Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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presste wütend die Lippen aufeinander. Seine Arme fielen herab, und er trat, jede Vorsicht vergessend, noch näher an Jess heran.

      »Vielleicht macht es einfach Spaß zu beobachten, wie du nach deinem Schiff weinst, wie ein kleines Kind nach seiner Mutter«, zischte er und funkelte ihn herausfordernd an.

      »Was wollt Ihr?«

      »Befiehl deine Männer an Bord.«

      Jess folgte dem Blick Toreks zu den Booten, in denen die Männer immer noch warteten, dann blickte er wieder auf den Seher.

      »Was, wenn ich es nicht tue?«

      »Oh, da gibt es genau eine Möglichkeit.« Torek machte eine Pause, während er an Jess vorbeitrat und zur Reling ging, um sich in einer etwas ungelenken Geste darauf abzustützen. »Wir werden die Insel vom Meer aus in Beschuss nehmen und anschließend werden wir das, was davon noch übrig ist, in Brand setzen.« Erneut machte er eine Pause, in der er sich wieder Jess zuwandte, um ihn interessiert zu mustern. »Aber im Grunde habe ich kein Interesse daran, deine Männer zu töten. Wir bauen so viele Schiffe, dass wir jeden erfahrenen Seemann brauchen, den wir bekommen können. Wenn sie also freiwillig an Bord kommen, wird ihnen nichts geschehen. Sie werden lediglich in die Bilge gesperrt, bis wir Waidami erreichen. Dort werden sie auf unsere Schiffe verteilt.« Torek räusperte sich vernehmlich und seine Stimme nahm einen beinahe sanften Ton an, als er fortfuhr. »Und wir werden mit euch einfach davonsegeln und keinen der abtrünnigen Waidami jagen, die auf diese Insel geflohen sind.«

      Jess nickte langsam. Er war nicht überrascht, dass Torek darüber Bescheid wusste. Nicht umsonst war er der Vertraute Bairanis geworden. So trat er neben den Seher und winkte seinen Männern. Jintel antwortete ihm, in dem er ebenfalls eine Hand hob. Gleich darauf wurden die Riemen ins Wasser getaucht, und sie ruderten in ihre Richtung.

      Der junge Seher sagte nichts, sondern lächelte ununterbrochen sein selbstsicheres Lächeln, während er die Ruderer beobachtete. Als die Boote an der Treasure längsseits gingen, warf er Jess einen langen abschätzenden Blick zu und gab seinen Begleitern einen Wink.

      »Legt ihn in Ketten«, sagte er und betonte jedes Wort mit der Freude eines Kindes, das gerade eine Belohnung erhalten hatte.

      Ein Mann trat zwischen den anderen Piraten hervor. In seinen Händen hielt er schwere Hand- und Fußketten. Jess ließ die Arme langsam an seinen Seiten herabsinken. Er atmete ergeben ein, als sich die eisernen Fesseln um seine Gelenke schlossen. Hatte ihn die Schriftrolle schon gedanklich in Fesseln gelegt, so erhielt er jetzt den äußeren Beweis dafür, dass er seine Freiheit bereits verloren hatte, als er sich auf Tamakas Vision eingelassen hatte. Voll Unbehagen verfolgte er, wie seine Männer das Deck betraten und ebenfalls in Ketten gelegt wurden. Ihre Augen ruhten vertrauensvoll auf ihm. Genau dieses Vertrauen belud ihn bereits jetzt mit einer Schuld, die er niemals begleichen konnte. Sie würden auseinandergerissen und auf verschiedenen Schiffen verteilt werden. Jess hatte keinerlei Zweifel daran, dass sie dort den Anfeindungen der anderen Piraten ausgesetzt sein würden. Jeder wusste, dass sie zur Crew des Verräters gehörten, und würde sie das spüren lassen. Auch seine Männer wussten das, hatten es von Anfang an gewusst. Vielleicht würden die Brüder getrennt werden, das würde Rodrigeuz das Herz brechen, wenn er nicht auf seinen kleinen Bruder aufpassen konnte und ihm in dieser Zeit vielleicht etwas geschah. N’toka war inzwischen zu Kadmis Schatten geworden und würde es ebenso hassen, von ihm getrennt zu werden. McPherson hatte sowieso schon mit dem Holzbein zu kämpfen. Jess unterdrückte ein Seufzen und hasste in diesem Augenblick dieses blinde Vertrauen. Was, wenn Tamakas Vision nicht in Erfüllung gehen würde? Schließlich hatte er selbst immer wieder betont, dass eine Vision nur Möglichkeiten enthielt.

      »Und wieder einmal bist du nicht in der Lage, deine Männer wirklich zu schützen. Ist das nicht beschämend?« Toreks Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, als hätte er sie gelesen. »Bevor deine Männer in die Bilge gesperrt werden, sollen sie noch sehen, wie ihr Captain sein Knie vor mir beugt.« Seine Augen huschten zu Jess‘ Männern und kehrten dann zu Jess zurück, um ihn hohnlächelnd von oben bis unten zu taxieren. »Knie dich vor mir nieder, Pirat«, befahl er.

