Christian Geiss

Schattenwende


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zu hören und alles schien ruhig zu sein. Kalebs Instinkte jedoch rieten ihm zur Vorsicht. Die Ausbildung in einer Spezialeinheit des BND hatten seine Sinne extrem geschärft. Sein Gehör glich dem einer Fledermaus und seine Augen waren so scharf wie die einer Eule. Mit diesen durchsuchte er den vor ihm liegenden, nur vom Mond und den Sternen erleuchteten Wald.

      Das Geräusch war jedoch nicht von vorne gekommen, sondern hatte eher wie das Spannen einer Armbrust in einiger Entfernung hinter ihm geklungen. In seinem Kopf spielten sich nun in rasender Geschwindigkeit die Möglichkeiten ab, die ihm zur Wahl standen. Er hätte das Handschuhfach öffnen, seinen geladenen Revolver herausholen, mit einem Satz über die Motorhaube springen und hinter dem Auto Deckung suchen können. Dies wäre wohl die beste Wahl gewesen. Allerdings hätte das einige Sekunden gedauert, und wenn er hinter dem Auto Deckung gefunden hätte, wäre Kati die Augenblicke, in denen er über die Motorhaube gesprungen wäre, wie auf dem Präsentierteller gewesen. Selbst wenn er die Tür zugeworfen und ihr zugerufen hätte, sie solle sich flach ins Auto legen, wäre es für einen Stahlpfeil oder einen Bolzen aus einer Armbrust dennoch kein Problem gewesen, eine Autotür zu durchschlagen und anschließend den Brustkorb seines Ziels zu durchbohren. Bei vielen Personen wäre ihm das egal gewesen. Die Ledersitze und das Auto wären von innen gereinigt und die Sache unter dumm gelaufen abgehackt worden. Bei Kati war es ihm jedoch nicht egal. Sie war nicht nur wunderschön, hatte endlos lange Beine und Brüste, die dazu einluden, sein Gesicht darin einzugraben. Er dachte an ihre leidenschaftlichen Küsse und die Liebesnächte, in denen sie sich liebten, bis die Sonne im Osten den Horizont in purpurrotes Licht tauchte. Er liebte ihre ganze Art, ihre Lebensfreude, ihr Umgang mit Kindern und die Art, wie sie zusammen lachten. Nein, für diese Frau wäre er eher gestorben, als sie der Gefahr des Todes auszusetzen.

      Die zweite Möglichkeit und für ihn wesentlich gefährlichere war, mit einer Handbewegung den Revolver aus dem Handschuhfach zu holen und sich im gleichen Moment umzudrehen. Dann wüsste er zwar nicht, wohin er schießen musste, aber er konnte hoffen, dass derjenige, der dort im Wald war, noch ein Geräusch verursachen und ihm dadurch zeigen würde, in welche Richtung er zu schießen habe. Aber wie sollte er Kati erklären, dass er ein geladenes Schießeisen dabei hatte und mit dieser auch noch umgehen konnte? Sie waren seit zehn Jahren ein Paar. Nachdem sie gemeinsam von Deutschland nach Amerika ausgewandert waren, hatten sie hier in Louisiana einen Ort gefunden, wo sie sich wirklich wohlfühlten. In all den Jahren war er für sie immer der erfolgreiche, von vielen Zeitungen begehrte Reporter gewesen.

      Vor seiner Ausreise in die USA und während seiner Zeit beim BND war er schon durch unzählige Verhöre gegangen, bei denen er nackt mit auf den Rücken gefesselten Händen auf einem Stuhl gesessen hatte und ein Strahler von mindestens fünfhundert Watt zehn Zentimeter vor seinem Gesicht eine größere Hitze verbreitete als die Sonne in der Sahara. Aber Scheiße, er könnte ihr sagen, was er wollte, letzten Endes würde er es ihr nicht wirklich erklären können. Kaleb entschied sich somit für die, wenn man das Lehrbuch für solche Fälle betrachtet, wohl dümmste Variante. Er tat so als habe er nichts gehört, lächelte Kati an, machte ihre Tür zu und schritt langsam um das Auto herum, immer bereit, falls er das Klicken des Abzugs hören sollte, einen Sprung auf die andere Seite des Wagens zu machen. Bei jedem Schritt spielte sich das Szenario in seinem Kopf ab. Als er an der Fahrertür angekommen war, wanderten seine Augen noch einmal durch den Wald. Aber da er nichts sah und hörte, steckte er den Schlüssel in die Zündung, trat die Kupplung und legte den ersten Gang ein.

      „War was?“ fragte Kati.

      Sie hatte ein gutes Gespür für gefährliche, nicht alltägliche Situationen. Kaleb schüttelte den Kopf, lächelte sie liebevoll an, aber gab ihr darauf keine Antwort.

      Als sie auf der von Straßenlaternen beleuchteten Hauptstraße ankamen, legte sich seine innere Anspannung. Kati hatte den Sitz nach hinten gedreht und war mit einem Lächeln im Gesicht eingeschlafen. Wenn sie von seiner Vergangenheit erfahren würde, wüsste sie, dass es eine Menge Menschen gab, die schon lange Zeit auf der Suche nach ihm waren und kein Problem damit gehabt hätten, ihn oder sonst jemanden aus seinem näheren Umfeld zu töten.

