Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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Torek wartete sicherlich schon ungeduldig im Hafen, um ihm seiner neuen Mannschaft zu präsentieren.

      »Ich muss gehen«, flüsterte er und gab ihre Hand frei.

      Er wandte sich um und ohne einen Blick zurück schlug er den Weg nach Süden ein. Mit weitausholenden Schritten steuerte er auf das Dorf und den Hafen zu. Überrascht bemerkte er, wie schnell er die ersten Masten sehen konnte. Der Strand lag näher am Dorf, als ihm bewusst gewesen war. Ein Wunder, dass damals niemand ihre heimlichen Treffen bemerkt hatte, oder täuschte er sich da? Die Fähigkeiten der Seher waren verwirrend und immer häufiger stellte er sich die Frage, was alles vielleicht von ihnen manipuliert wurde. Vielleicht waren auch die damaligen Treffen nicht unbemerkt geblieben, sondern ganz bewusst geduldet worden.

      Ärgerlich wischte Jess die Erinnerungen zur Seite. Es brachte ihn nicht weiter, sich über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen. Was vor ihm lag, gab eindeutig mehr Grund zur Sorge.

      Zielstrebig trat er zwischen die ersten Hütten. Nur wenige Dorfbewohner ließen sich sehen. Ein Kopf zog sich erschrocken zurück und schloss die Tür hinter sich, als er vorbeiging. Ein alter Mann saß mit einem kleinen Kind auf einer Bank im Schatten und zog es beschützend in seine Arme. Jess beachtete ihn nicht weiter, aber er erinnerte sich sehr gut daran, dass früher keiner der Piraten durch das Dorf hatte gehen dürfen. Jetzt wichen sie ihm erschrocken aus. Offensichtlich hatte sich hier Einiges geändert. Das erklärte auch, warum immer mehr Boote und kleine Segelschiffe mit Waidami auf Bocca del Torres Zuflucht gesucht hatten.

      In der Bucht lag eine überwältigende Anzahl von Segelschiffen vor Anker. Jess blickte über die Schiffe und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Was hatte im Brief Tamakas gestanden? Die Übermacht der Waidami würde schon bald sehr groß sein? Daran hatte er jetzt keinen Zweifel mehr. In der Bucht lagen elf Segelschiffe, die hier noch nicht gewesen waren, als sie mit der Monsoon Treasure angekommen waren. Weiter draußen konnte er auch vereinzelte Masten ausmachen. Dann gab es noch die Werft und wer weiß wie viele Schiffe, die sich zurzeit auf Fahrt befanden. Jedes einzelne dieser Schiffe war mit Kanonendecks ausgestattet, die jeden spanischen Kapitän das Fürchten lehren konnten. Die Cacafuego war ein Fischerboot dagegen. Hoffentlich nahm Tirado das Schreiben Tamakas ernst und zögerte nicht, Hilfe aus Spanien zu erbitten. Sie würden diese dringend nötig haben.

      »Beeindruckend, nicht wahr?«

      Jess fuhr herum. An einer Fischerhütte lehnte Torek mit süffisantem Lächeln. »Und natürlich ist es nur ein kleiner Teil von unserer Flotte, die du hier siehst. Wir waren fleißig. Dein spanischer Gouverneur wird dem nichts mehr entgegenzusetzen haben. Vor allem jetzt nicht mehr, nachdem du wieder bei uns bist.«

      »Wie konntet ihr so viele Schiffe in so kurzer Zeit bauen?«, fragte Jess, darum bemüht gleichgültig zu klingen.

      »Wir haben eine weitere Werft gebaut, Tag und Nacht gearbeitet. Inzwischen gibt es auch den einen oder anderen Kapitän, der freiwillig zu uns gestoßen ist, um sich mit seinem Schiff verbinden zu lassen. Welcher Kapitän träumt nicht davon, eins zu werden mit seinem Schiff?« Torek stieß sich von der Hütte ab und trat dicht an Jess heran. Er hatte sämtliche Zurückhaltung verloren. Selbst die letzte Spur von Angst war aus seinen Augen verschwunden. Torek war sich seiner Macht über ihn absolut sicher. »Du hast schließlich auch alles daran gesetzt, um wieder mit der Monsoon Treasure verbunden zu werden, nicht wahr? Auch wenn der Preis dafür höher ist, als du dir hättest vorstellen können.«

      »Wir werden sehen, wer den Preis dafür bezahlt«, entgegnete Jess knapp.

      Torek lachte laut, dann zeigte er auf die Treasure. »Du wolltest sicher gerade auf dein Schiff hinübersetzen. Ich werde dich begleiten, deine neue Mannschaft wartet bereits ungeduldig darauf, ihren Captain kennen zu lernen.«

      Jess ließ Torek einfach stehen und ging zum Bootssteg hinunter. Natürlich wollte sich dieser verdammte kleine Mistkerl das nicht entgehen lassen.

