Philipp Döhrer

The Racing Flower Pilgrim


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hier war, fließt das Wasser in Strömen über ihr Gesicht. Ohne in Klischees verfallen zu wollen, aber meiner Meinung nach spiegeln die drei die typischen US-Amerikaner wieder. Aber ich mag sie. Klischees müssen nicht zwingend etwas Schlechtes sein.

      Langsam müssen wir aufpassen, dass der Bierkonsum nicht überhandnimmt. Noch ungefähr zwei Stunden bis zum Abendessen und Sara hat schon mächtig einen sitzen. Das wird noch lustig.

      Kurz vor dem Essen sind wir noch immer draußen. Die Stimmung und die Gespräche werden ausgelassener, die Kuhherde am Hang auch. Das intensive Konzert ihrer Glocken deutet auf einen ähnlich hohen Alkoholkonsum hin. Sara verfällt in einen angeheiterten irischen Dialektrausch, der es für mich immer schwieriger macht, sie noch zu verstehen. Aber klingt interessant. Unsere irisch-amerikanisch-deutsche Kombo möchte am liebsten draußen essen, aber ein leichter, abendlicher Nieselregen setzt ein. Dann eben doch rein in den Saal.

      Im Orisson bekommt man immer das Gesamtpaket. Geht nicht anders. Ein Bett, Abendessen und Frühstück. Und Gemeinschaft. An drei langen Tafeln sitzen wir gemeinsam mit allen Gästen, die heute hier übernachten. Nun harren wir der Dinge, die da kommen mögen. Für David und mich kommen zuerst die nächsten zwei Bier und dann startet das Pilgermenü mit einer leckeren Suppe. Ab dem Hauptgang, der aus Huhn und Gemüse besteht, folgt eine Flasche Rotwein nach der anderen. Auch das ist hier inklusive. Ist eine Flasche leer, steht schon die nächste da. Gut, dass ich keinen Wein trinke. Normalerweise. Schon gar nicht zum Bier. Normalerweise. Heute ist aber kaum etwas normal. Dieser Tag ist mehr als normal.

      Draußen nieselt es still und leise vor sich hin. Während einer Raucherpause genieße ich die Sicht. Der ganz schwache Regen beschert dem ohnehin schon genialen Ausblick einen mystischen Anstrich. Die Berge werden in einen transparenten Nebel eingehüllt. Unmöglich, das in einem Bild einzufangen.

      Nach dem Essen folgt die Tradition des Orisson. Aus Opas Berichten wusste ich davon. Man muss es nicht zwingend mitmachen, aber es gehört hier eben einfach irgendwie dazu. Jeder stellt sich kurz vor und erklärt, warum er aufgebrochen ist, um den Camino zu gehen. Grundsätzlich in englischer Sprache, aber auch etliche Pilger sprechen kurz in Deutsch oder Französisch über sich selbst. Vollkommen egal, wer oder ob überhaupt jemand es versteht. Das spielt keine Rolle. Die Gründe für den Camino sind so vielfältig, wie die Menschen und das Leben selbst. Von Selbstfindung, über Verarbeitungsversuch einer Trennung oder eines Todesfalls, aus Glaubensgründen, bis zu schlichter Wanderlust ist alles dabei. Meine genauen Worte behalte ich an dieser Stelle für mich, aber so viel sei gesagt: An diesem Abend sind Deutsche, Franzosen, Spanier, Amerikaner, Engländer, Iren, Australier, Koreaner, Niederländer, Israelis und Brasilianer mehr verbunden, als es eine politische Gemeinschaft je zustande bringen könnte. Ich lerne viele weitere interessante Menschen kennen. Lucy aus England, Anna von Sylt, Doreen aus den Niederlanden, Alex und Inga aus Greifswald, Robin aus den USA, Gerald aus Australien und viele mehr.

      Den restlichen Abend verbringen alle Mitpilger des Orisson auf der Terrasse. Der Regen hat aufgehört. Im Gespräch mit Alex und Inga, mit David und Sara und mit anderen neuen Bekanntschaften merkt man kaum, wie die Zeit vergeht. Gegen 22:00 Uhr liegen ich und auch alle Mitpilger dann doch mal im Bett. Unter mir schnarcht Gerald, der Australier. Sonderbare Geräusche entströmen seinem Mund. Ich hoffe, er übersteht die Nacht.

       Heute lief ich insgesamt neun Kilometer und habe gemerkt: Man ist auf dem Camino nur genau so lange alleine, wie man es sein muss.

      28.08.2019 06:00 Uhr

      Ich wüsste spontan nicht, wann ich das letzte Mal freiwillig so früh aufgestanden bin. Der Anreisetag zählt nicht. Ätsch.

      Als erster Schläfer meines Zimmers erhebe ich mich und verkrümel mich ins Bad. Ich bin der einzige Anwesende, der das tut. Ich bin es aus der Heimat gewohnt zu duschen, wenn mein Tag beginnt. Am Camino ist das allerdings totaler Käse. Wird mir eben jetzt erst bewusst. Egal, auf in die Dusche. Mein erster Kontakt dieses Tages ist eine putzige, dicke Kröte, die sich in die Herrendusche verirrt hat. Ich bemerke sie zu spät und dusche sie deswegen schön mit, bevor ich ihr helfe, die Freiheit wieder zu erlangen. In der kurzen, durch eine Duschmarke begrenzten Zeit, wasche ich unter der Brause gleich meine Klamotten der gestrigen Anreise mit. Falls sie jemand möchte. Nach dem Anziehen hänge ich alles auf die Wäscheständer draußen vor die Herberge. Vielleicht passt es jemandem. Und müffelt nicht mehr so sehr.

