Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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sollte er hingehen? Jess blinzelte und wischte sich über die schmerzenden Augen, die das grelle Sonnenlicht nach den dunklen Tagen in den Höhlen kaum ertragen konnten. Er fühlte sich ausgebrannt und schmutzig, und das lag nicht allein daran, dass er seit Tagen kein Wasser mehr gesehen hatte.

      Zur Treasure zurück und endlich schlafen? Ein sehnsüchtiges Ziehen antwortete ihm, als ob die Treasure selbst darauf brannte, endlich wieder seine Füße auf ihren Planken zu spüren. Zögernd setzte er sich in Bewegung. Im Moment gab es kein anderes Ziel.

      Noch während er schwerfällig dem Weg durch den Dschungel folgte, überkamen ihn Zweifel. Was wollte er auf seinem Schiff? Er würde sich früh genug der neuen Mannschaft stellen. Jess blieb stehen und sah sich kurz um. Dann schlug er sich kurzerhand in den Dschungel und folgte einfach seinem Instinkt. Beinahe war es, als wäre er diesen Weg erst gestern gegangen. Wie von selbst lenkten seine Schritte ihn in eine Richtung, gingen den Berg hinab, bis er das leise Wispern von sanften Wellen hören konnte. Als er am Ende des Dickichts die letzten Pflanzen zerteilte und auf den Strand hinaustrat, war es, als wäre er wirklich erst gestern hier gewesen. Der Strand lag genauso da wie damals, als er das letzte Mal hier Tamaka getroffen hatte. Die Felsen, auf die er sich immer zurückgezogen hatte, bis der Seher gekommen war, standen unberührt von all den vergangenen Ereignissen da und würden hier auch immer noch so gleichgültig stehen, wenn es Jess Morgan schon lange nicht mehr gab. Selbst die Palmen standen noch dort, vielleicht durch die Last der Jahre ein wenig mehr dem Meer zugeneigt.

      Jess atmete tief durch. Die Erinnerungen überwältigten ihn mit aller Macht und drängten sich ihm auf. Vielleicht lag es einfach daran, dass er sich heute genauso verloren und einsam fühlte wie in jenen Tagen. Wie dankbar war er Tamaka gewesen, der seine Wunden versorgt und dabei die Geschichten der Waidami erzählt hatte.

      »Aber wieso hat die Göttin das alles zugelassen? Sie hatte Pa’uman doch zurück? Warum hat sie nicht dafür gesorgt, dass die Menschen keinen weiteren Kummer erleiden?«, hatte er gefragt, als er die Legende der Göttin Thethepel hörte. Der Seher hatte geheimnisvoll gelächelt, als er antwortete: »Weil sie blind vor Liebe war. Und diese Blindheit ist ihr letztendlich zum Verhängnis geworden. Thethepel und Pa’uman wurden für ihre Selbstsucht bestraft.« Auf seine weitere Frage, um welche Strafe es sich gehandelt habe, hatte er keine Antwort mehr erhalten. »Das wirst du früh genug erfahren«, war alles gewesen.

      Jess war es beinahe so, als könnte er Tamakas Gegenwart spüren. Doch niemand außer ihm befand sich an diesem Strand. Wie damals ging er entschlossen zum Wasser. Er entledigte sich kurzerhand seines verschwitzten Hemdes. Achtlos ließ er es in den feinen Sand fallen und lief in die leichte Brandung. Jess holte tief Luft und tauchte. Knapp über dem weichen Sandboden glitt er hinaus, holte nur kurz an der Oberfläche Luft und tauchte erneut. Anschließend ließ er sich eine Weile treiben und starrte in den leicht bewölkten Himmel. Das Blau verlor langsam aber deutlich an Farbe. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und er zögerte die Begegnung mit der Monsoon Treasure und seiner neuen Mannschaft hinaus.

      »Du versteckst dich«, mahnte ihn seine innere Stimme. Mit einem langen sehnsüchtigen Blick über das Meer schwamm er zurück an Land. Als er ans Ufer watete, spürte er es sofort. Er war nicht mehr allein. Eine leichte Strömung verbarg sich hinter dem großen Felsen, angespannt und ängstlich. Aufseufzend beschloss er, die Strömung zu ignorieren, da derjenige in seinem Versteck offenbar keine Gefahr darstellte. Mit einem letzten Blick auf das immer dunkler werdende Meer hob er sein Hemd vom Sand auf.

      »Jess?«

      Die Stimme hinterließ eine eiskalte Spur in ihm, obwohl sie oder vielleicht, weil sie so samtweich war. Überrascht sah er auf. Aus dem Schatten des Felsens löste sich eine Frau. Lange schwarze Haare fielen in üppigen Locken über die Schultern und umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht mit großen tiefbraunen Augen, die ihn erwartungsvoll ansahen.

      »Jess?«, wiederholte sie vorsichtig und trat langsam auf ihn zu.

