Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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er den Inhalt. Der Dolch der Thethepel lag darin, unachtsam hineingeworfen, nachdem er seinen Dienst versehen hatte. Sicher ein weiterer Grund, warum sie kamen, um ihn zu holen. Bei der Geschwindigkeit, in der sie in letzter Zeit neue Schiffe bauten, brauchten sie den Dolch, um die neuen Kapitäne mit ihnen zu verbinden. Jess nahm den Dolch und besah ihn sich genau. Die nadelfeine Spitze hatte er nun schon mehrfach zu spüren bekommen. Bei genauem Hinsehen konnte er ein feines Loch in der Spitze ausmachen, durch das die Tränen der Thethepel flossen, um die Tätowierung zu färben. Der Stein, der den Griff krönte, war immer noch tiefrot und schien mit geheimnisvollem Leben erfüllt. Für einen Augenblick überlegte er, den Dolch ebenfalls über Bord zu werfen, da die Zerstörung nur in den Höhlen der Thethepel möglich war. Doch er war sich sicher, dass er damit nichts anderes erreichen würde, als Torek und Bairani unnötig zu erzürnen. Damit riskierte er möglicherweise eine unkontrollierte Racheaktion des Sehers, die seine Männer ausbaden mussten. Also legte er den Dolch zurück in die Schublade und schloss sie wieder.

      Unschlüssig sah er durch den Raum. Ein Kribbeln kroch über seinen Rücken. Es gab nicht das Geringste, das er tun konnte.

      *

      Am nächsten Morgen lag Jess auf der Koje in seiner Kajüte und starrte in das Zwielicht, das den Raum erfüllte wie die Zweifel seinen Verstand. Nur langsam wich die Dunkelheit, als könnte sie sich nicht entscheiden, dem Tag wirklich schon den Platz zu überlassen.

      Jess lag völlig ruhig. Ein Beobachter hätte nicht erkennen können, welcher Sturm in ihm tobte.

      Was tat er hier, fragte er sich. Er lag wie ein Opferlamm da und wartete auf die Ankunft des Unvermeidlichen. Er opferte sich, nein, er opferte wesentlich mehr als nur sich selbst. Zum ersten Mal waren seine Atemzüge unkontrolliert und zitterten leicht.

      Auf Tamakas Vision hin, opferte er sein Leben, seine Hoffnung auf ein anderes Leben. Er opferte seine Männer, und was ihm am schwersten fiel, er opferte seine Liebe.

      Wieder machte er einen tiefen Atemzug, und ein Lächeln wanderte trotzig in seine Mundwinkel, als er an Lanea dachte. Sie musste so verletzt sein, weil er sie einfach zurückgelassen hatte - wieder einmal. Aber diese Verletzung würde heilen, und Lanea würde ihn vergessen.

      Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Die Ruhe war nun auch äußerlich zerstört, als er sich bei seinen finsteren Gedankengängen immer weiter verspannte und mit den Händen den hölzernen Rand seiner Koje umklammerte, als müsste er sich daran festhalten.

      Er begab sich auf unbekanntes Terrain. Freiwillig lag er hier und wartete darauf, dass die Waidami kamen, um ihn zu holen. Was würde dann mit ihm geschehen? Tamaka hatte sich wie immer unklar ausgedrückt. Das Einzige, woran er in seiner Schriftrolle keinen Zweifel gelassen hatte, war, dass Jess erst wieder für Bairani segeln musste, um irgendwann jemanden zu treffen, der für den weiteren Verlauf äußerst wichtig war. Ohne diese Person würde es ihm nicht gelingen, Bairani zu töten. Sie allein würde im rechten Augenblick das Blatt zu ihrer allen Gunsten wenden.

      Jess ballte die Fäuste und schnaubte wütend auf. Was immer das auch heißen mochte. Es blieb nur abzuwarten und zu hoffen, dass er tatsächlich so die Gelegenheit bekam, Bairani zu töten.

      Langsam schloss er die Augen und konzentrierte sich auf seine Atemzüge. Das leichte Zittern, das dabei sein Innerstes berührte wie die schnellen Flügelschläge eines Kolibris, war die Unruhe der Monsoon Treasure, und Jess erschauerte.

      Sie kommen, schrie es plötzlich in ihm, bevor die Treasure ihn einfach mit sich riss. Er war gedanklich vorbereitet, doch als er mit seinen Sinnen durch das langsam heller werdende Wasser der Bucht tauchte, um an ihrem Ende auf sechs Schiffsrümpfe zu stoßen, traf ihn der Anblick wie ein Fausthieb.

      Sie waren bereits da!

      Fünf der Schiffe schoben sich vor die Ausfahrt der Bucht und versperrten sie, während das größte der Schiffe in die Bucht hinein segelte.

      Das Krachen von Kanonen riss ihn mit der Gewalt einer Explosion plötzlich zurück in die Wirklichkeit seiner Kajüte. Schweratmend setzte er sich, nur um sofort aufzuspringen. Es war so weit.

