Philipp Döhrer

The Racing Flower Pilgrim


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Überblick über die Struktur eines typisch spanischen Kleinstädtchens zur sonntäglichen Mittagszeit. Schön. Hat nicht jeder. Braucht aber auch nicht jeder.

      Nach meiner Dorfrunde treffe ich an der Kirche die anderen drei Teilnehmer meines Häuflein Elends. Unser Timing ist einfach perfekt. Aus einem Supermarkt, der verrückterweise am Sonntag aufhat, habe ich wenigstens für Alex und mich ein Not-Dosenbier schnappen können. Also rasten wir am Kirchplatz und kommen uns mit verschwitztem Äußeren und Bierdosen ein wenig deplatziert vor, als die Anwohner in feinstem Sonntagszwirn aus dem Gotteshaus strömen. Na ja. Wir sind Pilger, wir dürfen das.

      Gemeinsam bestreiten wir die letzten Kilometer des heutigen Tages. Ich bin heute nach wie vor so im Flow, dass ich kaum die Umgebung wahrnehme. Ich kann es nicht genau erklären. Schmerz und Glück wechseln sich ab, aber die Geschwindigkeit bleibt konstant schnell. Keine Ahnung, was mein merkwürdiger Körper im Sinn hat. Hanne und Inga sind irgendwo hinter uns, aber Alex und ich erreichen fast gleichzeitig und sehr zufrieden Estella. Eine Stadt, die in der Größe ungefähr Puente la Reina gleichkommt. Ziel für heute erreicht.

      Neben einem Fluss und einer beeindruckenden Kirche entlang, stehen wir auch schon vor der öffentlichen, städtischen Herberge der Stadt. Eine sogenannte Albergue Municipal. Sie gehört zu den drei Haupt-Typen der Herbergen am Camino.

      Es gibt die städtischen Herbergen, betrieben von den Gemeinden.

      Es gibt die kirchlichen Einrichtungen, logischerweise betrieben vom heiligen Geist. Denke ich.

      Und der größte Anteil sind die privaten Herbergen, in denen wir bisher immer untergebracht waren.

      Heute also mal eine städtische Unterkunft, die wir auf eine Empfehlung Ingas hin vorgemerkt haben. Heute weniger luxuriös. Reicht ja auch erstmal. Ein altes, mehrstöckiges Stadthaus mit riesigem Foyer und Gemeinschaftsküche empfängt uns. Vier Betten sind frei, für jeweils sechs Euro kann man nicht meckern. Es gibt mehrere Schlafsäle mit je acht Doppelstockbetten. Schon fast volle Belegung. Wir bekommen die letzten vier oberen Betten im vorletzten freien Schlafsaal. In den Fluren mit den Abstellregalen duftet es sehr verführerisch nach Fuß. Lecker.

      Vor dem Waschprogramm organisieren Alex und ich auf der anderen Seite des Flusses noch Zigaretten, ein paar Flaschen Bier und machen es uns im Innenhof der Unterkunft gemütlich. Wie könnte es auch anders sein, auch unsere drei Florida-Alligatoren checken hier ein und David gesellt sich schneller mit Bier zu uns, als man Drei Betten bitte sagen kann. Seine beiden Mädels verschlafen einmal mehr den ganzen restlichen Tag.

      Am frühen Abend sind wir alle fein sauber und erholt und brechen ins Innere Estellas auf. Über die alte, sehr steile Bogenbrücke hinüber in den Altstadtkern. Gleich dahinter sitzt wieder das französische Paar aus dem Orisson in einem Restaurant und winkt uns zu. Okay, hier kehren wir auch ein. Man muss ja nicht zwingend noch weiterlaufen. Wir sind ja schon im Stadtkern.

      Irgendwie haben wir nach den Anstrengungen der letzten Tage heute Lust auf einen Burger. Einen stinknormalen, einfachen, schön fetten Burger. Auf der aufgestellten Karte des Restaurants lacht uns das Bild eines saftigen Burgerleins schon entgegen. Yammi. Auf Nachfrage stellen wir fest, dass die Küche erst ab 20:00 Uhr mit Nahrung aufwartet. Mist. Woanders hin? Nee. Wir werden warten. 22:00 Uhr macht unsere Herberge ihre Schotten dicht. Mal wieder. Schaffen wir schon. Es gab selten ein lohnenderes Warten. Es gibt Fajita für Alex und für den Rest von uns jeweils einen Burger mit Pommes. Wahnsinnig gut, frisch gemacht und riesige Portionen. Wir schaffen es kaum. Ein Pilgermenü kostet mindestens fünf Euro pro Person mehr. Braucht kein Mensch.

      Satt, zufrieden und sehr gemütlich schlendern wir zurück über die Brücke und lassen uns noch ein wenig im Innenhof der Albergue nieder. Am einzigen freien Tisch setzen wir uns zu einem extrem nervösen, zitternden Herrn. Ich verstehe fast gar nichts von den Dingen, die seinen Sprechapparat verlassen. Alex weist mich erst höflich darauf hin, dass das tatsächlich Englisch ist. Ich verstehe es trotzdem kaum. Er ist jedenfalls Ire, raucht ununterbrochen und zittert unentwegt. Einen Namen bekomme ich nicht mit. Egal. Er ist einfach der nervöse Ire.

