Philipp Döhrer

The Racing Flower Pilgrim


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Ich nenne sie jetzt einfach mal so. Hier werden beim alljährlichen Fest San Fermin die Stiere durchgetrieben, vor denen die Männer der Stadt zu flüchten versuchen. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Haben wir bestimmt alle schon mal im Fernsehen gesehen. Davon kann man halten, was man will. Tradition ist Tradition.

      Da ist sie endlich. Die Bar, in der ich damals war. Schon bei ihrem Anblick läuft mir das Wasser in den Beinen zusammen. Tapas, tapas, tapas. Wie ein Wilder pfeffere ich meinen Rucksack an die Hauswand und stürze mich an die Bar. Auf der Theke aufgereiht stehen die zweitbesten tapas, die ich bisher aus Spanien kenne. Genau wie vor neun Jahren. Ich hoffe, sie wurden mal aufgefrischt.

      Wo es die erstbesten tapas gibt? Verrate ich nicht. Was da genau da alles dran und drin ist? Keine Ahnung. Wusste ich damals nicht und weiß ich heute nicht. Spielt auch keine Rolle. Diese tapas sind ein Gedicht. Mehr als das. Ein Sonett. Von Shakespeare. Von Goethe. Das haben beide gemeinsam geschrieben. Während sie sturzbetrunken waren. Einfach nur göttlich. Jeder Bissen ist ein gelungener Reim. Dazu gibt es ein eiskaltes Bier und die Mittagspause ist perfekt gelungen.

      Uns alle stört allerdings der Trubel. Es wird immer schlimmer. Haufenweise Touristen. Schreckliches Volk. Machen keinen Platz und haben keine Rücksicht auf rucksackbeladene Pilger. Frechheit. Damals, als ich hier war, war ich auch einer von ihnen. Von diesen merkwürdigen Touris. Aber ich hatte großen Respekt vor den Pilgern, die sich, durchnässt von Schweiß und beladen mit allem Hausrat, den sie für Wochen brauchen, ihren Weg durch die überfüllten Straßen zu bahnen versuchten. Nun bin ich einer davon.

      In der heißen Sonne Pamplonas gehen wir im Gänsemarsch weiter. Anders geht es nicht. Als eine weitere Touristengruppe aus einem Gebäude am Weg strömt und keiner von ihnen nach links oder rechts schaut, brülle ich im Affekt unglaublich laut und wahrscheinlich für jeden der Gruppe unverständlich: „MACHT EURE GLOTZEN AUF UND GUCKT VOR DIE FÜßE.“ Aufgrund meiner Lautstärke ist für einen kleinen Moment genug Verwirrung vorhanden, damit wir schnell aus dieser Nummer flüchten können und aus der überfüllten Innenstadt rauskommen. Für uns steht fest: In Pamplona bleiben wir nicht. Wir möchten eine ruhigere Übernachtung. Aber weit gehen wir heute auch nicht mehr. Schier endlos ziehen sich die Randbezirke Pamplonas sehr asphaltbetont dahin. So wirklich hässlich ist es nicht, aber nicht besonders fußfreundlich. Dank Alex‘ App wissen wir, wir sind bald da, wo wir hinwollen. Wo wir ungefähr geplant haben, hinzuwollen. Echt nützlich, diese Technik.

      Neben einer äußerst stark frequentierten Bundesstraße hinaus aus Pamplona und einem zünftigen Anstieg, der uns nochmal alles abverlangt, geht es hinauf nach Cizur Menor. Winziges Dörflein auf einer Anhöhe, von der aus man fast noch bis Pamplona spucken kann. Die kirchliche Herberge des Malteserordens lassen wir links liegen und gehen ein paar Meter weiter zur privaten Unterkunft Maribel Roncal. Ruckifatzi ist die Sache auch schon erledigt. Vier Betten? Na klar. Prima. Danke. Pilgern kann manchmal sehr einfach sein. Fette Betonung auf manchmal.

      Zusammen mit einem kanadischen Paar sind wir in einem Fünf-Doppelstockbett-Zimmer untergebracht. Nach dem üblichen Ablauf von Wäsche waschen, duschen und Hin-und-Her-packen für den nächsten Tag, setzen wir uns in den herrlichen Innenhof unter Palmen und gönnen uns ein eiskaltes Bier aus dem Verkaufsautomaten des Hauses. Herrlich. Eine lustige, ältere Señora kommt vorbei. Wir vermuten, sie ist die Herbergsomi der Unterkunft. Mit einem Schlauch spritzt sie kaltes Wasser auf die Pflanzen und das heiße Pflaster und ruft dabei unentwegt: „To make it all fresh.“ Nebenher grinst sie über alle Ohren, die sie hat. Es müssen viele sein. Herzergreifend. Alex und ich haben heute etwas Probleme mit unseren Sehnen auf dem Spann des rechten Fußes. Als die Dame mit dem Schlauch kommt, halten wir instinktiv unsere Füße in ihre Richtung und werden ordentlich kalt abgespritzt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe nie jemanden erlebt, der so herzlich lacht und sich so darüber freut, zwei Deutschen die Füße kalt abzuspritzen. Gracias Señora.