      Jess ließ seinen Blick über sie gleiten. Sie trug eines der inseltypischen langen Tücher, das hinter dem Hals zusammengebunden war und ihre gertenschlanke Figur umschmeichelte. Das leuchtende Rot mit den großen weißen Blüten darauf betonte ihre exotische Schönheit.

      »Shamila«, entgegnete er endlich und lächelte sie an. Ihre Züge entspannten sich zusehends, und sie lächelte glücklich zurück.

      »Es ist also wahr? Du kannst dich tatsächlich daran erinnern, was vor der Verbindung war?« Sie zögerte kurz und trat dann noch einen Schritt näher. »Du kannst dich auch an …«

      »… dich erinnern. Ja!«, beendete er den Satz. Sie hatte eine atemberaubende Ausstrahlung, die für einen Moment die Last von seinen Schultern hob. Eine Leichtigkeit erfüllte ihn, die so gar nicht zu dem gerade Erlebten passen wollte. Trotzdem gab er sich dem hin, griff danach, als wäre es ein Stück Treibholz in stürmischer See. Er lächelte sie an und sagte:

      »Sagen wir, ich kann mich an das kleine Mädchen erinnern, das seine dicken Arme immer so fest um meinen Hals geschlungen hat, als wollte es mich erwürgen.«

      Shamilas Augen leuchteten in der Erinnerung daran auf. Ihre vollen Lippen öffneten sich zu einem leisen Lachen. Jeden Morgen hatte sie ihn so begrüßt. Ihre Arme hatten ihn umklammert, und dann hatte sie sich mit dem ganzen Gewicht eines unbeholfenen pummeligen Kindes an ihn gehängt, bis er sie lachend hochgehoben und auf seine Schultern gesetzt hatte.

      »Allerdings hast du keine Ähnlichkeit mehr mit der lästigen kleinen Wanze von einst«, setzte er noch hinzu. Sie löste in ihm etwas aus, das er nicht erklären konnte. Ein warmes Gefühl sickerte in sein Innerstes. Dennoch schluckte er die Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Sie war wunderschön geworden.

      Eine leichte Röte huschte über ihre Wangen, doch sie sah nicht beschämt weg, wie er es erwartet hatte. Plötzlich wurde er sich ihrer Strömungen bewusst. Eine Welle der Zuneigung ging von ihr aus, stark und impulsiv, begleitet von einem heftig trommelnden Herzschlag. Die Erkenntnis traf ihn, machte ihn für einen Atemzug lang sprachlos.

      Shamila war verliebt in ihn. Unvermittelt hatte er Torek vor Augen, wie er am Tag ihrer Ankunft auf ihren Anblick reagiert hatte. Vor ihm stand die Frau, die Toreks Herz gewonnen hatte. Aber offenbar empfand sie nicht das Gleiche für ihn.

      »Es ist schön, dass du wieder da bist, Jess«, sagte sie. Mitleid füllte ihre Augen, als sie weitersprach: »Auch, wenn die Umstände für dich wenig angenehm sein dürften.«

      »Manchmal hat das Schicksal andere Pläne als man selbst«, antwortete er ausweichend, während sie ihn mit ihren warmen Augen durchdringend musterte.

      Ihre Sehnsucht wuchs. Langsam schob sich ihr Körper näher, um ihn zu berühren.

      »Torek liebt dich«, warf er ein, um sie aufzuhalten. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Er selbst fühlte sich von ihr angezogen. Erleichtert spürte er, wie sie erstarrte und verwundert einen Schritt zurück machte.

      »Er ist ein grausamer Mann geworden.« Ihre Stimme klang verbittert. Nachdenklich sah sie von ihm fort aufs Meer hinaus. Auch ohne die Strömung zu lesen, spürte er, wie verletzt sie war. »Es gab eine Zeit, da habe ich auch etwas für ihn empfunden. Aber dann wurde er der Günstling meines Vaters. Er hat sich verändert. Aus dem liebenswerten Jungen ist ein sadistisches Monster geworden, das wohl kaum zu echter Liebe fähig sein kann. – Sieh nur, was er dir angetan hat.« Mit den letzten Worten überbrückte sie die Distanz zu Jess. Sie hob beide Hände und legte sie flach auf seine nackte Brust, direkt über der Tätowierung.

      Jess stockte der Atem. Die Berührung war schlicht, aber so intensiv, dass sie seine mühsame Beherrschung wie einen dünnen Vorhang zu zerreißen drohte. Verlangen erfüllte ihn, ohne dass er bestimmen konnte, ob es seine eigene Empfindung war oder die ihre. Dennoch schob er sie sanft, aber bestimmt von sich. Sie hatte Gefühle für ihn, die er in dieser Art nur für eine Frau empfand. Sein Herz gehörte Lanea, alles andere entsprang einem körperlichen Verlangen, einer Suche nach Rettung für seine Seelenpein, nicht mehr. Entsetzt hob Shamila eine Hand vor den Mund, als ihr seine Ablehnung bewusst wurde, und starrte ihn aus großen Augen an. »Es … es tut mir leid. Ich hätte nicht …«

      »Nein!« Jess nahm sanft ihre zitternde Hand in seine. »Es tut