Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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Schiff?«

      Jess musterte den dünnen Seher von Kopf bis Fuß und konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Es gibt während eines Gefechtes keinen sicheren Platz auf einem Schiff, Seher«, sagte er betont langsam und mit Genuss. »Vielleicht schaut Ihr einmal in Euren Visionen nach, wo Ihr Euch am besten verkriechen könnt.«

      Toreks Miene verfinsterte sich zusehends. Er öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, als der Ruf des Ausgucks sie unterbrach: »Mastspitzen Backbord voraus!«

      »Siehst du«, triumphierte der Seher und deutete nach vorne. Jess schwieg und zog stattdessen das Spektiv hervor. Um die Nordspitze Carriacous schoben sich gerade zwei Dreimaster, die die spanische Flagge gehisst hatten.

      »Diese verdammten Spanier scheinen wirklich zu glauben, dass sie sich an uns vorbeischleichen können.« Torek lachte abfällig. »Sind sie stark bewaffnet?«

      Jess betrachtete immer noch die Schiffe. Er hatte sie beide sofort erkannt. Es waren die Neptuno und die Santa Ana, die ihnen hoch am Wind entgegensegelten. Beide Schiffe waren bei der großen Schlacht gegen die Waidami dabei gewesen. Er selbst hatte das Kommando über die Neptuno gehabt. Es waren gute Männer an Bord. Wütend presste er die Lippen aufeinander.

      »Sind sie stark bewaffnet, habe ich gefragt!« Toreks aufgeregte Stimme drang in sein Bewusstsein.

      Nur zögernd ließ Jess das Spektiv sinken und schenkte dem Seher einen kalten Blick. »Es sind Schlachtschiffe, was erwartet Ihr?«

      »Willst du denn nicht die Kanonen rausholen lassen?«

      Jess wandte sich ab und steuerte das Achterdeck an. Es widerstrebte ihm zutiefst, diese Schiffe anzugreifen. Die Männer waren ihm während seiner Zeit an Bord zwar mit Vorsicht begegnet, aber ohne ihre Hilfe hätte er die Monsoon Treasure nicht zurückerobern können. Jetzt sollte er sie zum Dank dafür auf den Meeresboden schicken? Nachdenklich warf er einen Blick auf Torek, der ihm wie immer gefolgt war. Hass wallte in ihm auf. Dieser verdammte Mistkerl klammerte sich unablässig an das Amulett. Irgendwann musste er dieses Ding doch einmal loslassen. In seinem Gesicht spiegelte sich Nervosität. Offenbar war seine Angst vor dem Gefecht doch so groß, dass er noch nicht bemerkt hatte, in welchem Zwiespalt Jess sich befand. Gut so.

      »Kurs halten! Alles auf Gefechtsstationen!«, rief Jess. »Die Stückpforten bleiben geschlossen.«

      »Was? Wieso?« Torek sah ihn fassungslos an, während Bewegung in die Crew geriet. Schnell, aber ohne übertriebene Hast folgten sie dem Befehl.

      »Weil es noch nicht der passende Augenblick ist«, entgegnete er knapp.

      Vielleicht wussten die Spanier noch nichts davon, dass die Monsoon Treasure wieder für die Waidami segelte. Doch ein Blick durch das Spektiv belehrte ihn eines Besseren. Noch machten sie zwar nicht die geringsten Anzeichen sich für ein Gefecht vorzubereiten, aber Capitan Mendez beobachtete ihn ebenfalls durch ein Fernrohr. Ihm konnten die Vorbereitungen an Bord der Monsoon Treasure nicht verborgen bleiben, auch wenn die Stückpforten immer noch geschlossen blieben. Eisern hielten die beiden spanischen Schiffe weiterhin auf sie zu, ohne dass etwas geschah. Im Grunde hatten sie auch keine andere Möglichkeit als sich dem Gefecht zu stellen. Wenn er die Schiffe hier versenkte, würden die Überlebenden ohne Schwierigkeiten an Land schwimmen können. Es mussten nicht alle sterben.

      »Auf meinen Befehl hin werden die Stückpforten geöffnet und gefeuert!«, rief Jess McFee zu.

      »Aye, aye, Sir!«

      Auf der Neptuno wurden die Kanonen ausgerannt, die Santa Ana folgte kurz darauf ihrem Beispiel. Damit zeigte sie ebenfalls ihre Gefechtsbereitschaft und fiel hinter die Neptuno ab. Beide Schiffe würden auf diese Weise leicht versetzt an der Backbordseite der Treasure vorbeilaufen und sie damit kurz hintereinander unter Beschuss nehmen können. Jess sah, wie die Männer an Deck neugierig zu ihnen herüber sahen. Für den Moment schienen sie noch unsicher zu sein, ob von der Monsoon Treasure tatsächlich Gefahr ausging. Die Neptuno würde jeden Moment parallel zur Treasure laufen und machte nicht den Anschein zuerst das Feuer eröffnen zu wollen. Jess wartete, während Torek neben ihm ungeduldig auf seinen Füßen hin und her trat.

