Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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wiedersehen würden. Sein Hass auf die Manipulation von Menschen, die Tamakas Visionen dienlich waren, war zu groß gewesen. Und doch folgte er ihm nun, auf ein paar Worte hin, wie ein geduldiges Opferlamm, das nichts anderes verdiente, als am Ende vom Löwen gefressen zu werden.

      Versonnen blickte er den Gang entlang, an dessen Ende der Raum lag, den man ihm und Lanea zugewiesen hatte. Jess rollte die Schriftrolle auseinander und las ein weiteres Mal die Worte Tamakas, die mit Sorgfalt aufgezeichnet worden waren und sich mit eben der gleichen Sorgfalt in sein Leben fraßen. Der Seher hatte genau gewusst, wie er reagieren würde. So, wie er alles gewusst hatte. Jess knirschte ärgerlich mit den Zähnen und ging weiter. Es hatte keinen Sinn, es weiter hinauszuzögern. Entschlossen, aber vorsichtig öffnete er die Tür. In dem Raum herrschte fast vollständige Dunkelheit. Eine einzelne Kerze brannte noch neben dem Bett und warf ihren warmen Lichtschein auf Lanea, die tief und fest schlief. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, und ihre friedvolle Strömung erfüllte den Raum.

      Jess trat neben das Bett, dessen schwere Vorhänge ordentlich zusammengenommen an die vier Bettpfosten gebunden waren. Lange stand er so da und betrachtete wieder einmal ihre gleichmäßigen Gesichtszüge. Wie immer überkam ihn das starke Verlangen, sie berühren zu müssen, und er hob seine Hand. Jess spürte bereits ihre Wärme, so nah war er ihr. Doch dann verharrte er. Gequält stöhnte er auf und zuckte zusammen, als das Geräusch ungewollt laut durch die Dunkelheit schwang. Die Unruhe über das soeben Gelesene machte ihn wahnsinnig. Er würde ihr so gerne davon berichten, doch das war nicht möglich. Jess atmete tief ein und sah zu seiner eigenen Überraschung, dass seine Hand leicht zitterte, als er sie wieder zurückzog.

      So kurz nur, dachte er bitter, und Verzweiflung hüllte ihn ein. Er konnte nicht länger hier stehen, mit dem Verlangen ihr so nahe zu sein und doch zu wissen, dass sich ihre Wege trennen würden; trennen mussten. Entschlossen wandte er sich ab und trat auf den kleinen Balkon, der an das Zimmer grenzte. Tief atmete er die kühle Nachtluft ein, die das Meer über die Stadt sandte, und schloss die Augen. Er wünschte, dass er sich nicht so sehr darauf versteift hätte, die Monsoon Treasure zurückzubekommen. Sie alle hatten für ihn so viel gegeben und riskiert. Menschen, Freunde waren gestorben, damit er hier stehen konnte. Und jetzt war er dazu gezwungen, sie zu verraten …

      Eine Änderung in Laneas Strömungen ließ ihn seine Gedanken unterbrechen.

      Sie ist wach, dachte er mit einer Spur von Entsetzen, und griff nach dem schmiedeeisernen Geländer, um sich daran festzuklammern.

      »Jess?«

      Bei dem Klang ihrer verschlafenen Stimme richteten sich seine Nackenhaare auf. Ihre Ahnungslosigkeit bedrohte ihn auf eine Weise, dass er sich gezwungen fühlte, in Abwehrhaltung zu gehen. Vielleicht sollte er die Nacht besser auf der Treasure verbringen. Vielleicht war es besser, sich jetzt sofort von ihr zurückzuziehen, um ihrer beider Qual nicht noch zu vergrößern.

      »Jess?«, wiederholte sie leise. Das leichte Rascheln der Bettdecke verriet ihm, dass sie aufgestanden war und sich ihm zögernd näherte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.

      »Nein!« Jess schüttelte den Kopf, bemüht seiner Stimme einen normalen Klang zu geben. »Ich kann nur nicht wirklich an Land schlafen, wie du weißt.«

      »Hm, wir müssen ja nicht schlafen.« Ein verheißungsvolles Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie neben ihn trat und er sie ansah. Ein Stich durchfuhr sein Herz. Etwas in ihm zerriss. Der Gedanke daran, dieses Gesicht nicht mehr wiedersehen zu können, raubte ihm für einen Moment die Stimme. Er begehrte sie so sehr, dass er seine Hände noch fester um das Geländer klammerte, um sie nicht an sich zu reißen. Lanea hatte sich nachlässig in das dünne Betttuch gewickelt und wirkte so verletzlich.

      Jess stöhnte innerlich. Er konnte sie nicht verlassen, nicht heute Nacht. Er würde jeden Augenblick mit ihr auskosten und hoffen, dass ihm das die Stärke verlieh, nicht umzudrehen und vor dem wegzulaufen, was vor ihm lag.

      Lanea trat näher an ihn heran und umarmte ihn, dabei rutschte das Tuch von ihren Schultern. Jess erschauerte. Es hatte keinen Sinn, er konnte sich nicht gegen sie wehren. Voll Begierde griff er mit beiden Händen nach ihrem Gesicht und senkte seine Lippen auf ihren lächelnden Mund, als könnte er nur dort Heilung für seinen Schmerz finden.

