Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


Скачать книгу

Ihr seid zu liebenswürdig, aber das wird nicht nötig sein.«

      »Dann bleibt mir nicht mehr, als Euch zunächst einen ruhigen Schlaf zu wünschen.«

      Lanea lächelte ihn dankbar an. Als würde Rodriguez sein ganzes Leben hinter der Tür verbringen und daran lauschen, öffnete sich diese jetzt. Mit einer kurzen Geste deutete er in den Flur und sagte: »Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.«

      Lanea drehte sich noch einmal kurz zu dem jungen Gouverneur um. Sein Blick war freundlich, aber die Sorge in seinen Augen konnte er nicht verbergen. Irgendwie hatte sie das starke Gefühl, dass die Informationen ihres Vaters nicht verhindern konnten, was vor ihnen lag. Gleichgültig was Tirado auch alles unternehmen würde, um dem zuvor zu kommen. Ein Grund mehr, Cartagena zu verlassen, auch wenn sie Tirado alles Gute wünschte.

      »Viel Glück!«, sagte sie leise und folgte Rodriguez hinaus. »Ihr werdet es brauchen.«

      Ausgeliefert

      Der Anker der Monsoon Treasure fiel klatschend in das türkisblaue Wasser und zerriss für einen flüchtigen Moment die spiegelglatte Oberfläche.

      Bocca del Torres!

      Jess machte einen tiefen Atemzug und blickte über den Strand der kleinen Bucht, die ihnen seit vielen Jahren als Zuflucht diente. Die Hütten säumten den Übergang zum Inneren der Insel und schienen auf ihre Bewohner zu warten.

      Doch die Ruhe war trügerisch. Jess waren nicht die kleinen Boote entgangen, die an dem einfachen Steg lagen. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Ein weiteres Zeichen, dass Tamaka Recht behalten sollte. Die ersten Waidami waren hierher geflüchtet.

      »Endlich wieder zu Hause!« Jintel trat mit einem breiten Grinsen neben seinen Captain. »Die Männer freuen sich auf ein paar Tage der Ruhe.«

      »Wir haben Besuch«, entgegnete Jess knapp und verließ das Achterdeck, während Jintel ihm folgte.

      »Ja, aber ist es nicht genau das, was du uns erzählt hast? Du hast doch nicht etwas anderes erwartet, oder? Captain?«

      »Vielleicht hatte ich einfach gehofft, dass der Seher sich wenigstens in einer Sache irrt.«

      Zwischen den Palmen und den dichten Büschen hinter den Hütten waren Bewegungen zu erkennen. Ihre Besucher verbargen sich also im Schutz des Dickichts. Jess öffnete sich für die Strömungen und traf auf die unterschiedlichsten Gefühle und Erwartungen. Zwischen Angst vor ihnen und der Hoffnung, dass sie hier ein sicheres Zuhause gefunden haben mochten, konnte er alles spüren.

      Mit einem Seufzen wandte er sich an Jintel, der ebenfalls die Bewegungen entdeckt hatte.

      »Nimm dir ein paar Männer und sorge für ordentliche Unterkünfte, Jintel. Aber die Leute erhalten ihren eigenen Bereich. Dieser Strand ist leider nicht sicher genug. Hast du einen Vorschlag?«

      »Weiter südlich im Landesinneren befindet sich eine kleine Lichtung mit einem Frischwasservorkommen. Ich denke, das sollte für den Anfang ein guter Platz sein. Sie sind nicht sofort von See aus zu entdecken.«

      Jess nickte nachdenklich. »Gut. Kümmere dich um alles Erforderliche. Und vor allem schärfe ihnen ein, dass sie an diesem Strand in nächster Zeit nichts zu suchen haben. Du bist mir für diese Menschen verantwortlich.«

      »Aye, Captain.« Jintel räusperte sich und warf ihm einen langen Blick zu. Auch in ihm hatte sich die Unsicherheit vor dem Ungewissen eingenistet. Seine Strömung hatte den ruhigen und unerschütterlichen Fluss verloren. Es war bei Jintel nicht anders als bei den anderen Männern der Crew. Eine Frage lastete auf ihm, die er nicht länger zurückhalten konnte:

      »Was erwartet uns, Jess? Hat Tamaka dazu etwas gesagt?«

      »Die Waidami werden hierher kommen und mich holen, Jintel«, entgegnete er ruhig. »Das war alles, was in dem Schreiben stand. Aber ich fürchte, dass es nicht dabei bleiben wird. Du solltest dich mit den Männern ebenfalls ins Innere der Insel zurückziehen. Es ist besser, wenn ihr nicht mehr hier seid, wenn sie kommen.«

      »Du erwartest allen Ernstes, dass wir dich hier alleine zurücklassen?«

      »Ich erwarte, dass ihr meine Befehle befolgt.«

      Jintel presste aufgebracht die Lippen zusammen. Sein Unterkiefer mahlte, als kaute er auf einem besonders zähen Stück Fleisch herum. Jess brauchte seine Strömungen nicht zu lesen, um zu wissen, was in ihm vorging: Es widerstrebte ihm, sich einfach zurückzuziehen.

