Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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      Jess lief der Schweiß in Strömen über den Rücken, als er drei Tage später wieder in der Höhle kniete. Er fürchtete nicht den Schmerz, aber er fürchtete sich vor dem Gefühl, wenn Bairani in seinen Kopf eindrang. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass er jemals solche Angst empfinden könnte. Aber der Gedanke daran, was Bairani alles tun konnte, wenn er erst sein Ziel erreichte und seinen Willen übernahm, löste in ihm diese hilflose Angst aus.

      Vielleicht sollte er sich nicht mehr dagegen wehren. Es würde die Qualen erträglicher machen. Tatsächlich war es nur eine Frage der Zeit, bis er keine Kraft mehr besaß, um sich zu wehren. Jess zitterte vor Erschöpfung. Drei Kämpfe hatten sie bereits hinter sich, an deren Ende Bairani jedes Mal kurz vor seinem Ziel die Besinnung verloren hatte. Zwei Nächte hatte er an Land verbracht, in denen er kaum geschlafen hatte und die ihn zermürbt hatten. Er konnte nicht mehr. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. Er konnte sie kaum noch offen halten.

      Wie angenehm musste es sein, wenn er Bairani einfach gewähren ließ und er endlich wieder auf die Monsoon Treasure zurückkehren durfte. Schlaf, endlich wieder Schlaf ohne schlechte Träume.

      Doch als Bairani an der Seite von Torek hereintrat, regte sich in ihm der Widerstand. Es ging nicht, er konnte nicht einfach aufgeben, solange noch ein winziges Fünkchen Kraft in ihm steckte.

      Bairani ließ sich auf seinen Thron nieder. Sein Gesicht wirkte inzwischen ausgezehrt. Auch er trug die Kämpfe nicht ohne sichtbare Spuren aus.

      Torek platzierte sich wie immer neben ihm. Er betrachtete Jess mit einem Lächeln, das ein Sieger trug. In Jess verhärtete sich die Vorahnung, dass er heute verlieren würde. Bairani würde ihn heute überwältigen. Übelkeit stieg in ihm auf, die schon lange in ihm gelauert hatte.

      Die Prozedur der vergangenen Tage wiederholte sich in der immer gleichen, quälenden Abfolge. Die gleißende Hitze fraß sich mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit von seinem Herzen aus durch seinen Körper und legte ihr Netz aus. Jess war am Ende seiner Kräfte. Das unkontrollierte Zittern glich immer mehr einem heftigen Schüttelfrost. Jess hatte keinerlei Kontrolle mehr über seine Muskeln, als sich Bairani langsam und unaufhaltsam in ihn hinein schlängelte. Und trotzdem konnte er nicht einfach aufgeben. Verzweifelt wehrte er sich und versuchte, seinen Verstand vor dem verhassten Zugriff zu sperren, bis die Kräfte des Obersten Sehers wieder zu erlahmen begannen. Doch diesmal kam es nicht zu einem abrupten Ende. Ganz plötzlich zog sich Bairani völlig zurück. Jess wollte aufatmen, als der Oberste Seher sich erschöpft das Amulett über den Kopf streifte und Torek hinhielt. Der Junge zögerte nicht einen Augenblick. Als hätte er nie auf etwas anderes gewartet, nahm er das Schmuckstück, legte es um und griff noch im selben Moment nach Jess. Blitzartig stieß er mit frischer Kraft zu, nur um sich sofort wieder zurückzuziehen. Noch bevor Jess den Schock darüber überwunden hatte, griff Torek wieder an. Zum ersten Mal bröckelte die Mauer, die Jess aufgebaut hatte, und wurde dünner. Jeder neue Angriff von Torek trug unaufhaltsam eine weitere Schicht ab. Als der Seher die letzte Schicht durchstieß, zersplitterte der Wille von Jess Morgan wie Glas. Ein unerträglicher Schmerz explodierte in seinem Kopf und schien seine Augen zu zerreißen, gefolgt von einer schwarzen Welle, die auf ihn zuschoss und ihn verschlang.

      *

      Als Jess aufwachte, befand er sich wieder im Kerker. Angekettet an der Wand, versuchte er sich aufzurichten. Sein Kopf schmerzte, und er übergab sich in das faulige Stroh. Jess stöhnte. Das Zittern war vorüber, stattdessen fühlte er sich vollkommen leer. Alles, was geblieben war, war der bittere Geschmack Toreks in ihm.

      »Endlich bist du wach. Ich hatte schon befürchtet, dein Herz hätte die Anstrengungen der letzten Tage nicht verkraftet.«

      Jess kniff die Augen zusammen und suchte Torek, den er in einer Ecke des Kerkers auf einem Strohballen sitzend fand.

      »Hast du schon einmal eine Marionette gesehen, Morgan?«, fragte er hämisch.

      Jess schwieg. Die Demütigung saß in Gestalt dieses Jungen vor ihm und führte ihm die Ausweglosigkeit dieser ganzen verfahrenen Situation vor Augen. Auf was hatte er sich hier bloß eingelassen?