      Zitternd vertändeln wir den wenigen Rest des Abends und werden 22:00 Uhr vom hauseigenen Personal doch mal zur Bettruhe genötigt. Frechheit.

       Ich flog heute 22 Kilometer auf dem Camino entlang, denn ich bin The Racing Flower Pilgrim.

      02.09.2019 07:15 Uhr

      Erste Erkenntnis des heutigen Morgens: In den großen, günstigen, städtischen Herbergen übernachten sehr viel mehr junge Leute als in den privaten Unterkünften. Sehr viel mehr junge, hübsche Leute. Sehr viel mehr junge, hübsche Frauen. Nicht zu verachten. Allerdings können die genau so laut schnarchen wie der kanadische Holzfäller neulich. Ein wahres Paradoxon.

      Es ist auch erstaunlich, wie viele Pilger extra früh aufstehen, um sich Frühstück zu machen. Als ob die frühe Stunde nicht sowieso schon reichen würde. Wir lassen alle Mitschläfer des Saals langsam ziehen und machen in aller Ruhe unsere Morgentoilette. Bei unserem Lauftempo haben wir kein Problem damit, unseren nächsten Etappenort trotzdem rechtzeitig zu erreichen. Die habe ich alle in wenigen Stunden wieder eingeholt.

      Unten im Aufenthaltsraum herrscht das erwähnte Frühstücksgewimmel. Am Automaten hole ich mir eine köstliche, minimal nach Kaffee schmeckende Wasserbrühe und schaue mir das Treiben etwas genauer an. Manche machen sich einfach ein belegtes Baguette oder Brot für den Tag. Manche kochen richtig. Die asiatischen Mitpilger ziehen alle Register. Da ist eine Großküche ein kleiner Witz dagegen. Ein nicht sehr lustiger, kleiner Witz. Bei den Freunden aus Fernost wird morgens gekocht, als ob es in den nächsten Tagen nie wieder etwas Essbares geben würde. So viel koche ich in der Heimat innerhalb von drei Tagen nicht. Und die machen das zum Frühstück mal so nebenbei. Meine Herren.

      Mit Hanne begebe ich mich hinaus auf die noch dunkle Altstadtstraße. Wir wissen mittlerweile, Alex und Inga brauchen oftmals noch einen Moment länger. Vorbei an mächtigen Prachtbauten und Kirchen in der Morgendämmerung lassen wir die Altstadt hinter uns und erreichen die Neustadtgebiete. Sie ziehen sich sehr. Die Vororte hinter der Neustadt ziehen sich noch mehr. Als wir endlich nur noch wenige Häuser sehen und die Weinfelder beginnen, geht eine Gruppe junger Pilger neben Hanne und mir, die wir auch schon öfters sahen. Einer von ihnen redet ununterbrochen. Verstehe ich nicht. Beim Laufen. Ohne Pause, Punkt oder Komma. In einem Tonfall, der über ihn selbst aussagt: Ich finde mich sehr, sehr geil und mag meine eigene Stimme mehr als euch alle hier. Was für ein unangenehmer, schnöseliger Zeitgenosse. Was für ein Lackaffe. Aber nicht aufregen, Philipp. Einfach gehen lassen.

      Am Fuß der Weinberge, einem der letzten Grundstücke Estellas, wohnt ein Schmied. Klingt fast wie der Beginn eines Märchens. In seiner Schauschmiede stellt er große und kleine Souvenirs sowie Alltagsgegenstände her. Hier machen wir Halt und Hanne ersteht eine kleine Vogelfeder aus Metall für ihre Nichte. Da das Kloster des dazugehörigen Dorfes Aiyegui, einem Vorort Estellas, gerade renoviert wird, gibt uns der Schmied nicht nur einen Stempel seiner Schmiede in unsere Pilgerpässe, sondern auch einen des geschlossenen Kirchenbaus. Muchas gracias und buen camino.

      An der legendären Bodega Irache, inmitten von Weinreben, stauen sich die Pilger. Hier holen uns auch Alex und Inga wieder ein. Der Grund für den Stau an diesem Weingut ist ein berühmter Brunnen. Ein Doppelbrunnen. Aus einem Hahn kommt feinstes Wasser, aus dem anderen köstlicher Rotwein. Köstlich für alle anderen. Für mich schmeckt er wie jeder andere Rotwein. Ist halt einfach nicht mein Ding. Aber na ja, ich fülle mir trotzdem eine Weinschorle in eine meiner Flaschen ab. Ist ja umsonst. Inga muss nochmal zurück, sie hat ihren frisch gefundenen Wanderstock im Tabakladen unterhalb der Schmiede vergessen. Immer diese verdammten Raucher.

      Mit Hanne gehe ich voraus und bin kurz darauf wieder alleine unterwegs. Durch Wälder und Felder führt uns der Camino hinauf in Richtung Azqueta. Geniale Farben und Kontraste prägen die Umgebung. Saftiges Grün kleiner Wälder, sattes Gelb der abgeernteten Weizenfelder und das leuchtende Blau des Himmels. Vor mir erscheint ein kleiner Berg und rechts von mir, in Richtung Norden, erhebt sich ein gewaltiges Bergmassiv. Ed Sheeran, wo bist du mit deiner Kamera? Und dem bärtigen Mann?

      Am