      Jess lachte laut auf.

      »Ich werde nicht vor Euch knien!«, sagte er langsam und provokant.

      Auf einen herrischen Wink Toreks hoben die beiden bewaffneten Piraten ihre Musketen und richteten die Läufe auf Jess Kopf.

      »Ihr werdet mich wohl kaum erschießen, weil ich nicht vor Euch niederknie, Torek. Bairani will mich lebend, wozu wäre sonst der ganze Aufwand notwendig?« Diesmal lächelte Jess selbstgefällig und machte einen Schritt auf den Seher zu, in dessen Miene sofort Panik aufflackerte. »Ich werde mein Knie nicht freiwillig vor deinesgleichen beugen, Seher.«

      Aus Toreks Gesicht wich alle Farbe. Wütend ballte er seine Fäuste, während er sich hastig umsah und sich davon überzeugte, wer Zeuge dieser Szene war. Als er sich wieder Jess zuwandte, konnte dieser darin lesen, dass er diese Demütigung so nicht hinnehmen würde. Jess erschauderte.

      »Du wirst dein Knie vor mir beugen, Pirat! – Schon bald wirst du vor mir auf den Knien umherrutschen, wenn ich es will und du wirst noch ganz andere Dinge tun, einfach weil ich es will …!« Die Worte trafen Jess, als würde jedes von einem Messer geführt, das einen blutigen Schnitt hinterließ. Torek sprach genau das aus, wovor Jess sich am meisten fürchtete, und er wusste mit unheimlicher Sicherheit, dass der Seher Recht behalten würde …

      *

      Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als Jess endlich Schritte in der Dunkelheit vernahm. Er wusste nicht, wie lange er bereits in der Bilge der Thethepel war. Jegliches Zeitgefühl war ihm im Laufe der Stunden abhandengekommen, in denen er gegen den Schlaf angekämpft hatte. Die Thethepel war Stunde um Stunde dem Spiel der Wellen gefolgt, die stetig gegen ihren Rumpf stießen und Jess dabei leise zuwisperten. Das Lied der Wellen folgte einem gleichmäßigen Rhythmus, der die Müdigkeit verstärkte und den Schlaf unaufhaltsam näher lockte. Doch Jess hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt, indem er die Ketten seiner Fußfesseln um seinen linken Oberschenkel geschlungen hatte. Jedes Mal, wenn der Schlaf ihn zu übermannen drohte, hatte er die eisernen Glieder so fest wie möglich zusammengezogen. Sein Bein war inzwischen von einem schmerzhaften Pochen erfüllt, aber nur so hatte er den Schlaf zurückhalten können. Der Gedanke, dass Torek ihn dabei bewusst beobachten würde, wie er seinen Dämonen gegenübertrat, war für Jess nicht zu ertragen. Er war sicher, dass Torek ihn nur aus diesem Grund auf die Thethepel gebracht hatte, und diesen Triumph konnte er ihm nicht gestatten. Es war demütigend genug gewesen, dass der junge Seher bemerkt hatte, welche Wirkung seine letzten Worte auf Jess gehabt hatten. Deutlich hatte ihm die Überraschung im Gesicht gestanden, als er Jess‘ Entsetzen bemerkt hatte, dann hatte er laut gelacht.

      Die Schritte hatten inzwischen die Tür seines Gefängnisses erreicht und verharrten. Licht drang in schmalen Streifen durch die Ritzen der Tür und brannte in seinen Augen. Er hob eine Hand und schirmte damit sein Gesicht ab, während er wartete. Leise quietschend schwang die Tür auf, und der Pirat mit dem zerschlagenen Gesicht stand vor ihm.

      »Los, steh auf. Du darfst aus deinem Rattenloch, Captain«, knurrte er ihn an.

      Jess richtete sich auf. Sein Bein rebellierte mit einer Schmerzwelle, als er es mit seinem Gewicht belastete, doch er ignorierte den Schmerz. Langsam ging er durch die Tür. Der Pirat griff ihn bei der Schulter und stieß ihn auf den Niedergang zu.

      »Geh voran, Mann.«

      Jess antwortete nichts. Dennoch wunderte er sich, dass er aus der Bilge geholt wurde. Waren sie bereits an ihrem Ziel angelangt? Er hatte nicht bemerkt, dass sie irgendwo vor Anker gegangen waren, jedoch hatte er die Zeit auch eher in einem Dämmerzustand verbracht.

      Überrascht betrat er das Deck. Sie hatten tatsächlich Waidami erreicht und lagen bereits vor Anker. Sie mussten länger unterwegs gewesen sein, als er gedacht hatte. Torek stand versonnen an der Reling und blickte auf, als wäre er von ihm angesprochen worden. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er sah verletzlich aus, ja beinahe verträumt. Doch als sein Blick auf Jess fiel, verschwand dieser Ausdruck. Stattdessen trat das verhasste Lächeln in sein Gesicht. Fragend hob er eine Augenbraue, als sein Blick an dem dunkelroten Fleck an Jess‘ linkem Hosenbein hängenblieb,