Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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Zeichen des Auges auf ihrer Stirn trugen. Hinter ihnen trat der Oberste Seher ein. Bairani hielt seinen Kopf hoch erhoben und würdigte ihn keines Blickes. Er nahm mit andächtiger Haltung seinen Platz auf dem Thron ein und legte betont sorgsam seine Hände um die Armlehnen. Während er seine mitleidslosen Augen langsam auf Jess richtete, schritt Torek eilig herein und stellte sich mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck neben den Thron.

      »Willkommen zu Hause, mein Sohn. Ich freue mich sehr darüber, dich endlich hier begrüßen zu dürfen«, sagte Bairani mit seiner unangenehmen Stimme, in der ein lauernder Unterton lag.

      »Die Freude ist recht einseitig, fürchte ich.« Jess antwortete scheinbar gelassen. Bairani durfte seine Unruhe nicht bemerken.

      »Das glaube ich gerne.« Bairani kicherte, und sein faltiges Gesicht legte sich in noch mehr Falten. »Es ist wirklich schade, dass du so denkst. Schließlich haben wir beide uns doch mal sehr nahe gestanden, wenn man bedenkt, dass du bei mir aufgewachsen bist. – Aber ich versichere dir, dass wir uns bald wieder sehr nahe sein werden.« Die langen Finger, die gerade noch die Lehne umklammert hatten, trommelten nun in einem bedrohlichen Rhythmus gegen das Holz, während der Oberste Seher ihn lange und ausgiebig musterte.

      Unbehaglich verfolgte Jess, wie Bairani sich kurz zu Torek neigte und ihm leise etwas sagte. Torek lächelte zustimmend und der Oberste Seher griff bedächtig nach einem Amulett, das an einer Kette um seinen Hals hing. Das Amulett war aus rötlich schimmerndem Gold gefertigt und hatte die Form eines Vulkans. Auf seiner Mitte prangte das Auge der Thethepel, das einen roten Edelstein enthielt. Es musste eine Träne der Thethepel sein. Eine düstere Vorahnung streifte Jess. Es war der gleiche Stein, der sich auch am Griff des rituellen Dolches für die Verbindungen befand. Jess schluckte. Bairani umfasste das Amulett nun mit beiden Händen und fixierte ihn mit seinen leblosen Augen. Zuerst war es nur ein leichtes Ziehen, das Jess in seinem Herzen spürte. Doch dann ergoss sich glühende Hitze hinein und füllte es mit Schmerz. Jess stöhnte und bäumte sich auf. Sein Blick hing an dem Bairanis, als hielte dieser ihn fest. Anstrengung stand in dem Gesicht seines Peinigers und die offensichtliche Erregung, die ihm die Qualen von Jess bereitete.

      Jess‘ Blick verschleierte sich, und er schloss die Augen. Die Hitze trat aus seinem Herzen und ergoss sich in seine Adern, bildete ein Netz, das ihn fesselte und sich langsam und unaufhaltsam in ihm zusammenzog. Der Schmerz war überall. Jess brach der Schweiß aus. Seine Muskeln verkrampften sich in dem vergeblichen Versuch, der Qual zu entkommen. Plötzlich änderte sich etwas. Das Netz lockerte sich ein wenig, und der Schmerz ließ nach. Doch gleichzeitig mischte sich etwas anderes in das Feuer, das permanent durch seine Adern rann. Jess konnte es nicht fassen, es schlängelte sich durch seinen Körper und griff nach seinem Verstand. Entsetzen packte ihn, als er darin Bairani erkannte, und drängte den Schmerz in den Hintergrund. Bairani war in seinem Kopf und wickelte sich um seinen Willen wie der Leib einer Schlange. Jess schrie wütend auf. Verzweifelt konzentrierte er sich und versuchte, seinen Willen vor dem Zugriff zu schützen. Er schüttelte den Kopf, als könnte er so Bairani hinauswerfen. Von einem Augenblick auf den anderen zog sich das Gefühl zurück. Jess taumelte und registrierte noch, dass Bairani bewusstlos auf dem Boden lag, bevor er selbst zusammenbrach.

      *

      Nachdenklich sah Torek den beiden Kriegern nach, die den bewusstlosen Jess hinausschleiften. Das war der dritte vergebliche Versuch Bairanis gewesen, den Willen des Piraten zu übernehmen. Schweratmend lag der Oberste Seher in seinem Thron. Zusammengesackt und bleich, der Kampf mit dem Willen Morgans verlangte seinem Körper mehr ab, als er zu geben in der Lage war. Torek verspürte Genugtuung bei dem Anblick. Bairani hatte ihm bereits vor Wochen berichtet, dass er in einer Schriftrolle das Geheimnis entdeckt hatte, wie man den Dolch der Thethepel manipulieren konnte. Wenn man den diesen mit den Tränen der Thethepel und dem Blut eines Sehers auflud, stellte man bei der zeremoniellen Tätowierung mehr als nur eine Verbindung zwischen Kapitän und Schiff her. Das Amulett war mit der gleichen Mixtur aufgeladen worden und ermöglichte seinem Träger den Zugriff auf den Willen des Kapitäns. Eine erfreuliche Waffe in den falschen Händen, wie Torek fand. Bairani war zu schwach, um diese Verbindung wirklich nutzen zu können. Morgan war längst an den Grenzen seiner körperlichen und geistigen Verfassung angelangt und trotzdem stemmte er sich erfolgreich gegen den Zugriff. Das Ganze konnte noch ewig so weiter gehen. Es sei denn, er überzeugte Bairani, ihm das Amulett zu überlassen. Dieser schien jedoch davon überzeugt zu sein, dass er ihn besser nicht an all seinen Plänen teilhaben ließ.

