Philipp Döhrer

The Racing Flower Pilgrim


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kann nichts Gutes sein.

      Das erste Mal seit dem Beginn meines Camino habe ich Lust auf Musik. Also Ohrstöpsel rein. Eine Playlist ist seit dem Aufbruch vorbereitet, damit ich jederzeit ohne Empfang und Netz darauf Zugriff habe. Diese Liste ist jenseits von Gut und Böse. Jede erdenkliche Musikrichtung meines manchmal merkwürdigen und bunt durcheinandergewürfelten Musikgeschmacks ist mit mindestens einem Titel vertreten. Es läuft sich gleich etwas leichter und rhythmischer.

      Feststellung: In dieser Kulisse, mit dem Berg vor Augen, während die Morgensonne alles rundherum rötlich einfärbt, „Space Oddity“ von David Bowie zu hören, ist einfach nur strange. Närrisch. Und gleichzeitig vollkommen passend. Sieht ja fast aus wie auf dem Mars hier. Hergehört Welt: ICH bin Major Tom. Kraul mir meine verhornten Füße.

      Da der Schalter für meinen Berg-Fetisch irgendwo auf den ersten Kilometern bereits umgelegt wurde, bin ich der Erste unseres Trüppchens in Zariquiegui. Was für ein Name. Es schlicht Zaziki zu nennen, wäre wohl zu einfach gewesen. Es ist der letzte Ort, bevor der endgültige, letzte Anstieg zum Alto de Perdon beginnt. Dementsprechend herrscht im einzigen kleinen Café neben der Kirche ein ziemlicher Kaffeepilger-Andrang. Aber einen Tisch ergattere ich gerade noch. Bekannte Gesichter rundherum, man kennt sich so langsam untereinander zumindest vom Sehen. Während meines zweiten Kaffees kommen auch Hanne, Alex und Inga an und wir dehnen unsere Frühstückspause mal wieder äußerst großzügig aus.

      Gesättigt, aber etwas widerwillig, kommt der Rucksack auf den Rücken und los geht der relativ harte, lange Anstieg hinauf auf den Berg. Ich haue mir nochmal zünftig David Bowie auf meine Ohren, zünde meinen Turbo und flitze durch dorniges Gestrüpp auf einem schmalen Geröllweg nach oben. Vorbei an Pilgerkunst, aus Steinen gelegten Symbolen oder einfachen kleinen Türmen aus Kieseln.

      Auch wenn die Fersen immer mehr schmerzen, das Laufen bergauf macht Spaß. Kurz vor dem Gipfel höre ich I shall not walk alone, ein herrliches Lied von den Five Blind Boys of Alabama. An diesem Ort mit diesem Lied…Unvermittelt kommen mir Tränen in die Augen. Einfach so. Was für ein passender Text. All meine Lieben, jeder der mir wichtig ist, ist in diesem Moment und auch in allen anderen Momenten am Camino bei mir. Auf jedem einzelnen Kilometer. Auch du. Das weißt du. I shall not walk alone.

      So ist es.

      Etwas ausgezehrt und ausgeweint, aber sehr glücklich, komme ich endlich oben an. Es ist mehr als lohnend. Ein unbeschreiblich erhebendes Gefühl. Man kann kilometerweit in alle Richtungen schauen, die Sicht ist besser, als man es sich zu erträumen vermag. Es haut mich richtig aus den Wandersocken. Hinter mir in der Ebene verschwindet langsam Pamplona vor der immer blasser werdenden Kulisse der gerade noch zu erahnenden Pyrenäen. Ich sehe, wo ich herkam. Viel wichtiger: Ich sehe, wo ich noch hinwill. Auf der anderen Seite des Alto liegt die nächste Ebene und ich müsste wirklich lange überlegen, ob ich jemals eine Aussicht hatte, die so unglaublich weit reicht. Die ganze Herrlichkeit Navarras scheint vor mir zu liegen. Weite Felder und strahlend blauer Himmel. Vielleicht hätte ich dem finnischen Ed Sheeran seine Monsterkamera stehlen sollen.

      Hier oben auf dem Alto de Perdon steht die berühmte Statuengruppe der Pilger, die gegen Wind und Wetter nach Santiago ziehen. Metallene Profile von Frauen, Männern, Kindern, Pferden und Hunden, die allen Widrigkeiten zum Trotz einfach immer weiter gehen. Ultreïa. Immer vorwärts. Einfach vorwärts.

      Mit den drei anderen ankommenden Beatles mache ich Bilder, fülle an einem Stand meinen Flüssigkeitshaushalt auf und freue mich einfach nur, dass ich bin, wo ich eben gerade bin. Jeder von uns nimmt sich hier seine Momente, bevor wir gemeinsam den Abstieg in die weite Ebene riskieren, in der man in der Ferne bereits das für heute grob angedachte Ziel Puente la Reina sieht. Aber erstmal: Wieder ein beknackter Abstieg. Nicht so schlimm wie der Weg hinab nach Zubiri, aber auch kacke. Anders kacke. Steil, staubtrocken, über riesige Steine auf dem Weg, vom Regen rundgelutscht. Auch hier gilt wieder die Devise: Schaut man einmal nicht auf den Boden, hat man sich die Füße schon komplett ruiniert. All das obendrein in der prallen Sonne und mit schmerzenden Fersen. Was macht man in solch einer Situation?

