Philipp Döhrer

The Racing Flower Pilgrim


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Ich mach das ja wirklich.

      Schlaf war letzte Nacht nicht nur Mangelware, sondern komplett ausverkauft. Jegliche Nachlieferung ausgeschlossen. Niemals wieder. Lieferant unbekannt verzogen. Oder verstorben. Oder verschlafen.

      Unaufhaltsam rollt dieses merkwürdige Gefährt namens Zug weiter und weiter weg. Erstmal nach Frankfurt. Vertrautes Gebiet. Im Rhein-Main-Gebiet habe ich schließlich lange genug gelebt. Den ersten heroinspritzenden Junkie im Frankfurter Bahnhofsviertel habe ich schon im zarten Alter von 14 Jahren gesehen. Also alles cool. Danach geht es nach Paris. Ebenfalls vertrautes Gebiet. Bereits 2003 war ich dort, damals mit Opas Auto. Es ist auf jeden Fall eine der schönsten Städte, die ich bisher kenne. Ich freue mich drauf. Danach geht es immer weiter gen Süden.

      Ungefähr eine Stunde ist es nun her, dass mein Zug in Eisenach abfuhr. Es war emotional, merkwürdig und irgendwie surreal. Oma und Mama waren auf jeden Fall aufgeregter und nervöser als ich. Opa riss seine üblichen Sprüche und hatte extra sein Jakobsweg-Shirt angezogen. Mit den Bildern, die Oma nur am Bahnhof machte, könnte man schon ein Fotoalbum füllen.

      Ich mit Rucksack. Opa und ich mit Rucksack. Opa und Mama und ich mit Rucksack. Rucksack und ich gehen die Treppe zum Bahnsteig hoch. Rucksack und ich stehen am Bahnsteig. Rucksack und ich verabschieden sich. Rucksack fällt aufs Bahngleis und wird von einem anrauschenden ICE zertrümmert. Alle freuen sich, weil ich nun doch nicht so lange weg bin. Friede, Freude, Eiersalat.

      Tagtraum. Ich sitze im Zug. Alles prima. Der noch immer namenlose Rucksack liegt über mir in der Gepäckablage und lässt sein Gehänge baumeln. Seine Schnallen und Riemen. Die hängen und baumeln. Schön.

      Eine kleine Ungewissheit hat sich nun doch noch aufgetan. Aufgrund des unfassbar wichtigen G7-Gipfels, und da dieser in der Nachbarstadt Biarritz stattfindet, kann es sein, dass mein Zug nicht in Bayonne hält. Dort, wo ich meine Zwischenübernachtung gebucht und schon bezahlt habe. Toll. Das erfährt man dann kurz vorher per Mail. Klasse. Das Bahnticket wurde am 30.07. von mir gebucht. Die sieben größten Wirtschaftsmächte der Welt haben mit Sicherheit am 31.07. eine Telefonkonferenz abgehalten, die wie folgt ausfiel: „Wisst ihr, was tierisch cool wäre? Ende August so’n geschmeidiger Gipfel in Biarritz. Das Essen soll dort so gut sein.“

      „Ja Mann, geile Idee. Aber bis kurz vorher verraten wir es keinem einzigen Menschen. Muhaha!“ Genau so muss es gewesen sein. Blöde Wirtschaftsmächte. Mal gucken, was passiert.

       07:24 Uhr

      Zug fahren. Ich hasse es. Ich bin nicht sicher warum, aber ich hasse es. Menschen, die das gerne machen, müssen irgendeine falsche Verkabelung im Kopf haben. Oder sie sind die Nachkommen von Schaffnern und Lokführern. Oder gibt es einen Zug-Fetisch? Furchtbar. Wenigstens habe ich einen Sitzplatz. Um eine meiner Lieblingsserien zu zitieren: „Es ist ein grotesker Karneval menschlichen Elends.“

      Mittlerweile bin ich im Zug von Frankfurt nach Paris-Ost und hier ist alles vertreten, was man sich nur vorstellen kann. Geschäftsreisende, Handy-Suchtis, Touristen, Paradiesvögel, Laptop-Suchtis, Normalos, Gaffer und ein sehr großer Teil der Menschen, die meist die angenehmsten sind: Die Schlafenden. Wäre mal interessant zu wissen, was die alle über mich denken. Ich sehe total zerfleddert aus und habe einen großen Rucksack mit allerlei buntem Krimskrams sowie einer Ukulele daran. Sagt ihr es mir. Ich geselle mich derweil erstmal zu den Schlafenden und freue mich, dass ich auf der Heimreise größtenteils fliege. Denn das ist viel schneller vorbei.

      Meine Sitznachbarin scheint noch einer der Menschen zu sein, die man in diesem Gefährt überhaupt noch als einen solchen bezeichnen kann. Junge Frau, vielleicht minimal älter als ich. Keine Schönheit, aber Sinn für Humor. Bei jedem Halt amüsieren wir uns über das blanke Chaos der ein- und aussteigenden Fahrgäste. Was für ein Gewimmel. Sie hat Ahnung, fährt seit sechs Wochen jeden Montag mit dem Zug von Aschaffenburg nach Paris und weiter nach Poitiers. Es gibt dort ein Partnerwerk ihrer Firma. Freitags geht es wieder zurück. Noch vier Wochen soll sie das durchziehen. Danach reicht es ihr, länger will sie das nicht mitmachen. Na ja, ich drücke ihr die Daumen.

