Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


Скачать книгу

Lächeln ein.

      »Morgan«, sagte er eine Spur zu freundlich. »Du hast gerade gefrühstückt, wie ich sehe. Das trifft sich gut, denn es wartet ein Auftrag auf uns.«

      Jess zog fragend eine Augenbraue hoch. »Ein Auftrag welcher Art?«, fragte er.

      Torek nickte und schlenderte durch den großzügigen Raum, dabei betrachtete er neugierig jede Einzelheit, umrundete den Kartentisch und setzte sich dann auf einen freien Stuhl. Wie selbstverständlich nahm er Jess‘ Becher und schenkte sich aus dem danebenstehenden Krug von dem leichten Wein ein. »Zwei Schiffe wollen von Cartagena kommend nach Spanien segeln. Wir müssen sie aufhalten.« Torek nahm einen Schluck und betrachtete ihn dabei über die Ränder des Gefäßes hinweg.

      Kuriere, unterwegs mit einer Bitte um Verstärkung. Tirado hatte keine Zeit verloren, aber offensichtlich doch noch zu lange gezögert. Jess stand auf und beugte sich über die Karte, die eine Gesamtansicht der Karibik zeigte. »Wo befinden sie sich zurzeit?«

      »Sie haben erst heute Morgen den Hafen verlassen und können folglich noch nicht weit sein.«

      »Ihr wisst es also nicht genau? Sind Eure Visionen so unbestimmt?«

      Torek schnaufte verärgert. »Wir wissen, welche Route sie einschlagen.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Karte. »Dort werden sie vorbeikommen.«

      »Seid Ihr sicher?« Jess betrachtete den Punkt, der genau nördlich vor der Insel Carriacou lag. Viele kleinere Inseln, die eine Flucht ermöglichen oder, je nach Geschick des Gegners, vereiteln konnten. Doch die Route war geschickt gewählt, wenn man es nicht gerade mit einem Gegner zu tun hatte, der schon die Route kannte, bevor man diese selbst antrat. Vermutlich wollten sie Barbados anlaufen, bevor sie von dort die Atlantik-Überquerung starteten. Es würde mit einem Seher an Bord nicht schwer sein, sie dort zu stellen.

      »Gut, stechen wir in See«, sagte er, sah von der Karte auf und traf auf Toreks Blick. Für einen Moment überlegte er, ob er noch etwas hinzufügen sollte, unterließ es aber. Er wandte sich um und ging einfach hinaus. Die leicht tapsenden Schritte von Torek folgten ihm eilig, bemüht seinen Schritten hinterherzukommen.

      Gemeinsam betraten sie das Hauptdeck, auf dem schon emsige Betriebsamkeit herrschte. McFee scheuchte die Männer umher. Das Rasseln der Ankerkette überraschte ihn und auch die Männer, die bereits in die Wanten stiegen, um Segel zu setzen.

      »Ich habe McFee bereits den Befehl erteilt, auszulaufen«, keuchte Torek neben ihm außer Atem. »Wir sollten keine Zeit verlieren.«

      »Wenn Ihr das Kommando an Bord übernehmen wollt, Seher«, knurrte Jess grimmig, »dann frage ich mich, warum ich noch an Bord bin. Oder fürchtet Ihr, die Tätowierungszeremonie könnte zu schmerzhaft für Euch sein?«

      Torek öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Jess ignorierte ihn.

      »McFee!«, rief er. Die Spanier hatten ungefähr die gleiche Distanz nach Carriacou zu überbrücken wie die Monsoon Treasure. Wenn sie nicht rechtzeitig die Stelle erreichten, würden die beiden spanischen Schiffe möglicherweise den Atlantik erreichen.

      Der Erste Maat drehte sich widerstrebend um und trat dann zu ihnen.

      »Captain?«, knurrte er unfreundlich.

      »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Spanier werden nach Barbados sicher getrennte Kurse setzen, um die Möglichkeit zu erhöhen, dass wenigstens einem Schiff unbehelligt die Überfahrt gelingt. Das müssen wir verhindern. Lass sämtliches Tuch setzen. Du stehst mir persönlich dafür ein, dass wir die entsprechende Position rechtzeitig erreichen.«

      McFee blickte hastig auf den Seher, der zwischen ihnen viel zu klein und schmächtig wirkte.

      »Aye, Sir! - Klar zum Segelsetzen, ihr verlausten Deckratten. Heiß auf Großsegel!« McFee wandte sich ab und brüllte augenblicklich neue Befehle über Deck.

      Jess ging zum Achterdeck. Torek war ihm gefolgt wie ein Schatten. Das schmale Gesicht des Sehers wirkte leicht enttäuscht, dass es zu keinen Unstimmigkeiten gekommen war. Jess ignorierte ihn und beobachtete stattdessen das Auslaufmanöver. Eines musste er McFee lassen: Er verstand sein Handwerk und hatte die Leute im Griff, die sich beinahe überschlugen, seinen Befehlen nachzukommen. Schneller wären sie auch nicht mit seiner alten Crew ausgelaufen.