      Noch während sie sich den dort liegenden Beibooten näherten, erhoben sich zwei Gestalten, die auf den Duchten gesessen haben mussten. Sie hatten die Sonne in ihrem Rücken, sodass Jess ihre Gesichter nicht sehen konnte. Beide Männer waren groß und breitschultrig. Als die grobschlächtigen Gesichter sich endlich aus dem Schatten bewegten, hatte Jess das undeutliche Gefühl, beiden schon einmal begegnet zu sein.

      »Captain«, murmelten sie wie aus einem Mund. Während der eine ihm flüchtig zunickte, rührte sich der andere Mann kein Stück. Seine blassgrauen Augen ruhten abschätzig auf Jess.

      »Wie sind eure Namen?«, fragte Jess und sparte sich jede Begrüßung, die ohnehin nicht erwartet wurde.

      »Rees, Sir. Martin Rees«, sagte der, der genickt hatte. Eine wulstige Narbe zerteilte seine Unterlippe und zog sich von dort schräg über das Kinn. »Und das ist Gerard de Croix, ein Franzose.« Rees betonte es, als würde das alles erklären.

      Gerard de Croix machte noch immer keine Anstalten, sich zu bewegen und reagierte erst, als Torek ihn anfuhr: »Rudert uns rüber zur Treasure, sofort!«

      Der Mann zuckte mit den Schultern und hielt das Boot, während die Männer hineinstiegen. Dann löste er das Tau, und er und Rees begannen, in gleichmäßigen Schlägen über die Bucht zu rudern.

      *

      Torek genoss jeden einzelnen Ruderschlag, der ihn und Jess Morgan der Monsoon Treasure ein Stück näher brachte. Morgan saß mit steinerner Miene im Bug und sah über die Küste, als befänden sie sich auf einem Ausflug. Aber Torek ließ sich von dem gleichmütigen Äußeren des Piraten nicht täuschen. Zu lebhaft stand ihm noch der verletzte Gesichtsausdruck Morgans vor Augen, als Bairani und er ihn aus der Höhle entlassen hatten. Es war ein heftiger Schlag für seine Arroganz gewesen, als ihm bewusst wurde, dass sie mit ihm machen konnten, was sie wollten. Torek lachte leise auf in Erinnerung an den köstlichen Triumph, fühlte seinen Geschmack auf der Zunge wie einen vollmundigen Wein. Morgan bemerkte sein Vergnügen, schwieg aber weiterhin. Es war nur ein kurzer Blick gewesen, bevor er sich die Rudergasten besah. Sicher taxierte er sie, um festzustellen, mit wem er es zu tun hatte.

      Jedenfalls waren sie geschickte Ruderer, die das Boot mit gekonnten Ruderschlägen längsseits an die Treasure brachten. Rees ergriff das Fallreep und sah dann abwartend zu Torek.

      Gut! Ohne Zweifel wusste der Einfaltspinsel genau, wer das Kommando hatte. Und das musste auch Morgan spüren. Er würde ihm nicht den Vortritt lassen, der dem Kapitän eigentlich zustand. Für Morgan war es nur eine kleine weitere Qual. Der Seher warf ihm einen Blick zu. Sicher brannte der Pirat darauf, endlich wieder sein Schiff betreten zu können, nach all den Tagen an Land. Soweit Torek es beurteilen konnte, hatte Morgan sich geweigert, den Schlaftrunk zu sich zu nehmen, den er ihm gebracht hatte. Diese Sturheit, die er nebenbei erwartet hatte, hatte Morgan nicht weiter gebracht. Im Gegenteil. Torek war davon überzeugt, dass sie wesentlich länger gebraucht hätten, seinen Willen zu unterwerfen, wenn er ausgeruht gewesen wäre. Morgan hatte nicht die geringste Ahnung, wie schwer er es ihnen auch so schon bereits gemacht hatte.

      Torek ergriff die Leiter und begann, daran hinaufzusteigen. Wie er diese Dinger hasste. Obgleich er inzwischen einige Übung mit dem Erklimmen dieser schwankenden Leitern hatte, fiel ihm dies immer noch schwer. Unbehaglich wurde ihm bewusst, was für eine lächerliche Gestalt er abgeben musste, während er ständig mit dem Gleichgewicht kämpfte, obwohl das Schiff nur leicht in der Brandung auf und ab dümpelte. Seine Laune sank mit jeder Sprosse, die ihn nach oben führte. Er brauchte dringend eine Aufmunterung.

      Missgelaunt betrat Torek schließlich das Deck. Augenblicklich kam ein Mann auf ihn zu, seltsam gekrümmt, als trüge er eine unsichtbare Last, die seinen Rücken in grotesker Weise nach vorne beugte.

      Noch bevor er etwas sagen konnte, trat Morgan hinter ihn.

      »Alle Mann an Deck, Seemann«, befahl der Pirat mit einer Selbstverständlichkeit, die Torek ärgerte. Da war sie zurück, die Arroganz dieses Bastards. Morgans Hand glitt dabei wie zufällig über die Reling, aber Torek wusste, dass er den Zustand der Monsoon Treasure prüfen wollte.

      Der Seemann sah Torek unsicher an, dann nickte er: »Aye, aye, Sir!«, und wiederholte den Befehl so laut, dass er bis in die hintersten Winkel des Schiffes dringen musste.

      Als