Philipp Döhrer

The Racing Flower Pilgrim


Скачать книгу

auf und sind einfach nur froh, hier zu sein. Roland war das damals bestimmt nicht so sehr.

      Auf dem letzten, richtig steilen Stück vor der Passhöhe juckt es mich wieder in den Füßen und ich ziehe das Stück Weg konsequent durch. Ja, da vorne, da muss er bald sein. Der Lepoeder-Pass. Höher geht es ja auch nicht mehr. Mittlerweile, obwohl oder gerade weil ich so hoch bin, brutzelt mir die Sonne ordentlich auf den Bürzel. Das ruft nach dem ersten Einsatz meines großen Schweißtuches. Mütze ab, Tuch auf den Schädel… Ah, tut das gut.

      Kurz darauf stehe ich auf dem Lepoeder-Pass und habe klare Sicht in alle Richtungen. Über 1300 Meter bin ich hoch. Die Pyrenäen sind geknackt. Rucksack ab und durchatmen. Unter mir liegt das Tal von Roncesvalles, dem ersten spanischen Ort auf dem Weg. Ganz klein sieht man auch schon die mächtige Klosteranlage des Dorfs. Dahinter in der Ferne erblicke ich ebenfalls schon den Ort Espinal, mein grob angedachtes Etappenziel für heute. Auch wenn ich eigentlich nicht wirklich plane, aber eine ganz geringe Orientierung für das Tagesziel, anhand Opas Etappen von damals, ist schon hilfreich. Schließlich bringt einem der beste Ort nichts, wenn er keine Betten hat.

      Kurz nach mir kommt Hanne zusammen mit Maria aus München auf der Passhöhe an. Auch sie war gestern Abend Gast im Orisson. Zusammen genießen wir Bananen, Wasser und Aussicht. Mit den Worten: „Sag mal, hast du einen Berg-Fetisch? Du bist ja hochwärts fast gerannt“, begrüßen mich Alex und Inga schwitzend und schnaufend. Keine Ahnung. Vielleicht hab ich den. So ein geiler Berg hat aber auch was an sich. Dieses Trüppchen versteht sich sehr gut und so beschließen wir, vorerst zusammen zu bleiben. Gemeinsam sinnieren wir ein wenig über das heutige Ziel. Bis zum Kloster Roncesvalles ist es nicht mehr sehr weit und es geht nur bergab. Gegen Mittag müssten wir dort sein. Nee, zu früh. Hunderte von Pilgern im Kloster zur Übernachtung. Nee, zu viel. Mein Vorschlag, bis Espinal zu gehen, erscheint auch den Mitpilgern am verlockendsten.

      Zu fünft setzen wir den Weg fort, hinab ins Tal. Inga, Alex, Hanne, Maria und ich. Nicht alle nebeneinander, aber doch nie weit voneinander entfernt. Die Klosteranlage unter uns kommt immer näher, während wir im Sonnenschein bergab durch das bunte Heidekraut marschieren. Die Vegetation der hohen Pyrenäen ist für sich schon das ein oder andere Bild wert. Fast am Fuß der Berge angekommen, führt uns der Camino in ein kühles Wäldchen und eine kleine Bachaue. So idyllisch, dass ich tanzende Feen und Faune erwarte. Eine hervorragende Abwechslung nach der prallen Sonne.

      Kurz vor Roncesvalles müssen wir Platz machen. Eine große Herde Pferde samt Treiber nimmt den an dieser Stelle ohnehin schon schmalen Camino komplett in Anspruch. Ein paar leckere Äpfel schmettern sie uns auch noch direkt vor die Füße. Muchas gracias. Der Vorschlag, in Roncesvalles statt Übernachtung wenigstens eine schöne lange Pause zu machen, wird von der Gruppe dankbar angenommen. Allerdings weist Alex den vorgeschlagenen Kaffee wie folgt ab: „Guck mal auf die Uhr. Da können wir auch gleich Bier trinken.“ Klasse Typ. Ich mag ihn schon jetzt.

      Die Mittagszeit ist kaum vorüber, als wir endgültig vor den wuchtigen Klostermauern des Augustinerklosters Roncesvalles stehen. Ein wahrhaft mächtiger Bau. Hätte auch eine gute Burg abgegeben. Der Camino führt direkt durch den Innenhof, sodass wir uns im Vorbeigehen einen Stempel des ehrwürdigen Hauses abholen können. Der zweite Stempel in meinem geheiligten Pilgerpass. Noch schwingt bei jedem neuen Stempel ein wenig Stolz mit. Durch den Torbogen gelangen wir wieder nach draußen und steuern direkt auf die örtliche Bar zu, deren Antlitz sich uns vor dem Kloster in ganzer Pracht offenbart. Der Durst treibt uns. Es ist ziemlich heiß geworden. Ein großer Tisch unter Sonnenschirmen ist noch frei, also Rucksack ab, Bier holen und einfach nur sitzen. Einfach schön.

      Lucy, die Engländerin aus dem Orisson, gesellt sich auch zu uns. Hübsche Erscheinung. Sie läuft den Camino unter anderem, weil sie Wein liebt. Kein Witz. So lautete ihre Aussage gestern Abend. Da, wo ich zwei Wasserflaschen deponiert habe, befinden sich an Lucys Rucksack seitlich immer zwei Flaschen ihres Lieblingsgetränkes Rotwein. Auch eine Idee. Mir wäre es zu schwer.

