Philipp Döhrer

The Racing Flower Pilgrim


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Vielleicht hat mein Unterbewusstsein meinem Körper gesagt: Alter, wenn du nicht langsam mal was machst, nicht endlich irgendwas in deinem Leben änderst, dann hau ich dich halt einfach um und du läufst nie wieder.

      Das tat ich dann auch. Ich hörte hin. Ich brach das Studium ab und machte einen klaren Schnitt. Ich bewarb mich in der heimatlichen Umgebung. Tschüss Mainz, tschüss Studentenleben. Zeit für Neues. Zeit für eine Lehre. Zeit für eine abgeschlossene Ausbildung. Mit 28 Jahren. Ist doch kein Problem. Irgendwas, wo ich mit Menschen in Kontakt komme. Einer, der fast Lehrer wurde, muss halt einfach reden. Reden. Reden. Hotelfachmann? Na, das klingt doch gut. Und los.

      Und es ging los. Mein verkorkster Lebenslauf war wohl kein Hindernis. Ich bekam die erwünschte Stelle und fühlte mich sofort sehr wohl in diesem neuen Leben. Es lief. Irgendwann in diesem neuen Lebensabschnitt wurde es noch schöner. Ich traf auf eine neue Kollegin. Eine unfassbar tolle Frau. Eine, wie ich sie mir nicht mal hätte vorstellen können, wenn ich jede einzelne Hirnzelle benutzt hätte. Da war sie. Einfach so. Es war der Hammer. Sie war der Hammer. Niemals hätte ich so etwas erwartet. Geschweige denn geglaubt, dass mir ein solcher Zufall einfach über den Weg läuft. An so etwas wie ein sofortiges Verständnis untereinander und eine sofortige Verbundenheit im Geiste, hatte ich nie geglaubt, das hatte ich mir nie zu erträumen gewagt. Und plötzlich war all das da. Ich neige nicht zu übertriebenem Kitsch, aber meine Fresse, das passte vom ersten Moment an, wie die Locken auf den Frosch, wo auch immer der die hat. Betonung auf passte. Etwas über zwei Jahre lief es besser, als ich es je kannte. Ein gemeinsames Denken und Fühlen, gemeinsame Reisen und Unternehmungen, gemeinsame Zukunftsplanung. Es war alles da und es war schlicht und einfach perfekt. Es war nicht die längste Beziehung meines Lebens, aber es war einfach die beste. Genau das war es. So hatte ich mir das immer vorgestellt und mir gewünscht. Bis die Realität kam.

      Und nun, ihr bemitleidenswerten Leser dieser verschwurbelten Zeilen, wisst ihr zwei Dinge:

      Erstens: Ich neige zu Ausschweifungen, wenn ich schreibe.

      Zweitens: Ja, genau das meinte ich. Genau diese Frau, diese Baumeisterin, hat nun das Gebilde zerstört. Und ich weiß nicht, warum. Erklärungen ihrerseits hin oder her. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe sie nicht.

      Nun sitze ich hier. Mit einem Nervenschaden durch zu viel Nachdenken. Mit einem riesigen Loch im Leben. Mit Wiederholungen ein und derselben Sache am laufenden Band. Was mache ich jetzt, um das alles irgendwie zu verarbeiten? Eventuell sogar, um das alles zu vergessen? Das Bad im Selbstmitleid muss langsam enden. Es duftet nicht gerade gut. Irgendwas muss ich tun.

      Hallo Hirn. Da ist er wieder. Der Gedanke. Das resistente Bakterium. Du hast Recht. Ich mache es.

      JA, VERDAMMT. JETZT. Genau jetzt werde ich endlich diesen Weg gehen, den ich seit Jahren gehen will.

      Der Jakobsweg ruft. Genau jetzt muss es einfach sein.

      Warum denn eigentlich nicht?

       Noch immer der 23.07.2019 00:21 Uhr

      Der Entschluss ist gefallen. Ich muss es jetzt einfach tun. Ich muss jetzt, noch in diesem Jahr, so schnell wie möglich den Jakobsweg laufen. Bis ans Ende der Welt. Darüber hinaus zu gehen, lass ich lieber.

      Ich nehme mein Handy in die Hand. In meine zitternde Hand. Ich schreibe in diesem Moment zuerst Opa. Irgendwie denke ich, dass er es als Erster wissen sollte. Dann schreibe ich meiner Kollegin, die für die Dienstpläne der Arbeit verantwortlich ist. Direkt morgen in aller Früh werde ich meinem Chef schreiben. Die Spritzen, die ich wegen den verdammten Nerven in meinen Nacken gejagt bekommen habe, machen eine direkte mündliche Kommunikation sowieso grad ziemlich unmöglich. Beziehungsweise belustigend für diejenigen am anderen Ende der Leitung. Noch zusätzlich ist es ja im Moment mitten in der Nacht. Für die meisten Menschen. Aber sie sollen es ja wenigstens schon mal wissen.

      Denn ich werde es definitiv tun, komme was wolle. Einige angespannte Tage werden folgen. Mit Sicherheit. Irgendwie krieg ich das hin. Mal sehen, was passiert.