      Lanea seufzte und schmiegte sich an ihn, während Jess seine Lippen an ihrem Hals hinunter wandern ließ.

      »Keine Dämonen heute Nacht«, flüstere er rau und hob sie auf seine Arme, um sie zurück in das Zimmer zu tragen.

      *

      Als Jess Stunden später die Augen aufschlug, blinzelte er überrascht. Über sich erkannte er einen schweren, nachtblauen Betthimmel und für einen Moment konnte er nicht glauben, was er sah. Das war zweifellos das Bett aus dem Gemach, das er und Lanea im Palast für ihren Aufenthalt zugewiesen bekommen hatten. Er war an Land und hatte geschlafen! Eine Nacht an Land, voller Schlaf und ohne böse Dämonen!

      Langsam drehte er seinen Kopf auf die Seite. Neben ihm breitete sich das rote Gewirr von Laneas Locken aus und verdeckte die Sicht auf sie. Sanft pustete er in ihr Haar. Vereinzelte Strähnen erhoben sich in dem warmen Strom, bevor sie federgleich auf das Kissen zurücksanken. Jess lächelte unbewusst. Es musste an ihr liegen. Sie strahlte so viel Friedlichkeit aus, dass die Dämonen seiner Taten an ihr nicht vorbei kamen. Sein Schrecken war nicht ihr Schrecken, und sie musste mit ihrer Unverdorbenheit eine Art Schutzwall um ihn gebildet haben.

      Jess seufzte leise und richtete seinen Blick auf die offene Balkontür. Der Morgen graute bereits. Die Sonne warf ihre milden Strahlen in das Zimmer und brachte einen neuen Tag mit sich, der keine Hoffnung in sich trug. Mit einem Schlag war das dumpfe Gefühl wieder da, mit dem er gestern Nacht den Raum betreten hatte. Er schluckte hart und setzte sich vorsichtig auf. Leise schlug er die Decke zurück und achtete sorgfältig darauf, Lanea durch seine Bewegungen nicht zu stören. Sein Herz schlug heftig, als er sich erhob, seine Kleidung nahm und sich eilig ankleidete. Er wollte nur noch fort von hier und konnte doch nicht den Blick von Laneas Körper wenden, der sich entspannt unter der dünnen Decke abzeichnete. Jess schlüpfte in seine Stiefel, sein Herz hämmerte inzwischen in seiner Brust, als hätte er einen anstrengenden Lauf hinter sich. Dann band er sich mit gehetzten Bewegungen sein Schwert um und dachte nur daran, so schnell wie möglich aus Laneas Gegenwart zu flüchten. Trotzdem trat er ein letztes Mal an ihr Bett und warf einen sehnsüchtigen Blick auf sie.

      »Ich liebe dich«, flüsterte er, und seine Stimme kam ihm seltsam tonlos vor.

      Jess ballte die Hände zu Fäusten, um sie nicht doch noch nach ihr auszustrecken. Er konnte ihren Anblick kaum ertragen, in dem Wissen, dass er sie hier zurückließ, ohne ein Wort und für immer.

      Entschlossen wandte er sich ab und ging auf die Tür zu. Er fühlte sich steif und musste sich eisern zu jedem Schritt zwingen. Tief atmete er ein, als seine Hand nach der Tür griff und sie öffnete. Der Wunsch in ihm war übermächtig, einfach umzudrehen, zu ihr zu gehen und sie zu wecken. Es brauchte nur ein einziges Wort von ihr, und er würde nicht die Kraft haben, zu gehen.

      Halt mich zurück, dachte er verzweifelt und schritt dennoch hinaus auf den schwach beleuchteten Gang mit der schrecklichen Gewissheit, das Wertvollste in seinem Leben in diesem Raum einfach so zurückzulassen.

      Ein einzelner Diener saß auf einem Hocker neben der Tür und blinzelte ihn überrascht an. Auf seinen Augen saß noch der trübe Schleier, den der Schlaf darübergelegt hatte. Schuldbewusst sprang der dicke Mann auf und zupfte seine schlecht sitzende Jacke zurecht.

      »Verzeiht, Señor! Habt Ihr einen Wunsch? Ich bitte um Entschuldigung für meine Unachtsamkeit, aber ich habe Euch nicht rufen hören.«

      Als ob du mich im Schlaf gehört hättest, dachte Jess leicht verächtlich. Die Stimme des jungen Mannes hatte beinahe weinerlich geklungen, als fürchtete er eine Strafe. Jess schüttelte den Kopf, und augenblicklich entspannte sich das rundliche Gesicht.

      »Nein, ich habe nicht nach Euch gerufen. Ich wollte lediglich an die frische Luft«, erwiderte Jess und ging an dem Diener vorbei, der sich schulterzuckend wieder auf seinen Stuhl fallen ließ.

      Jess ging, ohne einen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden, den Gang hinunter. Der dicke Teppich, der über die gesamte Länge des Ganges