Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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warf ihm einen überraschten Blick zu. Torek lächelte triumphierend: »Meinst du, ich wüsste nicht, dass du auf diesem Schiff dort«, und damit deutete er auf die auf der Seite liegenden Neptuno, »gesegelt bist, als du dir dein Schiff zurückgeholt hast? Halte mich nicht für so einfältig, Morgan.«

      »Ich sehe dennoch keinen Grund darin, wehrlose …«

      Torek schnitt ihm mit einer Bewegung der Hand das Wort ab. Locker umfasste er das Amulett. Hitze schoss in Jess‘ Herz und ergoss sich von dort durch seinen Körper, fraß seinen Verstand und legte sich wie Eisenketten um seine Muskeln.

      »McFee!«, brüllte er. Augenblicklich tauchte dieser vor ihnen auf. Sein Gesicht war blutverschmiert. Kurz streifte sein Blick Toreks Gestalt, bevor er sich an Jess wandte:

      »Aye, Sir?«

      »Lass Boote zu Wasser und gib Musketen aus. Tötet jeden Überlebenden, den ihr finden könnt.«

      »Aye, aye, Sir!« McFee nickte und brüllte über Deck: »Beiboote klarmachen zum Abfieren! Wir machen Jagd auf die spanischen Ratten, Männer!« Johlende Zustimmung folgte.

      Ein scharfer Schmerz durchfuhr Jess‘ Kopf und ließ eine seltsame Leere zurück. Er war wieder frei! Wie betäubt wandte er den Kopf nach achtern. Torek beobachtete ihn mit dem zufriedenen Gesichtsausdruck eines Siegers.

      Schüsse erklangen neben ihm, die ihn wie aus einem tiefen Schlaf weckten. Jess löste sich von Toreks Anblick und sah auf die unglückseligen Spanier, die versuchten, sich an Land zu retten. Das erste Beiboot war gerade zu Wasser gelassen worden und hielt auf die Insel zu. Zwei Mann ruderten, während vier weitere mit ihren Musketen zielten und feuerten. Bei jedem Treffer schrien sie vor Freude auf, als wären sie auf einer Jagd und hätten gerade einen kapitalen Hirsch erlegt. Regungslos beobachtete er das mörderische Treiben. Als die ersten Schwimmer das scheinbar rettende Ufer erreichten, landete bereits eines der Boote. Die Männer zögerten nicht, sprangen an Land und zogen noch im Lauf die Schwerter.

      Die Schiffbrüchigen hatten nicht die geringste Überlebenschance. Jess presste die Lippen fest aufeinander und wandte sich ab. Torek beobachtete hingegen weiterhin mit leuchtenden Augen das Geschehen, als folgte er einem amüsanten Schauspiel. Wie konnte ein so junger Mensch nur so grausam sein?

      »Seid Ihr zufrieden, Seher? Gefällt Euch, was ihr seht?«, fragte er daher anzüglich.

      »Durchaus!« Torek würdigte ihn nur eines kurzen Blickes, dann richtete er seine Augen wieder auf die Insel. »Du solltest nicht so verächtlich auf diese Männer und mich herabsehen, Morgan. Schließlich ist dies eine Vorgehensweise, die dir nur zu gut bekannt sein dürfte.«

      »Das ist lange her.«

      »Aber nicht vergessen!« Torek lächelte beinahe milde. »Ist es doch nur ein Beweis dessen, wozu du selbst in der Lage bist.«

      Jess bedachte den Seher mit einem nachdenklichen Blick. Nicht vergessen! Nein, als ob jemals etwas vergessen werden konnte. Es war noch nicht so lange her, da hatte der alte McPherson beinahe die gleichen Worte an ihn gerichtet. Wahrscheinlich war es so. Taten reihten sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur, und am Ende würde sich zeigen, welche Art der Perlen überwog. Im Moment schmiedete er an einem Schmuckstück, das zu tragen keine Auszeichnung war.

      Am Strand war es ruhig geworden. Die Piraten hatten ihr blutiges Werk beendet und schoben die Beiboote wieder in das Wasser, um zurückzurudern. Torek ließ seine Augen herablassend über Jess wandern.

      »Ich hätte nie gedacht, dass du so schnell aufgibst. Da ist nicht einmal der Ansatz eines Widerstandes in deinem Willen. Aber wahrscheinlich ist es das, was du tief in deinem Innern schon immer gewesen bist. Nichts weiter als ein Werkzeug, das nur von dem richtigen Mann geführt werden muss.«

      »Und dieser Mann seid Ihr?« Jess verschränkte die Arme vor der Brust und sah abfällig auf den Seher herab. Doch dieser ließ sich durch den Größenunterschied nicht mehr beirren. Das gerade Geschehene hatte sein Selbstbewusstsein weiter gestärkt. »Was lässt Euch in dem Glauben, dass ausgerechnet ein Knabe der richtige Mann ist, um mich so zu lenken, dass am Ende der Kampf der Waidami so endet, wie es die Prophezeiung vorhersieht?«