      Von einem Moment auf den anderen überkam Jess eisige Ruhe. Das Warten, das so sehr an seinen Nerven gezerrt hatte, war vorbei. Es gab kein Zurück mehr, es war seine Entscheidung gewesen, sich den Anweisungen in der Schriftrolle zu beugen. Entschlossen rannte er aus seiner Kajüte. Als er das Deck betrat, empfing ihn bereits das erwartete Chaos.

      Während ein riesiger Viermaster drohend neben der Monsoon Treasure lag und seine Breitseite auf sie gerichtet hielt, rannten zurückgebliebene Waidami schreiend zwischen den Hütten umher und verschwanden im Dschungel. Ihre panischen Strömungen überschlugen sich förmlich, verloren sich aber schnell und spurlos im Dickicht der Insel. Rauch schwelte an Land, und einige der Hütten lagen in Trümmern, wo die Kanonenkugeln ihren verheerenden Weg zwischen sie geschlagen hatten.

      Überrascht fiel sein Blick auf die Beiboote, die mit seinen Männern zwischen Strand und Monsoon Treasure dümpelten. Die Männer widersetzten sich offen seinem Befehl. Jess runzelte unwillig die Stirn, doch er konnte sie verstehen. Es fiel ihnen schwer, tatenlos auf der Insel abzuwarten, was weiter geschehen würde. Doch trotzdem zögerten sie und starrten stattdessen unentschlossen zu ihm herüber.

      Jess wandte sich dem Viermaster zu. An dem mächtigen Bug reckte sich eine schlanke Frauengestalt in die Höhe. Ihre Haare breiteten sich über das Holz aus und rankten sich in einer wilden roten Farbe bis hinauf an die Reling und vermittelten den Eindruck, das Schiff würde in Flammen stehen. ›Thethepel‹ stand in ebenfalls roten Buchstaben auf dem Bug geschrieben.

      Es gab keinen Zweifel, sie hatten ein Schiff gebaut, das selbst die Kampfkraft der versenkten Darkness in den Schatten stellte.

      Jess ließ seinen Blick weiter wandern, bis er an einer schmächtigen Gestalt in dem grauen Gewand eines Sehers hängenblieb.

      Torek!

      Ein selbstgefälliges Lächeln stand in dem jungen Gesicht, als er Jess‘ Blick begegnete. Leidenschaftslos betrachtete er den verhassten Seher. Er hatte gewusst, dass er dem Mörder Hongs wieder gegenüberstehen würde. Und er würde ihn dafür bezahlen lassen. Doch nicht heute und nicht hier. Jess atmete beherrscht ein und aus und verfolgte regungslos, wie Torek in ein wartendes Beiboot abenterte und sich zur Treasure rudern ließ.

      Jess wartete. Er verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte den schwelenden Hass darin zu unterdrücken und blickte zu der Fallreeppforte. Die groben Gesichtszüge eines Piraten tauchten auf, der zu oft in eine Schlägerei geraten war. Die breite Nase war ein unförmiger Klumpen, der das ganze Gesicht beherrschte und die Brutalität des Mannes offen zur Schau stellte. Geschickt enterte der Pirat auf und beobachtete ihn lauernd, während er die Muskete von seiner Schulter nahm und sie auf Jess richtete. Dieser konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen, blieb aber ansonsten weiterhin regungslos auf seinem Platz. Ein weiterer Pirat erschien, der dem Beispiel seines Kameraden folgte und die Muskete augenblicklich auf Jess richtete. Erst danach betrat Torek das Deck der Treasure.

      Sorgfältig glättete er mit beiden Händen sein Gewand und sah sich provozierend langsam auf dem Schiff um. Nach einer geraumen Weile, in der keiner ein Wort sprach, setzte er sich in Bewegung. Jeder Schritt schien sorgfältig platziert. Seine Miene zeigte deutlich, dass er sich lange auf diesen Augenblick gefreut hatte und ihn tausendmal in Gedanken durchgespielt haben musste. Die Augen Toreks waren von einer unheimlichen Freude erfüllt, die sich mit dem Hohn und der Verachtung Jess gegenüber zu einem köstlichen Mahl für sein Selbstbewusstsein vereinigten. Während weitere Piraten das Schiff enterten, kam Torek auf ihn zu und blieb unmittelbar vor ihm stehen.

      »Torek«, sagte Jess knapp.

      »So sehen wir uns also schon wieder, Jess Morgan! – Ist es nicht interessant, dass wir uns erneut so unvermittelt gegenüberstehen, und es lächerlich einfach war, dich gefangen zu nehmen?« Toreks Lächeln vertiefte sich und zeigte deutlich das Fest, das sich in seinem Inneren abspielen musste. Mit einer übertriebenen Geste verschränkte er die Arme vor der mageren Brust. »Ich muss gestehen, dass ich nicht verstehen kann, warum der Name Morgan in der Karibik so gefürchtet sein soll.«

      »Dann ist mir die Frage gestattet, warum Ihr immer solch