Christian Geiss

Schattenwende


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oder gar vom Gejagten zum Jäger werden wollte, musste er hier raus. Das Parkhaus hatte drei Stockwerke. Den BMW hatte er im ersten Stock gesehen und sein Auto stand auf Deck C. In solchen Situation half Kaleb nur eins und das war der Bauch. Der sagte ihm, er solle zum Auto zurück. Die kleine Handfeuerwaffe aus dem Halfter am Fuß ließ sich am besten unauffällig in die Hosentasche stecken. Er ging vor der Fahrstuhltür in die Hocke um im Fall der Fälle nicht mit der ganzen Körpergröße als Zielscheibe zu dienen. Wieder schob sich die Tür zur Seite auf und gab langsam den Blick auf das Parkdeck C frei. Es war nichts zu sehen oder zu hören. Entweder war sein Auto schon entdeckt worden oder es konnte nicht mehr lange dauern. Möglichkeiten, Deckung zu suchen, bot das Parkdeck genügend. Jedes der parkenden Autos oder auch die Betonpfeiler, die das Dach des Parkhauses trugen, waren Möglichkeiten, Schutz zu finden. Zwei Parkplätze von seinem Auto entfernt war einer dieser Pfeiler. Er bot ausreichend Schutz und einen freien Blick auf das Coupé. Minute um Minute verstrich, ohne dass etwas passierte. Sogar der Fahrstuhl blieb mit geschlossener Tür stehen und die Anzeige in der Wand zeigte an, dass dieser noch nicht nach unten bestellt worden war. Die Tür zum Treppenhaus konnte er von hier aus auch beobachten, sie war höchstens fünf Meter vom Fahrstuhl entfernt. Vielleicht war derjenige, der ihn verfolgte ja schon am Auto gewesen, aber er konnte nichts sehen. Wenn er ein Profi war, dann war ein Peilsender oder eine kleine Sprengladung auch nicht am Nummernschild oder der Antenne befestigt worden, sondern so, dass sie nur bei genauerer Untersuchung gefunden werden konnten. Er wendete seinen Blick wieder vom Auto zum Fahrstuhl und auf die Tür des Treppenhauses. Die Tür befand sich immer noch im Dornröschenschlaf, aber die Anzeige des Fahrstuhls stand nicht mehr auf drei, sondern blinkte auf der zweiten Etage. Kaleb hatte die Waffe ruhig in der Hand und konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die beiden einzigen Zugangsmöglichkeiten zum Parkdeck.

      Kapitel 11

       Die Vergangenheit nimmt ihren Lauf

      Roter Platz in Moskau, 4. September 1989, 17:22 Uhr.

      „Darf ich Ihnen noch einen Kaffee bringen?“

      Die Stimme des Obers hatte einen sehr ruhigen Klang.

      „Nein danke.“

      Er hatte schon so viel Kaffee getrunken, dass sein rechtes Augenlied bereits angefangen hatte, zu zucken.

      Das normale Verhalten des Obers wäre es wohl gewesen, auf dem Absatz umzukehren und wieder in die Küche zu gehen. Aber er schien wie vom Blitz getroffen zu sein. Er stand einfach nur da. Seine Lackschuhe waren schon ein wenig abgetragen, aber für einen Ober in Russland sehr schick. Seine schwarze Hose schien maßgefertigt zu sein.

      Der Ober hatte ihn schon die ganze Zeit bedient. Allerdings stand er nun zum ersten Mal mit einer Hand in der Hosentasche vor ihm und bewegte sich nicht.

      Nun war auch klar, weshalb er eine ordentliche Hose aus einem ordentlichen Stoff mit einem guten Schnitt trug. Diese Hosentaschen boten mehr Platz.

      Es war auch sicher, dass der Mann nicht mit dem Finger auf ihn zeigte.

      Der Wind wehte immer noch die Blätter über den Roten Platz und nun waren auch die Leute unterwegs, die morgens oder nachmittags noch hatten arbeiten müssen.

      Es war bedeutend mehr los als noch vor einigen Stunden. Es sah fast so aus, als ob sich halb Moskau auf den Beinen befand.

      In einer Ecke trafen sich die ersten Jugendlichen, die abends dort die Zeit totschlugen und wenn sie sie nicht einfach nur mit Nichtstun vergeudeten, dann pöbelten sie vorbeikommende Passanten an.

      Der Ober sah Kaleb weiter an.

      Das weiße Hemd ließ erahnen, dass er vermutlich ziemlich durchtrainiert war.

      „Naja, wenn Sie darauf bestehen, trinke ich doch noch einen Kaffee und Sie können mir dann auch noch ein Stückchen von dem Kirschkuchen bringen, der war sehr lecker!“

      Der Ober reagierte nicht.