      Unwillkürlich blickte er über die vor Anker liegenden Schiffe. Wo mochte seine Mannschaft wohl sein? Er hatte die letzten Tage jeden Gedanken an seine Männer, nein, seine Freunde verdrängt. Seinetwegen hatten sie sich hierher begeben und waren jetzt auf eine andere Art in Ketten gelegt. Sein Gewissen wog schwer. Jess hob die Hand und legte sie an den Mast. Augenblicklich sprang die Monsoon Treasure auf ihn über und packte ihn, zog sein Bewusstsein in ihre Umarmung. Vorsichtig glitt sie in den Rumpf hinab und von dort ins Meer. Dort verharrte sie für einen Augenblick schwerelos dümpelnd in der leichten Dünung der Bucht, bevor sie pfeilschnell auf den Rumpf eines anderen Schiffes zuschoss und sich an diesen schmiegte. Als würde eine Tür geöffnet, drangen sie in das alte Holz und wanderten durch das Schiff. Jess keuchte auf, als er unvermittelt auf die Strömungen von Kadmi, N’toka und Dan stieß. Sie waren ruhig und gleichmäßig. Es gab keine Anzeichen, dass sie verletzt waren. Erleichterung erfüllte ihn, aber die Sorge um die anderen blieb. Die Treasure zog sich mit ihm zurück ins Meer und steuerte das nächste Schiff an. Auch hier drangen sie in das Schiff ein und fanden die Strömungen von dem holzbeinigen McPherson, Jintel, Sam, Ian, Riccardo und Lorenzo. Auch sie schienen unversehrt.

      Ansatzlos lief ein Zittern durch die Monsoon Treasure und riss ihn aus dem fremden Schiff. Sein Bewusstsein wurde zurückgeschleudert und förmlich auf das Deck der Monsoon Treasure katapultiert. Jess stöhnte auf und hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest, um nicht zu stürzen. Ein ziehender Schmerz fuhr durch seinen Körper und trennte die Verbindung. Nur langsam klärte sich sein Blick. Er schluckte schwer. Neben ihm stand Torek, beobachtete ihn interessiert und fragte lauernd:

      »Stimmt etwas nicht?«

      Jess bemerkte erstaunt, dass sie bereits die Bucht verließen. Ob die Entfernung zu den anderen Schiffen zu groß geworden war? Oder hatte Torek etwas damit zu tun, dass er so plötzlich aus der Treasure gerissen worden war? Wenn ja, würde er dies kaum zugeben. Jess‘ Muskeln zitterten, wie nach einer großen körperlichen Anstrengung. Der Seher durfte diese Reaktion nicht bemerken. Langsam löste er die Hände von der Reling und richtete sich wieder auf.

      »Wollt Ihr von mir eine ehrliche Antwort, Seher?«, fragte er kühl. »Ihr seid an Bord, das stimmt nicht! Sollte sich für mich nur eine einzige Gelegenheit ergeben, dass Ihr über Bord geht, dann bei der Göttin, werde ich diese nutzen.«

      »Du überschätzt dich.« Torek kniff verächtlich die Lippen aufeinander, aber sein Gesicht war eine Spur bleicher geworden. Mit der rechten Hand griff er nach dem Amulett und umklammerte es. »Und du vergisst, mit wem du redest.«

      »Wie könnte ich das?«

      Für einen Moment überlegte Jess, das Achterdeck zu verlassen und McFee das Kommando zu überlassen. Torek würde schon dafür sorgen, dass sie den richtigen Kurs einschlugen und die beiden Schiffe nicht verpassten. Aber diese Blöße wollte und durfte er sich nicht geben.

      Also blieb er und begann, sich danach zu sehnen, endlich auf die gesuchten Spanier zu treffen, um sie mit all der Wut, die er für Torek empfand, auf den Grund des Meeres zu schicken.

      *

      Am späten Nachmittag des dritten Tages segelten sie von Norden kommend auf die Insel Petit St. Vincent zu. Aufgrund des günstigen Windes hatte Jess unterwegs beschlossen, den beiden Schiffen aus dieser Richtung entgegen zu segeln. Beide Ausgucke waren besetzt. Die Männer riefen in regelmäßigen Abständen ihre Berichte herab. Jess stand im Bug und starrte nach vorn. Inzwischen war Carriacou auf Sichtweite heran, aber noch waren keine Mastspitzen auszumachen.

      »Sie müssen jeden Moment auftauchen.«

      Langsam wandte sich Jess zu Torek um, der ihm den ganzen Tag wie ein Schatten gefolgt war. Er wirkte bleich. Mit großen Augen starrte er an Jess vorbei, als könnte er so die Schiffe schneller herbeilocken. Dabei spielte seine Hand unermüdlich mit dem Amulett.

      »Ihr habt Angst!«, stellte Jess