      »Du darfst dich jetzt ein paar Tage erholen. Nachdem du einmal bezwungen wurdest, kannst du es nicht verhindern, dass ich dich wieder benutze. Wenn du wieder bei Kräften bist, werden wir üben. Zeigst du dich kooperativ, darfst du bald wieder auf dein heißgeliebtes Schiff.« Torek rutschte von dem Strohballen herunter und kam auf Jess zu. Mit gerümpfter Nase tat er, als müsste er den Gestank zur Seite wedeln. »Ich habe dir da ein Fläschchen hingestellt. Den Inhalt solltest du noch von Tamaka kennen. Es ermöglicht dir einen erholsamen Schlaf.« Er kicherte gutgelaunt und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er stehen und klopfte zum Zeichen für den Wärter, ihn wieder hinauszulassen. Als die Tür aufschwang, schien Torek es sich noch einmal anders überlegt zu haben. Schwungvoll dreht er sich um und kam wieder auf ihn zu. Dicht beugte er sich zu ihm herunter, nicht ohne eine Hand vor Mund und Nase zu halten.

      »Schon bald wirst du deinen ersten Auftrag erhalten, und ich werde dich begleiten. Ich bin davon überzeugt, dass wir unseren Spaß miteinander haben werden.«

      *

      Als es Bairani wenige Tage später gelang, durchzubrechen, war es auf einmal ganz leicht. Jess verlor zunächst die Orientierung und blinzelte in die Welt aus Schatten und Strömungen, die sich vor seinen Augen öffnete. Er sah sich im Raum um. Es war die gleiche Blickweise, die er im Kampf wählte, damit er alles um sich herum detailliert wahrnehmen konnte. Zu seinem Erstaunen konnte er vollkommen klar denken und nahm auf seltsame Weise die Welle des Triumphes wahr, die durch den Obersten Seher und Torek schoss. Einer der Wachen trat zu ihm und befreite ihn von seinen Ketten. Dem Mann war das Geschehen völlig gleichgültig. Er mochte bereits ganz andere Dinge in diesem Raum gesehen haben. Jess vermied es, sich die schmerzenden Handgelenke zu reiben. An den Stellen, an denen die Ketten seine Gelenke aufgescheuert hatten, war die Haut blutig und entzündet. Plötzlich musste er zu der Wache sehen. Der Mann hatte sich an die Höhlenwand zurückgezogen.

      »Gleich, was geschieht, es wird nicht eingegriffen.« Toreks Stimme drang nur undeutlich zu ihm. Im gleichen Moment trieb ihn eine unsichtbare Kraft voran. Jess sprang auf den Mann zu, der immer noch die Ketten in seinen Händen hielt. Ehe dieser reagieren konnte, riss Jess ihm das Langmesser aus dem Gürtel und tötete ihn mit einem gezielten Stich ins Herz. Ein überraschter Aufschrei des zweiten Wächters erfüllte den Raum. Jess wirbelte herum und warf das Messer nach ihm. Der Mann war bereits tot, als sein Körper schlaff auf dem Boden aufschlug. Der Schaft des Messers ragte aus seiner Brust.

      Jess war völlig verwirrt. Warum hatte er das getan? Unsicher stand er in der Höhle. Als er das begeisterte Klatschen von Bairani und Torek hörte, begriff er langsam.

      Bairani!

      Widerspruchslos ging er zum Thron des Obersten Sehers und kniete sich vor ihm nieder. Jess fühlte sich wie in einem Alptraum gefangen. Alles was er hier tat, war nicht er selbst, sondern Bairani in seinem Kopf, der ihn lenkte.

      Auf einen Ruf Toreks erschienen neue Wachen, die ihn wieder in Ketten legten. Dann wich der Druck aus seinem Kopf, und sein Blick klärte sich. Jess wischte sich über die brennenden Augen und sah zu Bairani. Der Oberste Seher saß erschöpft auf seinem Stuhl und lächelte ihn wortlos an.

      *

      »Du darfst gehen.« Torek lächelte vergnügt. »Du darfst dich auf der Insel frei bewegen. Es gibt jetzt keinen Ort mehr für dich, an dem du unserem Ruf nicht mehr folgen wirst. Bei Sonnenuntergang treffen wir uns am Hafen.«

      Jess starrte ihn gedemütigt an. Er war nicht mehr in der Lage zu antworten. Ihm fehlte selbst die Kraft, um noch aufstehen zu können. Seltsam losgelöst bemerkte er seine kniende Position. Torek hatte Recht behalten. Er war nun nichts weiter als eine Marionette, die blind an ihren Fäden den Befehlen von zwei Wahnsinnigen folgen würde. Was hatte er getan? Wie hatte er sich darauf einlassen können?

      Kälte kroch in seine Glieder, die ihn wieder unbehaglich zittern ließ. Langsam und schwerfällig richtete er sich auf, bemüht, so aufrecht wie möglich zu gehen. Niemand sagte noch ein Wort, niemand hielt ihn auf, als er sich endlich umdrehte und die Halle mit kraftlosen Schritten verließ. Der Weg erschien ihm länger als die Male zuvor und