Christian Geiss

Schattenwende


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ein Kampf stattgefunden. Der Glastisch in der Mitte des Raumes hatte einen großen Riss und die Wanduhr war stehen geblieben. Am Rand der Couch stand Katis Handtasche und auf dem Beistelltisch lag noch ein Notizblock, aber keine Spur von Kati. Schnell steckte er sich den Notizblock und das Handy aus der Handtasche in die Innenseite seiner Weste. Vielleicht gab es dort irgendwelche Nummern oder Hinweise, die er noch brauchen konnte, denn eines war klar – hier gab es einiges an Klärungsbedarf.

      Am Ende des Wohnzimmers befand sich eine silberne Wendeltreppe, die hinauf ins Schlafzimmer führte. Er musste dort hoch, um zu sehen, welches Szenario sich dort abgespielt hatte oder ob dort oben noch alles so war, wie er es in Erinnerung hatte. Aber wenn oben jemand auf ihn wartete, hatte er kaum eine Chance. Er würde von unten kommen und der Obenstehende war auf jeden Fall klar im Vorteil. Jetzt bräuchte er einen Zaubertrank, wie ihn die Gummibärenbande im Fernsehen immer nahm, mit dem Sie mindestens zwei Meter hoch springen konnten. Davon jetzt einen Schluck und er wäre mit einem Satz oben im Schlafzimmer und wäre dann jedem Angreifer zumindest ebenbürtig oder sogar überlegen gewesen. Kaleb überlegte einen kurzen Moment, ob er anstelle eines Zaubertrankes zumindest seine kleine Taschenlampe auspacken sollte, um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Falls sich jedoch noch weitere Personen auf dem Gelände befanden, könnte das Licht der Taschenlampe ihn verraten, also ging er ohne Zaubertrank und ohne Licht und nur mit gezückter Waffe langsam und Schritt für Schritt die Treppe hinauf. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte immer mehr erkennen.

      Alle Befürchtungen schienen unbegründet, hier oben war alles wie immer. Das alte rustikal geschmiedete Bett stand so, als ob dieser Raum der stillste und ruhigste Ort zwischen Grönland und dem Südpool sei. Gern hätte er all seine Gedanken darauf gerichtet, zu rekonstruieren, was in den Stunden, seitdem er sich von Kati verabschiedet hatte, hier in diesem Haus geschehen war. Seine Gedanken machten ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung und er musste unwillkürlich das Bett mit seinem einfachen Metallgestänge anschauen. Wie viele schöne Stunden hatte er hier mit Kati schon verbracht. An den Wänden und an der Decke befanden sich große und kleine Spiegel und an der Kopfseite des Bettes gab es ein Gemälde, das die Silhouetten zweier Menschen zeigt, die sich in den Armen liegen. Ihre doch recht umfangreiche Kleider- und Schuhsammlung bewahrte Kati in ihrem begehbaren Kleiderschrank im Erdgeschoss auf. Der Raum hier oben war einfach zu schade, um ihn mit irgendwelchen Schränken oder Bords jeglicher Art vollzustellen. Dieser Raum war nur dazu da, um zwei Menschen, die sich liebten eine geeignete Spielwiese zu bieten. Obwohl der Begriff „Spielwiese“ viel zu platt ist. „Spielwiese“, das klingt wie ein abgemagerter Spielplatz mit einer Schaukel und einer kleinen Wippe. Nein, dieser Raum war das Olympiastadion, hier wurden Weltrekorde aufgestellt und Champions League und Weltpokal gewonnen. Die Bezeichnung „Hall of Fame“ würde diesem Raum eher gerecht werden. Ob hier oben noch einmal ein Zehnkampf der besonderen Art stattfinden würde, konnte er momentan nicht sagen, aber zumindest müsste man vorher nicht aufräumen.

      Gerne wäre Kaleb noch hinuntergegangen und hätte Bad, Küche und Kleiderschrank kontrolliert, aber ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass die fünf Minuten verstrichen waren und es an der Zeit war, sich aus dem Staub zu machen. Außerdem hatte er zwei seiner drei E-Mails ja noch nicht gelesen.

      Kapitel 4

       Ein Blick in die Vergangenheit

      Warschau, 3. September 1989 in irgendeinem Keller unter einer kleinen kommunistischen Kneipe.