      »Die Waidami werden wissen, dass du die Treasure nicht alleine hierher gesegelt hast. Und ihnen sollte wohl kaum verborgen bleiben, dass einige aus ihrem Volk hier untergeschlüpft sind. Torek wird dies alles berücksichtigen, wenn ich diese kleine Schmeißfliege richtig einschätze.«

      »Du redest beinahe wie Cale.«

      »Wirfst du mich jetzt auch über Bord?«

      Auch wenn Jintel ihn schwach angrinste, spürte Jess den Ernst hinter dieser Frage.

      »Es würde wohl kaum etwas nützen.« Er schüttelte den Kopf und legte dem bulligen Mann kurz die Hand auf die Schulter. »Ich möchte euch aus der Sache raushalten. Torek ist ein unberechenbarer Wahnsinniger. Möglicherweise wird er euch töten lassen, nur um mich zu treffen. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen.«

      »Was stellst du dir also vor? Was sollen wir tun?«

      »Am liebsten wäre mir, wenn ihr die Insel verlasst. Aber dann sind die flüchtigen Waidami hier alleine, und sie sind sicherlich nicht weniger gefährdet.« Jess warf einen langen Blick auf die Hütten. »Wenn ich Torek wäre, würde ich zuerst auf die Hütten feuern lassen. Sie sind ein hervorragendes Ziel, und das Zeichen, das er damit setzt, ist von See aus direkt für alle zu sehen, die diese Bucht ansteuern.« Tatsächlich war es wahrscheinlich gleich, wohin er seine Männer schicken würde. Torek wusste es längst. Wenn er ihnen wirklich etwas antun wollte, würde es für ihn ein Leichtes sein, sie aufzuspüren.

      »Ihr zieht euch alle mit den Flüchtlingen zurück. Und kommt erst wieder herausgekrochen, wenn sie mit mir die Insel verlassen haben.«

      Jintels Blick flackerte, dann senkte er die Augen. Seine Hände ballten sich langsam zu Fäusten, die schon so manchen Schlag ausgeführt hatten, doch jetzt nur hilflos an seinen Seiten herabhingen. »Ich werde mich in meine Kajüte zurückziehen. Du sorgst dafür, dass die Männer verschwinden.«

      »Du willst es ihnen nicht selbst sagen?« Diesmal lag ein klarer Vorwurf in seiner Stimme, die Jess noch mehr an Cale erinnerte. Als hätten die beiden Männer eine geheime Absprache getroffen.

      »Es gibt nichts mehr zu sagen.« Jess nickte ihm zu und drehte sich um. Während er auf das Schott zuging, sperrte er die Strömungen seiner Umgebung aus. Er wollte alleine sein und sich nicht von ihnen beeinträchtigen lassen. Sie auf diese Weise zu verlassen, fiel ihm schwerer, als er zugeben wollte.

      Als er kurz darauf die Tür seiner Kajüte hinter sich schloss, stand er zunächst da und lauschte auf die Geräusche, die von Deck herunterdrangen. Jintel brüllte mit rauer Stimme seine Befehle, auf die seine Männer unverzüglich reagierten, als wären sie alle über eine unsichtbare Schnur miteinander verbunden. Eingespielt, wie sie waren, dauerte es nicht lange, bis sich Totenstille über die Treasure ausbreitete. Jetzt war er wirklich allein. Jess stand immer noch an der Tür und starrte in das Innere des Raums. McDermott hatte die Treasure nicht lange genug in seinem Besitz gehabt, um große Veränderungen vornehmen zu können. Die wenigen Sachen, die Jess von ihm gefunden hatte, hatte er noch am Abend der Schlacht über Bord werfen lassen. Dennoch war es seltsam zu wissen, dass McDermott hier seinen Platz eingenommen hatte. Der Raum war derselbe, doch trug er nicht mehr nur noch die Erinnerungen von ihm selbst in sich.

      Ein Schmerz fraß sich durch die Tätowierung, als wollte auch diese ihn daran erinnern, dass die Verbindung zu seinem Schiff die Ursprünglichkeit verloren hatte. Jess fühlte mit der Hand über die Linien, die die Monsoon Treasure so lebendig auf seinem Körper verewigten. Die Tätowierung fühlte sich unter seiner Hand nicht anders an, als die erste. Dennoch wurde das Gefühl in ihm täglich stärker, dass trotzdem eine Veränderung geschehen war, ohne dass er zu sagen vermochte, was