      Die Wanduhr im Café Kathinka sprang auf siebzehn Uhr zweiundzwanzig.

      Hinter der Theke stand noch eine weitere Bedienung. Eigentlich hatte er die ganze Zeit darauf gehofft, dass er von ihr bedient werden würde. Denn ihre langen roten Haare leuchteten wie Feuer und außerdem hatte sie eine tolle Figur.

      „Sehen Sie, wenn man nur lange genug darüber nachdenkt, bekommt man auch wieder Hunger – ich werde Ihnen zu dem Kaffee und dem Kuchen auch noch eine neue Serviette bringen.“

      Die Jungs auf dem Roten Platz wurden immer mehr. Bei den Ersten schien sich auch schon der billige Wodka im Blut bemerkbar zu machen. Aber was sollten sie auch tun? Ihr Leben war bedauernswert. Viele wohnten in hässlichen, kleinen Wohnungen und hatten oft kein eigenes Zimmer. Die Wände der Häuser waren dünn und man hörte immer wieder Dinge, die man eigentlich nicht hören wollte.

      Und ihr Blick in die Zukunft sah genauso grau aus wie die ungestrichenen Betonwände der Wohnungen, in denen sie lebten. Also halfen der Wodka oder auch der Klebstoff, das Elend zumindest ein wenig zu verdrängen.

      Allein wegen diesen Jungs musste der Deal über die Bühne gehen.

      Denen, die da draußen mit ihrer Wodkaflasche saßen, war mit Sicherheit nicht klar, dass keine hundert Meter von ihnen entfernt die Weichen für ihre Zukunft gestellt wurden.

      „Hier, Ihr Kaffee und der Kirschkuchen.“

      Der Ober nahm das benutzte Service und stellte es auf sein braunes Tablett.

      „Ich hoffe, Ihr Aufenthalt in Moskau hat Ihnen gefallen und Sie müssen uns für lange Zeit nicht mehr besuchen kommen.“

      Während er dies sagte, legte er die Serviette neben den Teller.

      Kaleb nahm einen Schluck von dem frischen Kaffee und fuhr sich anschließend mit der Serviette über den Mund. Die Serviette war wesentlich fester als die, die er zuvor gehabt hatte. Es fühlte sich an wie ein kleiner Umschlag, der zwischen den dünnen roten Blättern lag.

      Die beiden Männer schauten sich eine Zeit lang in die Augen.

      Die rechte Hand des Obers war wieder in seiner Hosentasche verschwunden. Aber keiner ließ mit seinem Blick von dem anderen ab.

      „Wenn alles in Ordnung ist, dann können Sie bestimmt bald in Berlin oder Hamburg Ihr eigenes Lokal aufmachen.“

      Kaleb holte aus seiner Geldbörse fünfzig Rubel. Das war mehr, als er vertrunken oder gegessen hatte.

      Hoffentlich geht das hier gut, dachte er sich.

      Noch einmal schaute er in das markante Gesicht des Obers. Dann verließ er das Café und würde es vielleicht auch nie wieder betreten.

      Kapitel 12

      Kaleb schaute immer noch auf die blinkende Anzeige des Fahrstuhls. Jetzt musste er sich entscheiden. Es galt, in die Offensive zu gehen. Das Treppenhaus war einfach zu riskant. Dort konnte sich jederzeit jemand hinter einer der Türen zu den Parkdecks verstecken.

      Noch einmal schaute er sich nach allen Seiten um, aber es war niemand zu sehen. Selbst Vögel waren keine unterwegs. Denen war es vermutlich auch schon zu heiß und sie hielten sich lieber in den Wipfeln und Ästen vom Bäumen auf anstatt auf einem Parkdeck.

      Mit einem kurzen Sprint gelangte er zu seinem Auto, wo er einen kleinen Spiegel neben den linken Hinterreifen legte. Wenn alles passte, müsste dieser ihm einen Blick in den Fahrstuhl gewähren, sobald der sich öffnete. Von seinem Auto aus waren es dann nur noch wenige Meter bis zum nächsten Betonpfeiler. Von hier aus konnte er auf den Spiegel schauen. Außerdem war der Pfeiler nah an der Feuerleiter und er konnte das Parkhaus an der Nordseite verlassen oder gegebenenfalls auf das Dach flüchten.

      Die Sekunden verstrichen. Das Blinken der Anzeige im zweiten Stock hatte aufgehört und es leuchtet nun die Anzeige von Parkdeck C.

      Kein Windhauch, kein Vogel, der zwitscherte, keine Sirene und keine Stimmen