      „Wenn Sie wollen, dass der Eiserne Vorhang wirklich fällt, dann stimmen Sie unseren Bedingungen zu oder der Zloty wird mit Sicherheit auch bei Ihnen Staatswährung und Bananen gibt es nur noch in Carepaketen von Verwandten. Also überlegen Sie gut und dann entscheiden Sie richtig!“

      „Was denken Sie denn, wer ich bin, ich kann das nicht entscheiden. Selbst wenn ich wollte – ich stehe ganz unten in der Befehlshierarchie. Das Einzige, was man mir mitteilt, ist, wann es in der Kantine ein zusätzliches Schnitzel oder 'ne doppelte Portion Pommes gibt. Glauben Sie mir, ich bin lediglich hier, um als Kontaktmann zu fungieren. Also, kommen Sie morgen nach Moskau zum Roten Platz, dort wird Sie dann jemand aufsuchen, der solche Entscheidungen treffen kann. Und überlegen Sie gut, ob Sie kommen, denn ganz ehrlich – ich glaube eher daran, dass auf dem Times Square wieder Bäume stehen, als dass ich in meiner Heimat mit Zloty zahle.“

      „Machen Sie keine dummen Sprüche, das ist ja nicht zum Aushalten! Es ist ganz einfach: Sie geben uns innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden die Koordinaten und wir Ihnen die Wiedervereinigung – schönen Abend noch.“

      „Ihnen auch.“

      Kapitel 5

      Die Reifen drehten durch, als Kaleb über den Schotterweg förmlich zurück auf die Landstraße flog. Auf dem Rückweg hatte er es genauso eilig wie auf dem Hinweg – wen auch immer er verfolgte, momentan war ihm dieser zumindest noch einen Schritt voraus und den galt es aufzuholen.

      Viele Frauen mochten zwar auf seine engen Jean stehen, in denen sein durchtrainierter Hintern gut zur Geltung kam, aber enge Jeans haben in der Regel auch enge Hosentaschen und aus denen beim Fahren das Handy herauszuholen, war schwierig. Endlich hatte er es geschafft.

      „Hey Claudi!“

      „Wer wagt es?“ Die Stimme klang nicht nur verschlafen, sondern auch ein wenig gereizt.

      „Wir haben kurz vor sechs, also wer um alles in der Welt ist so wahnsinnig mich zu wecken?“

      „Hier ist Kaleb – ich brauche deine Hilfe“.

      „Meine Hilfe?! Du, Altes, entschuldige, wenn ich das so sage, Arschloch. Du meldest dich fast anderthalb Jahre nicht bei mir und dann morgens um kurz vor sechs und fragst, ob ich dir helfen kann?“

      „Es ist echt dringend!“

      „Dass es dringend ist, glaub ich dir. Was ist denn los?“

      Diese Frage klang eher ironisch oder fast schon sarkastisch. Der Unterton war gewollt und schwang ganz bewusst und unüberhörbar mit.

      „Wirst du von irgendeiner Frau steckbrieflich gesucht oder hat jemand eine Schlägertruppe auf dich angesetzt?“

      Kaleb ahnte, dass es wohl kein so langes Telefongespräch werden würde.

      „Falls das so ist, sag mir, wo du bist. Dann komm ich und helfe den Jungs. Vielleicht lassen sie mich auch mal zuschlagen.“

      Danach war die Leitung tot und bestimmt nicht durch ein Funkloch.

      Kaleb starrte auf die Straße. Die Nacht neigte sich langsam ihrem Ende und er konnte sehen, wie die Häuser langsam in die Farben der aufgehenden Sonne getaucht wurden. Zwischen den Violett- und Rottönen sah er auch die Dachspitze des Verlagshauses, in dem die Redaktion war, in der er arbeitete. Bis dorthin bräuchte er, da er über die Umgehungsstraße fahren könnte, mit dem Auto von hier aus nur einige Minuten.

      Während der Fahrt hatte er allerdings beschlossen, nirgends hinzufahren, wo er sich in den letzten Tagen oder Monaten aufgehalten hatte. Deshalb schieden seine Wohnung und das Verlagshaus als mögliche Ziele aus. Er wollte auch niemanden aufsuchen, zu dem er in letzter Zeit Kontakt hatte. Es war einfach zu gefährlich. Er wusste noch nicht sicher, wer sein Gegner war, aber eine schlimme Vorahnung machte sich langsam breit.

      Claudi hingegen wäre eine Ausnahme gewesen. Das Intermezzo mit ihr lag nun schon über ein Jahr zurück und war auch eher ein um ein paar Tage verlängerter One-Night-Stand gewesen. An manchen Tagen hasste Kaleb sich dafür selbst, denn seine ganze Liebe galt völlig und ungeteilt Kati, trotzdem konnte er diesen Seitensprung auch nicht als Versehen bezeichnen. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Kati war für zwei Wochen auf einem Lehrgang und er war auf diesem Wahnsinnskonzert von Pink und danach war es eben passiert. Claudi dachte, es könnte wirklich etwas werden, aber ihre Beziehung hatte vier Tage gehalten, danach hatte er Claudi erklärt, dass sie sich auseinander gelebt hätten, was sie ziemlich verärgerte. Damals hatte er noch gedacht, dies sei wohl eine dieser unüberwindbaren Hürden