      Option Eins: Man erträgt es geduldig und leidet still.

      Option Zwei: Man setzt sich auf der Stelle auf den Boden und beginnt ein klägliches Wimmern.

      Option Drei: Man bittet den bärtigen Riesen Alex darum, getragen zu werden.

      Ich entscheide mich spontan für Option Vier: Ich stimme das Rennsteig-Lied an.

      Die Hymne des Thüringer Waldes und somit meiner Heimat. Sehr laut, aber mit zittriger Stimme, da ich gleichzeitig darauf achten muss, mir auf dem Geröll nicht sämtliche Knochen zu brechen. Astrein, es funktioniert. Läuft sich gleich viel leichter. Auch die textunsicheren Mitstreiter summen und klatschen mit. Letzteres lasse ich lieber sein, ich brauche die Hände schließlich zum Balancieren. Ich würde mich gerne als Außenstehender beobachten, wie ich singend und schwingend mit meinem bunten Rucksack auf dem Camino in die Ebene tänzele. Endlich auf etwas ebenerem Grund angekommen, schmettere ich direkt das Zilleborn-Lied hinterher, die Dorfhymne meines geliebten Dörfchens Steinbach. Wie üblich in Steinbacher Platt, was hier keiner versteht, aber das ist vollkommen egal. Für einen Moment sind Nord-, Mittel- und Süddeutsche alle Steinbacher. Ich glaube auch ein leises, gehauchtes Steimich von dem namenlosen Spanier zu hören, der ein paar Meter vor uns läuft.

      Gegen Mittag und einigen gnädig ebenen Kilometern Camino erreichen wir das kleine Städtchen Uterga. Die steigende Mittagshitze schreit nach einer langen Pause. In einer Bar Utergas machen wir Station, trinken Bier und Eistee und holen uns einen Stempel ab. Nach einem zweiten Bier stellt Alex fest: Harald Juhnke hatte Recht. Keine Termine und leicht einen sitzen. Stimmt. So kann man es aushalten. Harald ist mit uns. Ist ja auch irgendwie Urlaub. Alex durchforstet seine App nach guten Herbergen in Puente la Reina, denn für uns steht nun definitiv fest, dass wir heute nicht weiter gehen. Ich finde es toll, dass meine Mitpilger das auch möchten, denn diese Stadt ist ein weiterer legendärer Ort des Camino. Wir finden eine ansprechende Unterkunft am Ausgang Puente la Reinas, die sogar einen Pool hat und neben einfachen Betten auch Bungalows für vier Personen anbietet. Für 15 Euro pro Person. Ja Mensch, das ist doch wie für uns gemacht. Inga entscheidet, sofort dort anzurufen und ausnahmsweise mal etwas zu reservieren. Den Bungalow müssen wir haben. Gesagt, getan, erledigt.

      Mit einem guten Gefühl geht es weiter. Ich habe für mich schon entschieden, heute noch einen Umweg zu gehen. Ich möchte auf jeden Fall zur kleinen Kirche Santa Maria de Eunate. Eigentlich stand das schon fest, bevor ich überhaupt aufbrach. Sie liegt nicht direkt am Haupt-Camino, aber dieses Fleckchen ist etwas ganz Besonderes. Selbst die Omi aus der Herberge in Cizur Menor riet gestern dazu. Meine Gefährten wollen spontan entscheiden, ob sie mitkommen. Nach einem weiteren, sehr schönen Stück Weg, mit toller Aussicht auf das umliegende Tal, stehen wir im Dorf Muruzábal schon an der Kreuzung, wo der Weg zur Kirche Eunate abzweigt. Kurz davor kommt uns noch ein spanischer Cowboy auf seinem Pferd entgegen, reitet zum Ausweichen extra ab aufs Feld und grüßt mit einem Howdy an uns vorbei. Entschuldigung dafür, dass ich nicht weiß, wie man Howdy auf Spanisch schreibt.

      Alex und Inga wollen vorausgehen nach Puente la Reina. Insgesamt fast fünf Kilometer Umweg wollen sie in der blanken Mittagssonne nicht laufen. Verständlich. Hanne will mir folgen und so biegen wir ab und sind augenblicklich wieder raus aus Muruzábal und auf einem Feldweg. Es ist wirklich heiß. Richtig, richtig heiß. In der Ferne sieht man bereits den Umriss der kleinen, achteckigen Kirche Santa Maria de Eunate durch das Hitzeflimmern der abgeernteten Weizenfelder. Fast wie eine Fata Morgana. Ich hoffe, sie ist echt. Ich sage zu Hanne, dass ich mir Musik auf die Ohren haue und etwas vormarschiere. In dieser Hitze muss man einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen. Nicht denken. Nur Laufen. Eventuell Musik hören. Zu den Klängen von Bob Dylan und da außer mir niemand zu sehen ist, marschiere ich laut „Mr. Tambourine Man“-singend durch die flirrenden Weizenfelder. Das hat schon fast etwas Psychedelisches. Nach etwas mehr als zwei Kilometern und der Überquerung einer Bundesstraße stehe ich vor ihr. Vor der einzigartigen Kirche Santa Maria de Eunate.

      Ich erschrecke kurz. Das Eingangstor ist mit einer Eisenkette verschlossen. Hier bin ich auf der Reise vor neun Jahren einfach durchgegangen.