Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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hatte keine Wahl …«

      Seine Berührung war angenehm tröstlich, als er seine Hände um ihre schloss und sie aus seinen warmen, braunen Augen ansah.

      »Es tut mir leid, Lanea.« Die Stimme des Gouverneurs legte sich wie ein weicher Verband über ihre frische Wunde und milderte den Schmerz, der dennoch da war und pochte wie bei einer Entzündung. »Jess musste gehen, und er musste Euch zurücklassen. Unmöglich kann er Euch dem aussetzen, mit dem er jetzt rechnen muss. Eins muss ich Eurem Vater lassen, Lanea, er hat sehr geschickt seine Worte gewählt und Jess damit in eine Ecke gedrängt.« Sanft, aber bestimmt, führte er Lanea zu der Sitzgruppe vor dem Kamin und deutete ihr, sich zu setzen. »Ich hatte ja bisher immer so meine Zweifel an diesen Visionen, aber es entbehrt jeder logischen Erklärung, dass Euer Vater von den Überfällen bereits wusste. – Ich gebe es ungern zu, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass seine Visionen anscheinend doch erschreckend zutreffend sind.« Tirado rieb sich nachdenklich über das Kinn und richtete seinen Blick aus dem Fenster. »Ihr seid nicht die Einzige, die Jess zurückgelassen hat.« Er nickte dem Diener zu, der unauffällig eingetreten war und jetzt sofort wieder durch die Tür verschwand.

      »Wer ist noch …« Das erneute Öffnen der Tür unterbrach Lanea, und sie sah sich überrascht um. »Nein!«, rief sie und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

      »Doch!« Cale nickte zynisch, während er auf sie zukam. Seine Haltung zeugte von unterdrückter Wut und war so untypisch für den sonst so gelassenen Mann. »Jess hat mich eigenhändig über Bord geworfen, als ich mich geweigert habe, seinem unsinnigen Plan blind zu folgen.«

      *

      Tirado deutete auf den Platz neben Lanea. Cale setzte sich dankbar in den weichen Sessel, und Lanea ergriff stumm seine Hand. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet. Jess hatte Cale über Bord geworfen? Sie konnte es nicht glauben, aber seine dunklen Haare schimmerten noch feucht, und er trug Kleidung, die sie nicht kannte.

      »Lanea, wäret Ihr ein weiteres Mal so freundlich, das Schreiben Eures Vaters vorzulesen?«

      Lanea nickte Tirado langsam zu und nahm das Pergament entgegen, das er ihr reichte.

      »Ein Schreiben Tamakas?« Cale sah sie verwundert an.

      Zögernd nickte sie erneut. Erst jetzt fiel ihr auf, wie erschöpft Cale wirkte, und sie fragte sich, wie weit er hatte schwimmen müssen. Jess schien völlig unberechenbar geworden zu sein. Was mochte bloß in ihm vorgehen?

      Erneut las sie den Text mit leiser und tonloser Stimme vor, doch diesmal ließ sie die Bedeutung der Worte nicht in ihr Bewusstsein dringen. Als sie endete, rang sie nach Atem wie nach einer großen Anstrengung.

      Tirado musterte Cale, der Lanea anstarrte und immer wieder den Kopf schüttelte.

      »Ich kann es nicht glauben.« Cale drückte Laneas Hand.

      »Und doch hat die Vergangenheit gezeigt, dass diese Visionen ernst zu nehmen sind. – Die Frage ist, wie leisten wir unseren Beitrag dazu?«

      »Ich weiß nicht, ob ich bereit dazu bin, einen Beitrag zu leisten. Jess hat sehr deutlich gezeigt, dass er kein Interesse an meiner Hilfe hat.« Cale schloss verbittert und verschränkte die Arme vor der Brust. Lanea betrachtete ihn erstaunt. Er wirkte wie ein beleidigtes Kind, das die anderen beim Spielen nicht dabei haben wollten. Sie fühlte sich ähnlich. Jetzt, in diesem Augenblick wollte sie nichts anderes als nur fort. Weit fort von diesem Ort, an dem sie sich dummerweise zuerst sicher und glücklich gefühlt hatte; weit fort vom Meer, das trotz seiner unendlichen Möglichkeiten doch Schuld an all ihrer Qual hatte. Das Meer, die Schiffe und das Land, das es zu erobern und zu besitzen galt.