      »Mach schon, verdammter Pirat!«, zischte er. Es war der Augenblick, in dem Jess laut brüllte: »Volle Breitseite! FEUER FREI!«

      Beinahe gleichzeitig flogen die Stückpforten hoch, und die Kanonen wurden ausgerannt. Das Deck erzitterte unter der Wucht der Schüsse. Einen Atemzug später schlugen die Kugeln mit unglaublicher Gewalt auf der Neptuno ein. Schreie erklangen, als der Besanmast unter lautem Bersten und Krachen auf das Deck stürzte und Männer unter Segel und Tauen begrub. Zwei große Löcher klafften in der Bordwand. Das Heck hatte auch einen Treffer abbekommen, der die gerade erst reparierte Ruderanlage beschädigt hatte. Capitan Mendez’ Befehle übertönten den Lärm, in dem Versuch dem Chaos Einhalt zu gebieten. Jedoch hatte die kurze Unsicherheit und das Zögern des Capitans zuvor wertvolle Zeit gekostet, wodurch die Kanonen der Neptuno erst verspätet das Feuer erwiderten und ihre Ladungen nutzlos hinter die Treasure in die See spuckten.

      »Hart Backbord! Kanonen nachladen«, schrie Jess. Noch während von der Neptuno weiter hektische Befehle herüberschallten, schwenkte die Monsoon Treasure hinter dem breiten Heck des spanischen Dreimasters nach Backbord aus, um der Santa Ana ihre Steuerbordbreitseite zu präsentieren. Die Männer der Santa Ana schienen besser vorbereitet zu sein, als ihre Begleiter. Nacheinander leuchteten die Kanonenmündungen auf. Drei große Wassersäulen stiegen vor der Monsoon Treasure aus dem Wasser auf. Während zwei Kugeln über das Hauptdeck fegten, schlug eine weitere in einem der unteren Decks ein. Ein paar Männer schrien auf, andere versuchten, den Geschossen auszuweichen. Eine Kugel traf das Achterkastell. Holzsplitter flogen umher. Jess stöhnte unter den Schmerzen, die die Treffer verursachten, und hob schützend den Arm vor das Gesicht, während sich Torek mit einem lauten Aufschrei der Länge nach auf den Boden warf und seinen Kopf unter den Armen begrub.

      »FEUER!«, rief Jess. Diesmal brüllten die Kanonen der Steuerbordseite auf und spuckten Tod und Verderben auf die Spanier hinüber. Zwei Schüsse schlugen vor dem Schiff ein. Der Rest traf und zerschlug das Schanzkleid. Männer wirbelten wie Puppen über das Deck. Eine Kugel traf den Fockmast, beschädigte ihn aber nur leicht.

      Jess sah zur Neptuno hinüber. Die Ruderanlage schien doch schwerer beschädigt zu sein, als es den Anschein gehabt hatte. Das Schiff trieb hilflos auf das Ufer der kleinen Insel zu. Demnach schied es als weiterer Gegner aus, und er wandte sich wieder der Santa Ana zu, die angeluvt hatte und jetzt auf die Treasure zuhielt.

      »Steuerbord!«, befahl Jess.

      Langsam schwenkte die Treasure herum. Beide Schiffe segelten aufeinander zu.

      »Breitseite klar machen zum Feuern! Zielt auf die Wasserlinie.«

      Die Schiffe näherten sich schnell. Beinahe gleichzeitig brüllten die Kanonen auf und fegten wie tödliche Dämonen über das Wasser. Schreie erklangen, als die Kugeln der Santa Ana das Schanzkleid der Treasure durchbohrten und einige Männer getroffen wurden. Doch die Schüsse waren zu hoch gezielt und richteten keinen großen Schaden an. Die schlimmsten Verwüstungen kamen von den umherfliegenden Holzsplittern, die sich wie hinterhältig abgeschossene Pfeile auf den Weg nach Opfern machten und diese auch fanden. Auf der Santa Ana hingegen zerschlugen die gut gezielten Schüsse der Treasure den Rumpf dicht unterhalb der Wasserlinie. Wasser schoss durch die Lecks in das Innere und besiegelten das Schicksal des Schiffes. Jubelnd und grölend feierten Jess‘ Männer den Anblick der sterbenden Santa Ana, als sie langsam aus dem Ruder lief.

      Die Neptuno war auf Grund gelaufen und die Santa Ana sank über Bug. Diese Schiffe würden keine Nachricht mehr nach Spanien bringen.

      Hinter Jess rappelte sich Torek langsam auf.

      »Ihr scheint einen sicheren Platz gefunden zu haben, Seher. Ihr seid unversehrt, wie ich sehe.«

      Torek warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Was ist mit den Überlebenden?«, fragte er mit einem Blick auf einige Männer, die von der sinkenden Santa Ana auf die Insel zu schwammen.

      »Was soll mit ihnen sein? Ziel war es zu verhindern, dass diese beiden Schiffe nach Spanien segeln. Ich denke, dieses Ziel ist erreicht.«

      »Töte sie.«

      »Ich