       31.07.2019 20:05 Uhr

      So. Nun sitze ich wieder. Draußen im Hof. Frische Luft. Soll angeblich ganz gut sein. Eine gute Woche ist es her, dass ich entschieden habe, dann mal weg zu sein.

      Was soll ich sagen? Die Welle des Zuspruchs, die ich von Anfang an bekam, war der Wahnsinn. Erst waren es nur Wenige, die meinen Entschluss kannten, die mich aber sofort unterstützten. Als ich dann alles geregelt und einem größeren Kreis anvertraut hatte, hörte ich nicht ein einziges schlechtes Wort darüber. Niemand sagte: „Spinnst du?“ Mit negativen Reaktionen hatte ich nicht wirklich gerechnet, aber diese Zustimmungswelle hat mich dann doch ein wenig umgehauen.

      Zuerst ist natürlich Opa zu nennen. Noch am Tag der ersten Info meinerseits begann er, seine Schränke zu durchforsten. Wahrscheinlich schon direkt nachts. In Rekordzeit hatte er seine noch vorhandene Ausrüstung von 2014 aus jeder Ecke gekramt und alles für mich zur Ansicht bereitgelegt. Den wichtigen Rucksack, Mikrofaser-Kleidung, Taschenmesser, Wäscheklammern, eine umfassende Formel für die Zeit, seine alten Aufzeichnungen, Reiseführer, die Bundeslade, Bauchtasche, Brusttasche, ein Stück Wäscheleine, Stift und Block zum Schreiben für unterwegs, das Bernsteinzimmer, ein Sonnenkäppi und Weisheit. Letzteres war wohl das wichtigste Utensil, welches er bereitlegte. Ein wenig Ausrüstung habe ich noch bestellt, wie einen ultraleichten Schlafsack zum Beispiel. Der Großteil war aber da und zum Abmarsch bereit.

      Was meine Arbeitsstelle für die nächsten Monate angeht: Es ist alles geregelt. Ich bekomme eine Auszeit. Eine Freistellung. Zwei Monate Zeit bekomme ich geschenkt. Ich bin so dankbar, dass mir die Worte dafür wirklich fehlen. Ich danke all meinen Vorgesetzten und Kollegen für diese einmalige Möglichkeit.

      Ich möchte so wenig wie möglich planen, aber ganz ohne geht es wohl doch nicht. Ich halte mich daher an Opas damaligen Reisebeginn, seine Vorschläge für die ersten Tage machen mehr als Sinn. Deswegen sind meine Anreise mit dem Zug, die Zwischenübernachtung auf der Anreise, die erste Übernachtung auf dem Camino, der Rückflug und die Bahnfahrt nachhause gebucht und bezahlt.

      Am 26.08.2019, um 4:32 Uhr fährt mein Zug von Eisenach ab. Zwischenstopp in Paris. Weiterfahrt bis Bayonne, an den Rand der Pyrenäen. Dort habe ich gebucht und übernachte in einem kleinen Hotel, direkt bei der Kathedrale. Am nächsten Morgen fahre ich mit dem Zug noch eine knappe Stunde bis nach Saint-Jean-Pied-de-Port, hole meinen Pilgerausweis ab und laufe los. Am ersten Tag nur acht Kilometer bis zur Herberge Refuge Orisson, wo ich auch die Übernachtung schon gebucht habe. Schließlich will ich es am ersten Tag nicht gleich übertreiben und immerhin müssen die Pyrenäen geknackt werden. Außerdem ist das Orisson ein einmaliger Ort. Aber ab da… Tja, einfach laufen. Bis ans „Ende der Welt“, ans Kap Finisterre. Was zwischen den Pyrenäen und Finisterre, auf knapp 900 Kilometern, passiert: Keine Ahnung. Wir werden sehen. Ich sollte zumindest am 15.10.2019 vom Meer zurück am Flughafen in Santiago de Compostela sein und meinen gebuchten Rückflug erwischen. Ansonsten laufe ich eben einfach weiter. Und weiter. Irgendwann bin ich eventuell wieder zuhause. Oder ertrinke. Kommt auf die Richtung an.

      Es steht unwiderruflich fest: Ich gehe den Jakobsweg. Ich habe alles zusammen.

      Ich könnte eigentlich direkt los…

      Noch 25 Tage.

       02.08.2019 17:34 Uhr

      Es wird Zeit.

      Ich muss langsam die eine Sache erledigen, die noch fehlt. Die eine Kleinigkeit. Der Rucksack steht schon fertig gepackt in der Küche. Jeden Tag grinst er mich an und wartet ungeduldig darauf, dass es endlich losgeht. Eventuell werden noch Kleinigkeiten umgepackt, aber theoretisch könnte ich ihn aufsetzen und sofort aufbrechen. Aber die eine Sache, die so wichtig ist für den Camino, fehlt eben noch. Ich brauche endlich einen Stein. Den erwähnten Stein, den ich symbolisch am Cruz de Ferro ablege.

      Ein paar Treppenstufen geht es hinauf und dort suche ich im Garten. Ein Stein ist schnell gefunden. Kurz vom Dreck befreit, abgewaschen, getrocknet und vorsichtig beschriftet. Womit? Geduld. Und erheblicher, emotionaler Anstrengung.