      Nach der Erfrischung schauen wir ins Dorf Cizur Menor hinein. Kurz unterhalb unserer Herberge besorgen wir uns Voltaren für unsere geschundenen Füße. So zumindest der Plan. Gibt es aber nicht. Also besorgen wir uns Thrombactiv. Lustiges Wort und duftet nach Menthol. Kaufen wir. Hauptsache was für die Füße. Neben der Apotheke steht eine Bühne auf dem Dorfplatz. Auf Nachfrage erklärt uns die Apothekerin, dass über das ganze Wochenende ein Dorffest stattfindet. Sie verlässt sogar ihren Laden und zeigt uns, wo. Jeder könnte nun ihre Apotheke ausrauben, während sie uns vom Fest und vom Ort vorschwärmt. Das ist Gastfreundschaft, die unbezahlbar ist. Danach kaufen wir im Supermarkt wieder einige spanische Köstlichkeiten für wenig Geld und machen uns auf den Rückweg.

      Im Innenhof erwartet uns wieder die Herbergsomi. Mit dem breitesten Grinsen, das man sich überhaupt vorstellen kann, gibt sie uns Tipps für den Camino und die morgige Route. Sie sei selbst noch nie den Camino gelaufen, ist aber auf einem Segelschiff mit 50 anderen Menschen von der französischen Küste bei Bordeaux bis nach Galizien gesegelt. Als einzige Spanierin. Damals noch ohne Fremdsprachenkenntnisse. Den höchsten Respekt für diese Frau.

      Wir schlemmen unsere Leckereien und begrüßen freudig ein französisches Ehepaar. Wir kennen ihre Namen nicht, aber auch sie waren seit dem ersten Abend im Orisson immer wieder in unserer Nähe. Durch Zufall auch immer in unseren Herbergen. Heute sind sie spät dran, aber winken beide lachend ab. Sie haben ausnahmsweise reserviert.

      Unterdessen setzt unten auf dem Dorfplatz die Musik vom Fest ein. Mitsingend und -tanzend essen, trinken und verquatschen wir den Abend. Die Omi erklärt uns den Programmverlauf des heute beginnenden Festes. Zu späterer Stunde soll der Toro del fuego, der Feuerstier, stattfinden. Ein Mann aus dem Dorf wird in ein Drahtgestell gesteckt, das dem Äußeren eines Stiers nachempfunden ist. Dann läuft er damit durch Cizur Menor und aus dem Kostüm heraus schießen Knaller und Feuerwerkskörper. Okaaaay... Klingt lustig. Aber auch irgendwie irre.

      Rauszugehen lohnt sich für uns leider nicht mehr. Wenn das Fest richtig in Schwung kommt, müssten wir wieder zurück, da die Herberge um 22:00 Uhr die Pforten schließt. Danach kommt man zwar raus, aber nicht mehr rein. Ob man ein Bett darin hat oder nicht, vollkommen egal. Klingt extrem, ist aber in so gut wie allen Herbergen am Camino ein völlig normales Prozedere. Macht nichts. Im Innenhof verquatschen wir die frühe Schlafenszeit mal wieder und landen müde, aber froh in unseren Betten. Ich glaube, es ist sogar noch vor Mitternacht. Ausnahmsweise.

      Wenn der Kanadier so weitermacht, wird die Nacht sehr geräuschintensiv.

      Buenas noches.

      

       20 Kilometer stecken heute in meinen Knochen und die ungewohnt heftige Zivilisation hat mir kräftig in den Arsch getreten.

      31.08.2019 07:00 Uhr

      Der Kanadier muss Hunger haben. Großen Hunger. Mächtig großen Hunger. Vermutlich vermisst er seinen Ahornsirup. Er hat in dieser Nacht auf jeden Fall sehr viele Bäume dafür gefällt. Mit seinem Mund. Meine Fresse, was für eine Lautstärke. Karin war dagegen ein reinster Ohrenschmaus.

      Hanne und ich brechen langsam auf, während Inga und Alex noch morgendlich vor sich hin muffeln. Wichtig ist es, auch morgens genau aufzupassen, dass man nichts vergisst. Denn selbst zu einer solch frühen Stunde gilt: Ist man einmal aus der Herberge raus, kommt man nicht wieder rein.

      Schnell sind Hanne und ich hinaus aus dem kleinen Cizur Menor. Die langsam aufgehende Sonne malt Himmel und Wolken in den schönsten Farben an. Vor uns kommt der Alto de Perdon immer näher. Der Berg der Vergebung. Wie ein mächtiger Riese erhebt sich dieser gewaltige Höhenzug. Ähnlich einem Tafelberg. Da muss ich hoch. In einigen Kilometern. Vorerst geht es auf dem Camino durch abgeerntete Getreide- und ausgetrocknete Sonnenblumenfelder. Ein sehr skurriles Bild. Mitten in einem der Felder liegt ein schlafender Pilger. Dick eingelullt in Schlafsack und Decken, den Rucksack als Kopfkissen. Nicht schlecht. Ein noch skurrileres Bild.

      Der kommende Berg zeigt seine ersten Anzeichen, es geht stetig bergauf. Mal sanft, mal steil und mit viel Geröll auf dem Weg. Der Alto de Perdon selbst scheint allerdings keinen Meter näher gerückt zu sein. Wird schon. Meine Füße schmerzen etwas. Der Sehne geht