssen, ob nicht irgendwo am Horizont ein Segel der Waidami auftaucht. Das ist wohl kaum das, was wir für den Rest unseres Lebens wollen. – Alles, was ich von euch verlange, ist diesem letzten Befehl zu folgen. Danach sucht euch ein neues Schiff und einen neuen Captain.« Jess verstummte und wartete ab. Die Männer nickten langsam, und der Wirbelsturm ihrer Gefühle schlug eine eindeutige Richtung ein. Sie waren nicht ruhiger in Anbetracht der Ankündigung geworden, doch sie verstanden ihn und standen hinter ihm – wieder einmal.

      »Ich kann dir dabei nicht zusehen, Jess. Verzeih.« Cales Stimme war nun leise. Auch ihm war die Reaktion der Crew nicht entgangen, und er wusste, dass er auf verlorenem Posten stand. Langsam glitt seine Hand zu der Steinschlosspistole, die in seinem breiten Gürtel steckte.

      Jess schluckte, als ihn Cales Entschlossenheit traf.

      »Ich weiß! Auch mir tut es leid«, entgegnete er ebenso leise und tiefe Trauer erfüllte ihn. »Und ich kann nicht zulassen, dass du mich aufhältst, mein Freund.«

      Als Cale die Pistole herausriss, griff Jess zu. Mit der einen Hand packte er ihn am Handgelenk und versetzte ihm mit der anderen einen schweren Schlag unter das Kinn. Die Pistole fiel klappernd auf die Planken, und Cale wurde ein Stück zurückgeworfen. Mit einem ächzenden Laut krachte er gegen die Reling und rutschte benommen an ihr herunter.

      Jess war mit einem Satz bei ihm und zerrte ihn wieder auf die Beine.

      »Du lässt mir keine andere Wahl, Cale«, sagte er ruhig und gab seinem Ersten Maat einen kräftigen Stoß. Mit ungläubig aufgerissenen Augen fiel dieser rücklings über die Reling.

      Erstarrtes Schweigen