Philipp Döhrer

The Racing Flower Pilgrim


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Ich brauche noch einen. Für die Zukunft. Denn auch die muss ich loswerden. Zumindest die eine Möglichkeit der Zukunft, die es nun nicht mehr geben wird. Gut, dass es im Garten noch ein paar Steine gibt. Der zweite kann auch ruhig richtig deformiert und hässlich sein. Würde passen. Auch dieser ist schnell gefunden. Maulwürfe fördern echt heftiges Zeug zutage.

      Sehr gut. Erledigt und verpackt. Fühlt sich gleich besser an. Auch der Rucksack grinst noch mehr als vorher. Ich sollte ihm demnächst einen Namen geben. Dieser Begleiter für viele kommende Wochen hat das verdient.

      Da fällt mir direkt noch etwas ein. Ich habe eine riesige künstliche Blume in meiner Bude stehen. Es ist eher ein Konglomerat aus künstlichen Blumen. Ein exquisites Bouquet aus wunderschönen, künstlichen Blumen. Sauhässlich. Aber irgendwie auch wunderschön. Mit diesem schönen Strauß hängt eine Geschichte zusammen. Eine Geschichte, die nur zwei Menschen kennen. Eine Geschichte, die entsorgt werden muss. Eine Geschichte, die ich zurücklassen muss. Diese Blumen müssen auch mit. Sie müssen mit, um sie zurückzulassen. Entweder am Cruz de Ferro oder am Meer, vollkommen egal. Dafür ist noch Platz am Rucksack. Sie passen perfekt in die Seitentasche und verleihen mir mit Sicherheit ein Aussehen, das mich unübersehbar macht. Oder zum absoluten Vollidioten. Läuft.

      Jetzt ist eigentlich alles perfekt und komplett, aber ein weiterer Gedanke kommt auf und lässt mich nicht los. Schon seit einigen Jahren will ich mir eine neue Ukulele kaufen. Mein geliebtes, uraltes Saiteninstrument namens Stefan hat seine besten Jahre schon lange hinter sich. Diese Ukulele wurde schon mehrfach geflickt und hat so manch unvergessliche Party erlebt. Dementsprechend schief klingt sie auch. Stimmen ist nutzlos geworden. Sie ist spielbar und mag dem ein oder anderen unmusikalischen Gehör oder alkoholvernebeltem Ohr ein wohliges Gefühl in der Magengegend vermitteln, aber es wird Zeit für ein neues Instrument. Tut mir leid Stefan. Warum nehme ich dich nicht einfach mit und bette dich am Ende der Welt zur wohlverdienten Ruhe?

      Mit ein paar Schnüren an Ukulele und Rucksackschnallen ist die Befestigung erledigt. Den letzten Schliff bekommt mein Rucksack durch das Anbringen eines quietschenden Kopfes meiner Lieblings-Comicfigur Joker und durch etliche, kleine Anhänger von Familie, Freunden und Kollegen. Somit sieht mein Gepäckstück und damit auch ich nun endgültig aus wie der närrischste Pilger aller Zeiten.

      Also ich finde das klasse.

      Noch 23 Tage.

       07.08.2019 18:37 Uhr

      Das war ein richtig guter Tag.

      Um meinen fertig gepackten Rucksack und die Wanderschuhe zu testen, hatte ich heute eine Art Testwanderung mit einer lieben Arbeitskollegin und Freundin. Wir liefen in einem gemütlichen Schritt 11,2 Kilometer durch den Thüringer Wald. Inklusive langen Steigungen, langen Abstiegen und jeder sonst auch nur irgendwie erdenklichen Form von Straßen- und Wegeprofil. Inklusive absoluter Schwüle und sogar Regen. Es war wirklich alles dabei und es war der perfekte Test. Okay, Wüste hat gefehlt. Die Tour war sogar inklusive der Sichtung eines putzigen Feuersalamanders. Ob der mir für mein Vorhaben irgendwie weiterhilft, bleibt fraglich. Aber krass intensive Farben hatte der Kollege.

      Ohne jetzt sonderlich in Überschwang zu verfallen, aber das sitzt. Die Schuhe sind mehr als passend und eingelaufen. Wäre auch komisch, wenn nicht. Nach all den unzähligen Kilometern auf dem Rennsteig in den Jahren zuvor. Opas noch namenloser Rucksack, einmal richtig aufgesetzt und geschnürt, liegt perfekt an, drückt nicht, zwickt nicht und reibt nicht. Der Regenschutz funktioniert auch. Und mal ganz ohne Scheiß, Feuersalamander sehen echt krass aus.

      Vor ein paar Tagen bestellte ich mir ein Hemd für den Camino und freue mich nun, bei meiner Rückkehr nachhause, über dessen Ankunft. Ich weiß nicht genau, wie ich auf die Idee kam, aber irgendwie musste ich es einfach bestellen. Es ist ein kleiner Tribut an mich selbst und meine Liebe zu Filmen und Filmgeschichte. Es könnte sowas wie mein Feierabendhemd nach einem harten Wandertag werden. Egal wie, es spiegelt einen großen Teil meiner Hobbys wider, also muss es mit. Einfach so. Immerhin wiegt es auch fast nichts.