      Tirado nickte langsam. »Ich verstehe Eure Entscheidung, Señor Stewart. Bedauerlicherweise steht mir diese Freiheit nicht zu. Ich bin für diesen Teil der Neuen Welt verantwortlich und kann nicht zulassen, dass die Waidami das Volk tyrannisieren und sich das Vermögen aneignen, das dem spanischen König zusteht.« Der Gouverneur betrachtete nachdenklich Lanea. Sie saß wie erstarrt in dem Sessel und umklammerte immer noch das Schreiben. Gedankenverloren strich sie über die geliebte Handschrift. »Ich musste Jess versprechen, für Euch Sorge zu tragen, Lanea. Lasst mich Euch und Señor Stewart ein Angebot machen, bei dem es Euch an nichts mangeln wird. Ich wüsste einen Ort, an dem die Waidami keine Bedrohung darstellen sollten. Das Meer ist beinahe einen Tagesritt entfernt.«

      Lanea blinzelte ihn an. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Tirado lächelte verständnisvoll und wandte sich Cale zu: »Ich besitze eine Zuckerrohr-Plantage auf einer Insel, deren Verwalter gestorben ist. Ein Posten, von dem ich überzeugt bin, dass Ihr ihn zu meiner vollsten Zufriedenheit ausfüllen würdet. Dort ist genug Platz für Euch und Lanea; solange es Euch beliebt, soll es Euch ein Zuhause sein.«

      »Ich weiß nicht, ob ich darüber in diesem Moment eine Entscheidung treffen kann.« Zweifelnd betrachtete Cale den Gouverneur.

      »Nun, betrachtet es als eine Möglichkeit, fernab von den Ereignissen Eure Gedanken in Ruhe zu klären. Ihr könntet ungestört Eure weitere Vorgehensweise überdenken. Und wenn Ihr beschließt zu gehen, wird Euch niemand im Weg stehen.«

      Cale wiegte den Kopf nachdenklich hin und her und wechselte einen langen Blick mit Lanea. Dann stand er auf, reichte Tirado die Rechte, die dieser ergriff. »Ihr seid ein großzügiger Mann, Señor Gouverneur, und ich verstehe nun, warum Jess von Euch als einen Freund gesprochen hat. Ich werde Euer Angebot mit Dank annehmen.«

      »Mein Angebot ist nicht so uneigennützig wie es scheint. Ihr tut mir einen Gefallen, wenn Ihr den freien Posten übernehmt. Ein Verwalter ist dringend notwendig. Mir mangelt es an Zeit, mich selbst darum zu kümmern.« Tirado wandte sich wieder Lanea zu: »Was ist mit Euch?«

      »Es gibt nichts, was mich hier noch hält.« Lanea zögerte nicht. Sie wollte nur fort von hier; fort von den Erinnerungen und einen Ort finden, der sie auf andere Gedanken bringen würde. »Ich bin erleichtert, dass Ihr mir eine derartige Zuflucht bietet. Wie kann ich Euch jemals dafür danken?«

      »Ihr schuldet mir keinen Dank. Ich gab mein Wort, Lanea. Es bindet mich, solange ich lebe und in der Lage bin, es zu erfüllen. Wenn Ihr es wünscht, wird ein Schiff bereits in den nächsten Tagen mit Euch aufbrechen.«

      Lanea sah zu Cale hinüber, der ihrem Blick begegnete und dann nickte. »Gerne«, antwortete Lanea und reichte Tirado nun auch die Hand. Sanft umschloss er ihre Finger und beugte sich galant darüber, um einen Kuss anzudeuten. Sie genoss die Berührung und zog die Hand auch nicht fort, als er sie nicht aus seinem Griff entließ. Es lag so viel Trost darin, dass es ihr beinahe die Stimme raubte. »Was werdet Ihr jetzt unternehmen?«, fragte sie dennoch.

      »Ich werde unverzüglich Kundschafter aussenden. – Rodriguez!« Tirado ging mit schnellen Schritten zu dem Schreibtisch, der in einer Ecke des Raumes stand. Unauffällig öffnete sich die Tür und der Diener trat ein. »Ihr wünscht, Señor Gouverneur?«

      »Ruft einen Boten. Ich habe dringende Befehle für Capitan Mendez und Capitan Fernandez.«

      »Jawohl.« Rodriguez verbeugte sich und zog sich zurück.

      Tirado zog einen Bogen Pergament aus einer Schublade, tauchte den Federkiel in das bereitstehende Tintenfass und begann zu schreiben.

      »Frederico Mendez ist der Kapitän der Neptuno. Er ist einer meiner zuverlässigsten Männer. Er wird dem spanischen Hof eine Nachricht überbringen, damit wir von dort möglichst schnell mit Verstärkung rechnen können.« Die Feder tanzte eilig über das Pergament, stoppte aber plötzlich. Nachdenklich sah Tirado auf Lanea und Cale. »Capitan Fernandez kennt Ihr bereits, Lanea. Er wird Euch und Señor Stewart sicher nach Kuba bringen.«

      Ein Schiff würde sie SICHER nach Kuba bringen! Erst jetzt bemerkte Lanea, wie unbeteiligt sie die letzten Minuten hier gesessen hatte. Doch dieser Satz rüttelte sie auf. Die vertraute Monsoon Treasure gefährdete von nun an ihre Sicherheit. Die Monsoon Treasure und die Männer darauf waren jetzt der Feind. Der Gedanke war nur schwer zu ertragen. Müde erhob sie sich. Sie wollte nur noch alleine sein. Augenblicklich standen auch Cale und Tirado auf.

      »Ich möchte mich zurückziehen, Señor Tirado, bitte.«

      »Selbstverständlich, Lanea.« Tirado trat um den Tisch