      Als Lucy weiterzieht, setzt sich Karin aus Hamburg zu uns. Sie kommt gerade mit dem Bus aus Pamplona und startet genau hier ihren Camino. Auch eine Möglichkeit. Karin ist auf jeden Fall die planloseste Person, die ich bisher kennenlernte. Sie weiß nicht mal, wie der Ort heißt, in dem sie sich gerade befindet. Irgendwie cool. Da ihr unsere Truppe auf Anhieb sympathisch erscheint, fragt sie höflich, ob sie sich uns anschließen kann. Alle verneinen das und jagen sie mit Knüppeln davon. Wir hassen andere Menschen. Was für ein Quatsch, natürlich darf sie das.

      Kurz bevor wir starten, sehe ich hinter der Bar zwei bekannte Gestalten aus einem Seitenweg kommen und zügig weitermarschieren. Unverkennbar Marion. Sieht man am Laufstil. Unverkennbar Sara. Weil eben einfach Sara. Wir alle versuchen zu rufen, aber sie sind bereits um die nächste Ecke verschwunden. Sara erzählte mir gestern, dass sie die wenigen Etappen bis Pamplona aufgrund von Marions Hüftproblemen schon komplett geplant und gebucht hat. Die Ortsnamen ihrer Reservierungen sagten mir alle absolut gar nichts. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich werde sie nicht wiedersehen.

      Genug Pause gemacht, zu sechst geht es weiter. Kurzer Fotostopp an einem Schild mit der Aufschrift Santiago 790 km. Geht ja noch. Ebenerdig verläuft der Weg neben der Straße durch einen schattigen Wald, der mich an den Rennsteig erinnert. Doch lange bleibt es nicht so. Kurz vor Burguete stoßen wir wieder auf die Hauptstraße und laufen weiter in der prallen, baskischen Nachmittagssonne. Es ist mittlerweile richtig, richtig heiß. Ich sende einen stillen Dank an meine Freundin, Kollegin und Testwanderpartnerin, die mir das große Tuch schenkte, welches ich heute Vormittag zum ersten Mal trug und das ich nun wieder aufsetze. Der perfekte Sonnenschutz und Schweißfänger.

      Alex und ich suchen im Dörfchen Burguete nach Zigaretten, aber der einzige Laden des Ortes hat natürlich gerade Siesta. No problemo, Spanien fetzt. Ich wollte ja eh weniger rauchen. Dann geht es eben erstmal weiter. Burguete ist ein wunderschönes, kleines, typisch baskisches Dörfchen. Weiße Häuschen, überall Blumenschmuck und allgemein sehr viel Grün. Und aufgrund der Siesta vollkommen ausgestorben. Aber das macht es irgendwie noch schöner.

      Vor lauter Dahinschwelgen übersehe ich fast den gelben Pfeil, der nach rechts zeigt und mich innerhalb weniger Minuten wieder in die blanke Landschaft und in die glühende Sonne katapultiert. Im Gleichschritt mit Alex geht es über kleine Bäche, vorbei an Kühen mitten auf dem Weg, einen bewaldeten Hügel steil und knackig nach oben, an dem ich den keuchenden Alex verliere und wieder hinab, während mich die ersten Häuser von Espinal bereits aus der Ferne zu sich winken. Ist gut so. Für heute reicht es.

      Am Ortseingang lasse ich mich an einem schattigen Brunnen nieder und warte auf die kurz danach eintreffenden Alex, Inga, Maria und Hanne. Karin ist verschollen. Kommt schon noch. Wir freuen uns, den Ort erreicht zu haben und nicht mehr weiter durch die Sonne laufen zu müssen. Also geht es nur noch ein kleines Stückchen weiter ins Dorf hinein, auf der Jagd nach Betten für die heutige Nacht.

      An einer sehr modernen und für die Gegend absolut untypischen Kirche biegt der Camino nach rechts ab. Der Wegweiser für die beiden Herbergen Espinals weist uns aber nach links. Na dann, auf gut Glück. Wir gehen einige hundert Meter die auch hier wie leergefegte Straße entlang, vorbei an der kleinsten Tankstelle, die ich je sah, und stehen verschwitzt, aber glücklich vor der Herberge Haizea. Das ist Baskisch. Keine Ahnung, was das heißt. Eine lustige Sprache. An einem Müllcontainer gegenüber der Unterkunft steht die Aufschrift: „Bidausiko Birziklapen Etxola“. Wir finden dank einer App heraus, dass das nichts anderes heißt als Recycling-Hütte. Wirklich eine famos lustige Sprache, dieses Baskisch. Selbst die besten Linguisten der Welt zermartern sich die Köpfe über diesen Ausnahmefall.

      Wir pfeffern unsere Rucksäcke unter das Vordach der Herberge und fragen im Inneren vorsichtig nach sechs freien Betten. Erleichtert erhalten wir ein Nicken des Wirtes, zahlen zehn Euro pro Bett und bekommen einen Stempel in unsere Pilgerausweise. Inga rennt kurz darauf zurück zur Kreuzung an der Kirche und sammelt Nachzüglerin Karin ein. Alles funktioniert fast zu perfekt. Ich hoffe, es ist nicht nur Anfängerglück. Der Wirt erklärt uns die Lage unseres Schlafsaals. Erreichbar mit Fahrstuhl. Jetzt wird es gruselig. Das ist schon fast zu viel Luxus. Wie sagte dereinst der alte Ritter zu Indiana Jones? „Eure Wahl war weise“.

      Wir