      Nach einer halben Stunde Fahrt waren sie an dem einsam gelegenen Landhaus, in dem Kati wohnte, angekommen. Er hatte sie schon oft noch mit hineinbegleitet, dort waren sie dann gemeinsam eingeschlafen oder hatten noch lange über Gott und die Welt geredet. Den folgenden Tag begannen sie dann immer mit einem gemeinsamen Frühstück, bevor Kati zur Arbeit in die städtische Verwaltung und er – zu seinem Job in dem örtlichen Verlag ging. Aber heute Nacht nicht, dachte er. Am Haus angekommen zwickte er sie sachte in den Bauch. Natürlich fragte sie ihn, ob er noch mit hineinkommen wollte. Diese Frage gehörte an das Ende eines solchen Abends, wie das Amen in der Kirche.

      Aber irgendetwas drängte Kaleb, heute Nacht lieber in seine Mietwohnung in der Stadt zu fahren.

      „Nein, heute nicht, ich muss morgen früher raus und mich auf meinen Artikel im Feuilleton vorbereiten.“

      Kati schaute etwas überrascht, da es ganz selten vorkam, dass er nicht mehr mit hineinkam und vor allem nach dem, was eben passiert war, hätte sie es erwartet. Aber sie konnte ihn ja auch nicht zwingen, noch mit hineinzukommen.

      „Schade, ich hätte gerne morgen früh da weiter gemacht, wo wir eben am See aufgehört haben, aber wenn du nicht kannst, ...“

      Sie küsste ihn, dann ging sie ins Haus.

      Normalerweise dachte Kaleb bei der Rückfahrt an Kati und dass er im Leben noch nie so einer Frau begegnet war. Aber heute drehten sich seine Gedanken darum, ob sein Gehör ihm einen Streich gespielt hatte und er sich das Spannen der Sehne einer Armbrust oder eines Sportbogens nur eingebildet hatte. Eigentlich war dies nahezu unmöglich, denn sein Hörsinn war der Schärfste seiner Sinne. Aber wenn dort im Wald jemand gestanden und auf ihn gezielt hatte, wieso hatte er dann nicht geschossen? Oder war gar nicht er, sondern Kati das Ziel und wenn ja, wieso?

      In seiner Wohnung befestigte er von innen die drei zusätzlichen Ketten an der Tür und kippte das Wohnzimmerfenster. Die Fenster öffnen wollte er nicht, dann hätte das schusssichere Glas, das er sich extra anfertigen ließ, keinen Sinn mehr gehabt. So stand er am gekippten Fenster, rauchte genüsslich seine Zigarette und dachte darüber nach, was zu tun sei, falls jemand aus seiner längst vergessenen Vergangenheit ihn gefunden hätte. Aber das konnte und wollte er einfach nicht glauben.

      Kapitel 2

        Deutschland einige Tage zuvor -

      „Polizeinotruf eins eins null, was ist Ihr Anliegen?“

      Für einige Sekunden blieb die Leitung stumm. Dann wiederholte Frau Rollflügel ihre Frage: „Was ist Ihr Anliegen?“

      Aber sie bekam keine Antwort.

      Damaris Rollflügel wollte gerade in den Hörer rufen, dass dies keine Leitung für blöde Scherze sei. Aber da erklang auch schon der gleichmäßige Piepston, der ihr zeigte, dass ihr Gegenüber bereits aufgelegt hatte.

      So machte sie ihre übliche Notiz in ihren Berichtsbogen über einen Anruf um zwei Uhr dreiundfünfzig.

      Ein seltsamer Anruf. Am nächsten Morgen würde sie den aufgezeichneten Anruf dem Chef der Polizeistation vorspielen. Eigentlich wollte sie mit ihrem Chef nicht viel zu tun haben und war froh, wenn sie zur Nachtschicht eingeteilt war. Aber es gehörte zu ihrer Pflicht, ihn über alle eingegangen Anrufe zu informieren. Sie mochte den Chef der Polizeistation, Jörn Becher, nicht. Sie hatte immer das Gefühl, dass er ihr, sobald sie sich umdrehte, auf den Hintern starrte und auch seine Art, mit seinen Mitarbeitern umzugehen, behagte ihr nicht. Mit seiner Körpergröße von höchstens einem Meter fünfundsechzig und seinem kleinen Schmerbauch, der sich unübersehbar hinter seinem in der Regel schlecht gebügelten Hemd befand, zählte er nicht gerade als Musterbeispiel für einen durchtrainierten Polizisten. Das und seine chauvinistische, arrogante Art machten Herrn Becher in ihren Augen zu einem der unausstehlichsten Männer, denen sie bisher je begegnet war. Just in dem Moment, als Frau Rollflügel aufstehen und sich im Flur einen Kaffee aus dem Automaten im Flur holen wollte, klingelte das Telefon zum zweiten Mal. Nicht nur, dass es ungewöhnlich war,