Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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irgendetwas überzeugen, dann drehte er sich wieder zu Jess um und winkte dem Piraten, der ihn aus der Bilge geholt hatte, ihn näher zu führen.

      »Dein neues Zuhause«, sagte er knapp und deutete auf die Insel in seinem Rücken. »Aber du kennst dich ja aus, schließlich bist du hier aufgewachsen, nicht wahr? Dein Ziehvater wartet auch bereits auf unseren Besuch.«

      Jess bemerkte verwundert, dass Torek nicht ganz bei der Sache zu sein schien. Die Augen des Sehers huschten immer wieder an den Strand, und Jess fragte sich, was die Aufmerksamkeit Toreks so sehr zu fesseln vermochte. Leise klirrten seine Ketten, als er an die Reling trat und zum Strand blickte. Erstaunt sah er, dass Waidami sich verändert hatte. Sie lagen in der Hauptbucht der Insel vor Anker, in der die Piratenschiffe anlegten, wenn sie Bairani aufsuchten. Normalerweise war es den Piraten nicht gestattet, das Dorf zu betreten. Nur die Kapitäne durften auf einem Weg, der um das Dorf herumführte, zu den Höhlen des Obersten Sehers gehen. Doch heute wimmelte es von Piraten im Dorf. Dagegen waren nur wenige Waidami zu sehen, als ob sie sich in ihren Hütten versteckten.

      Jess verengte seine Augen und versteifte sich unmerklich, als er plötzlich am Ende eines Bootsteges eine Gruppe Männer entdeckte, die mit Ketten aneinandergefesselt in einer Reihe hintereinander über den Strand marschierten. Angeführt wurde die kleine Gruppe von dem rothaarigen Dan, gefolgt von Sam, Kadmi und den anderen. Am Ende humpelte McPherson, der als Einziger nur Handfesseln trug. Jintels breites Gesicht hob sich und begegnete seinem Blick. Wieder konnte er das Vertrauen seines Profos darin erkennen und wieder entfachten sich Schuldgefühle in ihm. Wohin brachten sie die Männer? Torek hatte gesagt, dass sie lediglich auf die anderen Schiffe verteilt werden würden. Ein Seitenblick auf den Seher zeigte ihm, dass dieser seine Aufmerksamkeit bereits wieder auf etwas anderes gerichtet hatte. Jess folgte seinem Blick und traf auf eine junge Frau, die mit dem Rücken zu ihnen stand und sich gerade mit einer alten Frau unterhielt, die im Schatten einer Hütte saß. Plötzlich richtete sie sich auf und wandte ihr stolz geschnittenes Gesicht der Thethepel zu. Ihre Miene versteinerte, als sie Torek entdeckte, und Jess bemerkte, wie der Junge neben ihm fast gleichzeitig erstarrte. Jess pfiff leise durch die Zähne. Shamila! Dort unten stand die Tochter Bairanis, die für ihn wie eine kleine Schwester gewesen war, und strafte Torek mit einem Blick, für den es keine Beschreibung gab. Dann sah sie Jess an und von einem Augenblick auf den anderen wurden ihre Gesichtszüge weich. Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln und hob zum Zeichen, dass sie ihn erkannt hatte, eine Hand. Jess reagierte nicht. Er hätte ihr gerne gezeigt, dass er sie ebenfalls erkannt hatte, doch er spürte auch den Blick Toreks auf sich. Beiläufig sah er den Seher an. Wie er erwartet hatte, war dessen Gesicht eine Maske des Hasses. Es gab keinen Zweifel für ihn, dass dort unten die verwundbare Stelle Toreks stand.

      *

      Bairani saß in seiner Höhle und starrte blicklos auf das alte Pergament. Wie lange hatte er darauf gewartet, dass ihm die Vision den einen Piraten zeigte. Wie lange hatte er darauf gehofft, die uneingeschränkte Macht über die Karibik gewinnen zu können?

      Tief atmete er ein, schloss kurz die Augen, um sich zu besinnen. Es war eine Ewigkeit her, dass er auf einen Weg gezwungen worden war, deren Windungen nicht immer leicht zu nehmen gewesen waren. Doch jetzt endlich saß er hier und wusste, dass Morgan wieder in seiner Gewalt war. Jess Morgan, der ihm den Sieg bringen würde ... oder den Untergang.

      Bairani öffnete die Augen, strich beinahe liebevoll über das Pergament, bevor er es sorgfältig und behutsam zusammenrollte. Morgan würde sich ihm nicht entziehen können. Er würde gezwungen sein, sich ihm mit all seiner Kraft und Hingabe zu unterwerfen. Seine Schlagkraft und all sein Geschick gehörten jetzt wieder den Waidami. Die Spanier schrumpften darunter zusammen wie ein einzelner Tropfen Wasser, der unter der gleißenden Hitze der Sonne verging. Ein Lächeln stahl sich auf seine dünnen Lippen, während er sich erhob und zu der Truhe ging, die in einer hinter einem Vorhang verborgenen Nische stand. Das alte Holz antwortete mit einem Stöhnen, als er den Truhendeckel öffnete und den wertvollen Inhalt betrachtete. Bairani legte die Rolle zwischen die anderen und wollte gerade eine andere entnehmen, als ein Wächter eintrat.