      Noch drei Stunden bis Paris und zu meinem geplanten Stopp an der verkohlten Notre-Dame. Ich muss dort umsteigen, denn Fernzüge durchqueren Paris nicht. Im Ostbahnhof muss ich raus und mit der U-Bahn zum Südbahnhof fahren, um dort meine Reise fortzusetzen. Die Zeit dazwischen müsste reichen, um den erwähnten Zwischenstopp durchzuziehen und die Metro zum Umsteige-Bahnhof zu erwischen. Ich nehme kurz vor dem Halt von der unbekannten Sitznachbarin noch ein paar Tipps über das Verhalten in französischen TGVs und der Pariser Metro mit. Dann verabschieden wir uns kurz und knackig und gehen ab Paris unserer Wege. Eine gute erste kleine Bekanntschaft auf dieser Reise. So kann es weitergehen.

       13:44 Uhr

      Es geht weiter gen Süden. Paris war kurz, schwül, heiß und… heiß.

      Meine Fresse. Erster Eindruck von einem der Hauptbahnhöfe von Paris nach dem Aussteigen: Wie in einem Ameisenhügel. Auf LSD. Ich kenne Paris als Stadt, aber das war schon echt eine ganz andere Hausnummer. Als ich mir ein Ticket für die Metrolinie 4 holen wollte, die zwischen meinen beiden Umsteige-Bahnhöfen verkehrt, gab es dafür zwei Automaten. Zwei. An einem Hauptbahnhof. In einer Hauptstadt. Reicht ja. Dementsprechend natürlich extrem lange Warteschlangen. Als ich mich schon gedanklich von meiner Pause an Notre-Dame verabschiedet hatte, sah ich ein paar putzige, kleine, dunkelhäutige Männlein, die einfach mitten in der Menge aus der Hand Metrotickets verkauften. Da fackelt man nicht lange. Wenn man dann noch auf die Frage: „Für welchen Bereich oder welche Strecke gilt das?“ die Antwort: „All Paris“ bekommt und der eine verbliebene Zahn im Mund des Verkäufers dabei so verführerisch funkelt, ja Leute…

      Zwei Tickets bitte, macht drei Euro, hier haste vier, Schüss. Es hat funktioniert. Die Drehkreuze gingen auf. Ein-Zahn-Jean hat mir meinen Stopp in Paris gerettet.

      Sechs Metro-Stationen und einen hitzegeschwängerten Schlag in die Fresse später stand ich vor Notre-Dame. Fast. Denn seit dem Brand im April ist sie natürlich abgesperrt. An die weltberühmte Fassade kommt man nicht ran. Aber für ein Foto reichte es. Gut, dass ich die Dame schon von 2003 kenne. Dann bemerkte ich zwei Dinge. Erstens: Scheiße, es ist echt verflucht heiß hier. Zweitens: Die Zeit reicht, ich schaffe eine Runde um die Kathedrale, um mir das Ausmaß voll klar zu machen. Und los. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die alte Dame von Paris ist vorne herum top in Schuss. Aber hintenrum…Hui, da liegt einiges im Argen. Das wird noch ein Weilchen dauern.

      Ich musste dann aber doch recht schnell wieder zur Metro. Im Gehen rief ich Notre-Dame ein wenig ironisch noch laut zu: „Ich find dich noch immer heiß, du Stück“, grüßte die altehrwürdigen Wasserspeier und ließ mich auf Quasimodos Buckel zur Metro tragen. Merci. Warum er allerdings immer: „Du bist nicht Esmeralda“ rief, wird mir wohl auf ewig ein Rätsel bleiben.

      Nun rauscht der TGV unaufhörlich weiter. Anscheinend wird es mir wohl doch vergönnt sein, in Bayonne auszusteigen. Mit Verspätung, aber immerhin. So jedenfalls interpretiere ich die Ansagen in der Bahn. Nichtsdestotrotz durchforste ich das Internet nach möglichen Alternativen abseits von Bayonne. Man will ja gewappnet sein. Manchmal. Neben mir döst mein Sitznachbar Thomas aus Rostock, den mir die Online-Sitzplatzreservierungsgötter beigesetzt haben. Auch er ist auf dem Weg nach Saint-Jean-Pied-de-Port, um den Jakobsweg zu beginnen. Allerdings fährt er noch heute bis dahin durch und startet direkt morgen in aller Früh. In 30 Tagen will er am Meer sein. Ich wünsche ihm nur das Beste. Ich bleibe bei meinem geschmeidigen Anfang. Ich hoffe nun auf eine nicht allzu späte, überhaupt mögliche Ankunft in Bayonne, eine Dusche, ein Bier, eine Knackwurst aus der Heimat und ein Bett. Ein schönes.

       20:54 Uhr

      Mit circa 40 Minuten Verspätung kam ich gegen 18:00 Uhr in Bayonne an. Gepriesen sei der G7-Gipfel. Irgendwelche Vandalen hatten wohl auf der Bahnstrecke randaliert. Wenigstens nur ein bisschen. Thomas musste umsteigen, also kurze Verabschiedung. Buen camino und vielleicht bis später. Wenn er seinen Plan durchziehen will, muss er im Prinzip rennen. Vielleicht find ich ihn zusammengebrochen irgendwo unterwegs und schleife ihn dann hinter mir her. Das kleine bisschen Gepäck krieg ich auch noch gewuppt.

      Ich