      »Wer sagt denn, dass ich das Ende anstrebe, das die Prophezeiung vorsieht?« Torek kicherte. Wie zufällig legte sich die Hand wieder an das Amulett und streichelte es beinahe sanft. »Vielleicht habe ich da ja ein ganz anderes Ende im Sinn.«

      »Ihr wollt Bairani verraten?«

      Torek riss in gespielter Verwunderung die Augen auf und schüttelte übertrieben den Kopf, doch das Lächeln um seine Lippen behielt er bei. »Nein, nein! Wie könnte ich den großen Bairani verraten, wenn ich ihm doch so viel verdanke. – Ich strebe nur danach, dass die Waidami ihren Sieg erhalten.«

      »Ihr spielt ein gefährliches Spiel, Torek. Wenn man sich zu viele Fronten schafft, ist eine Seite irgendwann einmal ungeschützt.«

      »Weise Worte, Morgan. Doch all deine Weisheit hilft dir im Moment nicht weiter. Und wenn du an den Punkt gelangst, an dem dir diese Weisheit endlich die Lösung verrät, wird es für dich zu spät sein. Denn des Rätsels Lösung ist dein Tod!« In einer plötzlichen heftigen Bewegung umklammerte er das Amulett so fest, dass deutlich die Knöchel seiner Hand hervor traten. Wütend presste der Seher die schmalen Lippen aufeinander.

      »Ein guter Mann hat einmal gesagt, alle Visionen wären nur Möglichkeiten.«

      »Du redest von Tamaka. Er war ein Trottel und kein guter Mann«, fuhr Torek auf. »Und er ist gestorben wie ein Trottel, in dem törichten Glauben, mit dem Diebstahl des Dolches das Schicksal zum Guten wenden zu können. Doch wäre er schlau gewesen, hätte er gewusst, dass wir diesen Diebstahl wollten; dass wir die neue Verbindung zwischen dir und deinem Schiff brauchten, und er hätte gewusst, dass der Dolch manipuliert war. Wäre er der Mann gewesen, von dem du sprichst, dann wäre das hier …«, und damit klopfte er gegen das Amulett, » … nicht möglich gewesen! Aber genug geplaudert, Pirat. Bring uns zurück nach Waidami. Dort wartet bereits eine andere Aufgabe auf dich. Ich werde mich eine Weile zurückziehen. Komm nicht auf die Idee, mich zu stören, wenn es nicht wirklich wichtig ist.« Damit wandte sich der Seher um und schritt hastig über Deck davon.

      *

      Wütend riss Torek das Schott auf, stolperte den Gang entlang und stürzte in seine Kajüte. Mit Wucht schlug er die Tür zu und setzte sich zitternd auf seine Koje.

      Verdammt! Was war er nur für ein geschwätziger Idiot! Dass dieser Mistkerl ihn auch ständig mit seiner arroganten Art reizen musste. Hatte er ihm nicht gerade gezeigt, wie viel er noch selbst in der Hand hatte? Möglichkeiten, lächerlich! Und er hatte nichts Besseres zu tun, als mit seinem Wissen zu prahlen. Wenn Morgan genau zugehört hatte ...

      Torek stand auf und ging zu dem kleinen Tisch hinüber. Ratlos sah er sich um. Der Raum war zu dunkel, zu eng, und er vermisste Waidami. Nur ein paar Tage auf See und er haderte mit dem Weg, den er eingeschlagen hatte. Vielleicht hätte er Bairani nicht davon überzeugen sollen, ihn auch in den Willen Morgans eingreifen zu lassen. Aber die Vorstellung war so verlockend gewesen, und wenn er ehrlich war, war es ein unvergleichlicher Genuss gewesen, diesen tödlichen Befehl zu geben.

      Torek zog die Kette über seinen Kopf und legte sie vor sich auf den Tisch. Salz und Gischt hatten das Glas des kleinen Fensters beschmutzt, sodass nur schummriges Licht hindurchfiel. Dennoch funkelte der rote Stein, als befände sich Leben in seinem Inneren. Eine Kraft ging von ihm aus, die Torek fühlte, als könnte er sie in die Hand nehmen. Ob Bairani gewusst hatte, was er ihm damit ausgehändigt hatte? Hatte er ihm bewusst die Kontrolle über die Schlüsselfigur der Vision gegeben? Schließlich wusste der Oberste Seher, wie detailliert seine Visionen waren.

      Torek seufzte und wischte sich über die müden Augen. Er sah so viel und wusste so viel, dass es ihn manchmal schlicht erschöpfte. Inzwischen brauchte er nicht einmal mehr in der Gegenwart eines Menschen sein, um gezielt Visionen über ihn hervorzurufen. Es reichte, wenn er der betroffenen Person einmal begegnet war. Niemals zuvor hatte ein Seher solche Fähigkeiten besessen, und dennoch brachte es ihn nicht überall an sein ersehntes Ziel. Sehnsüchtig dachte er an Shamila, rief sich den warmherzigen Ausdruck ihrer Augen in Erinnerung, der früher immer