      Ein Stöhnen kam über die schlaffen Lippen des älteren Sehers. Torek lächelte abfällig. Bairani hatte ihn unterschätzt. Mit seinem Misstrauen ihm gegenüber hatte er ihn nur wütend gemacht.

      Langsam öffnete der Oberste Seher seine Augen und stützte sich auf den Armlehnen in die Höhe.

      »Wie geht es Euch, Oberster Seher?«, fragte Torek und bemühte sich, seiner Stimme einen sorgenvollen Klang zu geben.

      »Wo ist Morgan?«, entgegnete dieser und ignorierte damit die Frage.

      »Die Krieger bringen ihn wieder in den Kerker.«

      »Nein. Sie sollen ihn wieder hierher bringen. Ich war diesmal kurz davor, ihn zu überwältigen.« Bairani sah ihn finster an. »Ich werde einen weiteren Versuch machen.«

      »Verzeiht, aber ich denke, Ihr seid bereits zu sehr erschöpft. Wenn Ihr jetzt zu viel wagt, erleidet Ihr womöglich körperlichen Schaden. Wir können es uns nicht leisten, Euch zu verlieren.«

      Bairani lehnte seinen Kopf mit geschlossenen Augen an die Lehne in seinem Rücken, als müsste er die Worte überdenken.

      »Morgan ist zu stark. Er nutzt die gleiche Zeit, die Ihr benötigt, um Euch zu erholen, um seine Kräfte zu sammeln. Glaubt mir, ich habe gesehen, dass es nur einen Weg gibt, ihn zu übermannen.«

      Bairanis Augen öffneten sich wieder und blickten kalt auf Torek.

      »Was hast du gesehen?«

      Torek zögerte kurz, obwohl er wusste, dass Bairani seinen Köder geschluckt hatte. Er wusste, dass der ältere Mann nicht mehr so deutliche Visionen wie früher hatte. Mehr und mehr verließ er sich auf die Visionen, die er von Torek erhielt. Noch vor wenigen Monaten hätte er ihm nichts vorspielen können. Zu gut erinnerte er sich an den Versuch, ihn anzulügen, um einen der Schiffsbaumeister für beleidigendes Verhalten zu bestrafen. Damals hatte ihn Bairani mit Leichtigkeit durchschaut. Das war inzwischen anders geworden. Seine Zeit als Oberster Seher neigte sich dem Ende zu.

      »Wir benötigen ein weiteres Amulett, um von zwei Seiten anzugreifen und seinen Willen zu brechen.«

      Die blassen Augen musterten ihn ausgiebig, als suchten sie nach einem Hinweis auf Ehrlichkeit. Torek wusste, dass Bairani nicht bereit war, das Amulett aus der Hand zu geben. Es hätte sein Misstrauen nur gesteigert, wenn er dies vorgeschlagen hätte.

      »Für Morgan benötigen wir einen Seher, der ihn begleitet und dafür sorgt, dass er auch tut, was wir von ihm wollen. Das könnt unmöglich Ihr selbst übernehmen. Waidami braucht Eure Führung hier.«

      Die Worte tropften wie Gift in die Höhle und taten ihre Wirkung. Ein Beweis mehr, dass Bairani langsam zu alt wurde. Bedächtig glitt seine Hand an das Amulett und umfasste es, wie um sich versichern zu müssen, dass es noch an seinem Platz hing.

      »Deine Vision trügt. Es ist nicht möglich, ein weiteres Amulett herzustellen«, sagte er gedehnt. »Dies ist nur möglich, solange die Verbindungszeremonie noch nicht durchgeführt ist.«

      Torek zog bedauernd die Schultern zusammen und runzelte besorgt die Stirn. »Das bedeutet, dass Ihr Euch ständig in der Gegenwart Morgans aufhalten werdet. Ihr werdet sorgfältig darauf achten müssen, ihn stets unter Kontrolle zu halten. Der Pirat will nichts anderes als Euch tot sehen!«

      Bairani zuckte unmerklich zusammen, doch Torek tat, als hätte er es nicht bemerkt. Der Oberste Seher fürchtete sich vor dem einen möglichen Ende der Vision, in der Morgan ihn unter dem steinernen Torbogen tötete. »Dann werde ich Morgan erneut rufen lassen, wenn Ihr einen weiteren Versuch wagen wollt?«

      Bairani betrachtete ihn regungslos. »Nein«, sagte er langsam und setzte sich aufrecht in den Thron. »Behalte ihn ein paar Tage im Kerker, während ich mich erhole. Jede Nacht an Land wird ihn zusätzlich