      Langsam kommt Schwung in die Bude. Aus allen Winkeln strömen die Übernachtungspilger in die Bäder, Toiletten und zu ihren Schuhen. Geduscht wird nicht, die Kröte und ich waren wirklich die einzigen Sauberkeitsfanatiker. Ich hoffe, es gibt am Nachmittag dann wieder warmes Wasser, liebe Mitpilger. Die Kröte brauchte sehr viel davon.

      Das Panorama gegenüber der Aussichtsterrasse ist noch vernebelt, aber man kann schon einen ganz kleinen Funken der Sonne erahnen, die sich hinter den Pyrenäen hinaufquält. Es verspricht ein toller Tag zu werden. Vor dem Restaurantbereich treffe ich schon die ersten Wartenden. Ab 07:00 Uhr gibt es Frühstück. Wenn man es so nennen mag. Baguette, Marmelade und Butter. Kaffee aus riesigen Suppentassen. Total verwirrend. Ich bin kein sehr anspruchsvoller Mensch, aber diese durchsichtige Plörre würde ich nicht mal meinem schlimmsten Feind anbieten. Na ja. Ist wenigstens inklusive.

      Weder Sara und Marion, noch meine drei Lieblingsamis des gestrigen Abends lassen sich während meines Frühstücks blicken. Erst als ich fertig bin, treffe ich sie draußen. Sara und Marion machen alles sehr langsam und gemütlich. David, Kelly und Heidi sind nur am Quatschen und sich untereinander nicht einig, wann, wie und ob sie überhaupt loslaufen wollen. Von meinen bisherigen Gesprächspartnern sind einzig Alex und Inga schon draußen, rauchen und sind abmarschbereit. Ein Großteil der Gäste von gestern Abend ist bereits losgezogen und auf dem Weg in die immer weiter ansteigenden Pyrenäen. Mich beschleicht das Gefühl, dass ich spät dran bin. Ich bin gespannt, welcher Rhythmus sich einspielt und für mich am meisten Sinn ergibt. Ich verabschiede mich vorerst von Sara und Marion, die noch später dran sind und gerade erst anfangen zu frühstücken. Man sieht sich ja wieder.

      Zusammen mit dem großen Alex und der kleinen Inga breche ich gegen 07:45 Uhr auf, während die Sonne ihren Kampf gegen die Berghänge und den Nebel gewonnen hat. Ich warne Alex und Inga schon mal vor, dass ich bergauf meist ziemlich schnell bin. Das leerte mich schon der Rennsteig vor der heimatlichen Haustür. Spielt keine große Rolle, jeder muss sowieso sein eigenes Tempo finden und laufen. Man ist letztendlich für sich unterwegs. Für sich, aber dennoch unter Menschen. Klingt komisch, ist aber so.

      Auf geht’s. Weiter hinauf in die Pyrenäen. Das steilste Stück liegt aber bereits hinter mir. Dank der kurzen Etappe gestern. Nach wenigen hundert Metern bin ich schon in meinem Bergtempo angekommen und ziehe los. Das Laufen macht unheimlich Spaß. Sanft, aber stetig steigt der Camino an und schraubt sich an den Berghängen nach oben. Das Wetter könnte nicht besser sein und die Aussicht ist bombastisch. Ich laufe über den Wolken. In manchen Tälern unter mir hängen sie fest, aber hier oben ist es sonnenklar. Man fühlt sich, als ob man von oben in ein Aquarium schaut. Schafe, Rinder und Pferde grasen selbst auf den höchsten Gipfeln oder stehen einfach mitten auf dem Weg. Obacht vor austretenden Hufen.

      Auf dem ersten Teilstück vor der Passhöhe des höchsten Camino-Punktes in den Pyrenäen überhole ich nach und nach alle Orisson-Gäste, die vor mir losliefen. Ich komme mir gar nicht so schnell vor wie sonst, scheine es aber definitiv zu sein. Keine Ahnung. Ist halt einfach mein Schritt.

      Mitten im Gebirge am Wegesrand steht auf einmal ein kleiner Imbisswagen mit einem kleinen, alten, putzigen Franzosen darin. Hier stoppe ich und treffe eine weitere Dame, die auch die Nacht im Orisson verbrachte. Hanne aus Bodenmais. Wir kaufen Bananen und Getränke und laufen dann eine Weile im selben Tempo. Folglich kommen wir schnell ins Gespräch. Hanne, eigentlich Hannelore, erzählt aus ihrem Leben. Sie trägt auf jeden Fall kein einfaches Schicksal mit sich herum, aber strahlt über jeden Meter, da sie sich endlich diesen lange gehegten Traum erfüllen kann und auf dem Camino unterwegs ist. Kommt mir bekannt vor.

      Ohne es richtig zu registrieren, passieren wir die Grenze zu Spanien und zur autonomen Region Navarra. Einen Stein mit einer Grenz-Aufschrift haben wir nirgends gesehen. Das war es also schon mit Frankreich.