      Nun sitze ich schon wieder draußen, öffne für mich und meinen besten Kumpel ein hopfenhaltiges Kaltgetränk und schmunzle still vor mich hin. Das erste Mal seit Wochen. Das war ein richtig guter Tag.

      Noch 18 Tage.

       09.08.2019 23:25 Uhr

      Johnny Cash wusste definitiv, wovon er redet. Wovon er singt.

      Ich sitze nach wohlverdientem Feierabend wieder draußen und höre Musik. „Solitary Man“. Welch geniales Lied. Welch unfassbar wahres Lied. Für mich. Jetzt im Moment. Für andere Hörer mag es nur irgendein Lied von irgendeinem Typ sein. Einem Typ, der immer nur Schwarz trug. Kommt mir irgendwie bekannt vor.

      Ein bisschen merkwürdig ist das schon. Meine Arbeit, meinen Dienst an der Hotelrezeption zu bestreiten, während ich selbst und auch alle Kollegen wissen, dass da zuhause ein fertig gepackter Rucksack steht. Vor mir liegen laut Plan noch neun Arbeitstage und insgesamt sieben freie Tage, bis ich endlich abreise. Ich wollte ja nicht direkt nach einem Arbeitstag mitten in der Nacht gleich aufbrechen und habe mir so einen Puffer von ein paar Tagen eingeplant, bevor der Tag des Aufbruchs kommt. Aber die restlichen Arbeitstage sind äußerst komisch. Ich mag meinen Job. Sehr. Wirklich. Klar, es geht immer hoch und runter, wie bei jedem einzelnen Menschen dieser Welt. Aber im Moment fühlt er sich eben merkwürdiger an als je zuvor. Der Kontrast hat sich gesteigert. Der eine Tag geht schnell vorbei, der nächste Tag zieht sich wie ein zähes Stück zerlatschte Schuhsohle. Und an der Schuhsohle kleben Kaugummis. Viele Kaugummis. Vollkommen geschmacklose Kaugummis, die derjenige, der sie ausgespuckt hat, nur kaute, weil sie halt einfach da waren.

      Und nach wie vor, ich kann es einfach nicht abstellen, egal was ich tue, geht mir diese Frau im Kopf rum. Ich kotze mich an. Wenigstens nur im metaphorischen Sinn. Ich möchte einfach nur abschalten können. Es wäre der Wahnsinn, das hinzukriegen. Ich hoffe, ich lerne das noch irgendwann. Einfach ausblenden. Vielleicht lerne ich wenigstens, damit umzugehen, genau das nicht zu können.

      Johnny Cash wusste definitiv, wovon er redet. Wovon er singt. „Cry Cry Cry“. Welch geniales Lied. Welch unfassbar wahres Lied. Für mich. Jetzt im Moment.

      Noch 16 Tage.

       12.08.2019 00:07 Uhr

      Das war ein skurriler Tag. Also gestern. Immerhin hat heute eben erst begonnen.

      Meine Nerven sind echt ziemlich am Ende. Mein Unterbewusstsein arbeitet ununterbrochen, vollkommen egal, was ich tue. Mein Bewusstsein dummerweise auch. Beste Freunde. Diese beiden Arschgeigen.

      Es ist genau wie damals bei der Erkrankung meiner Beine. Alles wurde untersucht und durchgecheckt. Ich bin körperlich vollkommen gesund. In jeder Hinsicht. Selbst der Leber geht es prima. Wenn da nur nicht der Kopf und die Nerven wären. Die können einem Menschen aber auch alles vermiesen. Immerhin weiß ich wenigstens, dass mein Körper in jeder Hinsicht fit für den Jakobsweg ist.

      Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so dermaßen aus der Bahn geworfen werde. Niemals. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so dringend raus muss. Weg muss. Die kleinste Erwähnung der Thematik, die kleinste Erwähnung meiner Baumeisterin lässt sofort meine Hände zittern und mich in Schweiß ausbrechen. Halleluja. Das kenne ich von mir nicht. So kenne ich mich nicht. Also das mit dem Zittern. Schwitzen… na ja. Das schon.

      Die nächsten zwei Wochen müssen so schnell wie möglich vergehen. Ich sollte nicht mal ihren Namen hören. Das wäre das Beste.

      Eine meiner Kolleginnen und liebe Freundin der Rezeption hatte heute das letzte Mal mit mir zusammen Dienst und Schicht-Übergabe. Das letzte Mal, bevor sie in ihren Urlaub geht und bevor ich weg bin. Die Verabschiedung war sehr, sehr heftig für sie und mich. Die Tränen kamen auf beiden Seiten. Keine andere Chance. Das Gleiche passierte schon mit einer weiteren Kollegin, in gleicher Situation vor wenigen Tagen. Nur musste ich an diesem Tag und auch heute danach noch weiter meinen Spätdienst absolvieren. Macht nichts. Wenn ich bei einer neuen Anreise mit feuchten Augen sage:

      „Es ist so schön, sie als unsere Gäste