      »Oberster Seher«, sagte er und stand gerade und abwartend im Eingang, bis Bairani hervortrat. »Seher Torek wünscht Euch zu sprechen.«

      »Lass ihn eintreten.« Bairani nickte dem Wächter zu und setzte sich wieder an den großen Tisch. Sein altes Herz, das schon so lange im stetigen Rhythmus schlug, beschleunigte sich und ließ eine ungewohnte Erregung durch seine Glieder fließen. Morgan war zum Greifen nah. Er bemühte sich, Torek unbeeindruckt zu betrachten, als dieser mit ehrfurchtsvoll geneigtem Kopf die Höhle betrat.

      »Oberster Seher«, sagte Torek ehrerbietig und verneigte sich in seine Richtung.

      »Torek!« Bairani schenkte dem jungen Seher ein spärliches Lächeln und deutete auf einen Stuhl an seinem Tisch. »Nimm Platz, mein Sohn, und berichte von deinem Erfolg.«

      Toreks Miene veränderte sich. Unter die Ehrfurcht schob sich Stolz, und sein Blick begegnete ohne Umschweife den Augen Bairanis. Die Spur an Arroganz darin entging dem älteren Mann dabei nicht.

      »Morgan und die Monsoon Treasure sind unser, Oberster Seher. Wie vorhergesehen haben wir ihn und seine Mannschaft auf Bocca del Torres ohne Probleme gefangen gesetzt.« Er setzte sich langsam und aufrecht zu Bairani, strich sorgfältig sein Gewand glatt und versuchte der nächsten Frage einen beiläufigen Tonfall zu geben: »Wann wollt Ihr mit der Zeremonie beginnen?«

      Bairani war sich bewusst, dass der Junge ihn im Verdacht hatte, nicht mit offenen Karten zu spielen, weil er in den letzten Wochen auf Distanz gegangen war. Torek hatte sich schnell zu einem Seher entwickelt, dessen Fähigkeiten weit über alles hinausgingen, was auf Waidami jemals vorhanden gewesen war. In der Zeit, in der sie gemeinsam darauf gewartet hatten, dass Morgan wieder die Verbindung mit der Monsoon Treasure einging, war aus dem schüchternen Jungen ein selbstsicherer Seher geworden, der nur zu genau von seiner Einzigartigkeit wusste. In seinen Augen blitzte nicht nur die Arroganz der Jugend, sondern auch das Wissen, dass niemand an ihn heranreichen konnte. Bairani zweifelte inzwischen daran, dass es eine gute Idee gewesen war, den Jungen so schnell zu seiner rechten Hand zu machen. Vielleicht hatte er sich nur einen Konkurrenten an die Seite geholt und nicht die erhoffte Verstärkung. Doch seine eigenen Visionen waren zu schwach geworden, als dass sie noch großen Nutzen brachten. Und die anderen Seher zeigten immer öfters ihr Missfallen an seiner Vorgehensweise. Deshalb war er auf die Visionen und die Unterstützung Toreks angewiesen, wenn er die Waidami zu Größe führen wollte.

      Nachdenklich betrachtete Bairani den schlaksigen jungen Mann, der immer noch auf eine Antwort von ihm wartete. Seine Hand glitt zu dem Amulett, das warm unter seinen Fingern pulsierte, sich in seine Handfläche schmiegte, als wäre Leben in ihm.

      »Wir sollten keine unnötige Zeit verlieren«, entschied er und stand auf. »Lass mich jetzt unseren neuen Verbündeten begrüßen.«

      *

      Eine knappe Stunde später stand Jess in einer der Höhlen im Vulkan, die er bereits von den zahlreichen Besuchen bei Bairani kannte. Zwei Wächter standen schweigend mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihm und ließen ihn nicht aus den Augen. An der Zeichnung des Auges auf ihrer Stirn erkannte er, dass es sich um Männer handelte, die dem Obersten Seher bis in den Tod treu ergeben waren. Es waren fanatische Anhänger, die unter den Einwohnern Waidamis wegen ihrer Bedingungslosigkeit nicht besonders beliebt waren. Jess ließ seinen Blick durch die Höhle wandern, die schmucklos und kalt wirkte. Vor ihm befand sich ein kunstvoll verzierter Thron. Seine Armlehnen waren mit Gold belegt und seine hohe Rückenlehne endete in einer stilisierten Krone, geschmückt mit Diamanten und Saphiren. Der Thron hatte sich auf einem stark bewachten Schatzschiff befunden, das damals von Stout aufgebracht worden war. Er war ein Geschenk dieses Kriechers gewesen. Bairani hatte in seinem Größenwahn nicht widerstehen können und sich den Thron in diese Höhle stellen lassen. Jess zog verächtlich eine Augenbraue hoch und sah zum Eingang hinüber. Leise Schritte näherten sich, deren Klang durch den Gang hallte und einen Besucher ankündigten, lange bevor er selbst hereintreten würde. In Jess stieg die Anspannung, und er änderte ein wenig seine Position, um die schmerzenden Muskeln zu entlasten. Einer seiner Wächter versetzte ihm einen groben Stoß und zwang ihn so in die ursprüngliche Stellung zurück. Jess presste die Lippen aufeinander und atmete bewusst