Christian Geiss

Schattenwende


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einen so schönen Audi bekomme? Der auch noch so aussieht, als würden unter der Haube mehr PS stecken, als es von außen den Anschein macht. “

      „BND.“

      Jörn zog beide Augenbrauen hoch. Er wusste noch nicht, was hier gespielt wurde, aber hier lief irgendetwas richtig Großes. Dinge, in die man sich besser nicht einmischte oder, falls es gar nicht anders ging, so schnell wie möglich versuchte, wieder herauszukommen. Aber jetzt stieg er erst mal ein.

      Kapitel 9

       Wirren der Vergangenheit

      Roter Platz in Moskau, 4. September 1989.

      Einige Blätter aus einer Zeitung wurden vom Wind durch die Luft geweht. Es war wie im Leben, manchmal gab es einen kräftigen Windstoß von der Seite und die Blätter schlugen eine ganz neue Richtung ein. Es waren nur wenige Leute da, die dem Treiben der Blätter zuschauten, obwohl es noch das Interessanteste war, was an diesem Morgen auf dem Roten Platz passierte.

      Den meisten war es ohnehin egal, ob hier Blätter hin und her flogen oder nicht, sie hielten den Kopf gesenkt und wer einen Schal dabei hatte, hielt ihn schützend vor Mund und Nase. Gemütlicher war es da schon im Café Kathinka an der Ostseite des Platzes. Die komplette Front bestand aus Doppelverglasung und im Sommer konnte man im Freien Kaffee oder Cappuccino trinken. Aber auch jetzt in der kalten Jahreszeit waren viele Gäste gekommen, um sich mit Freunden zu treffen und einen schönen Nachmittag zu verbringen. Das Ambiente war zwar sehr schlicht und die meisten Stühle knarrten verdächtig, aber im Laufe der Jahre hatte sich ein eigenes gemütliches Flair entwickelt. Die Wanduhr zeigte sechzehn Uhr dreißig, das Kuchenbuffet hatte sich bereits geleert und viele ihren Kaffee schon getrunken.

      Er war aber nicht in Hektik zu bringen. Er saß nun seit über drei Stunden hier, las seine Zeitung und trank Kaffee oder Tee. Er wird schon kommen, dachte er sich.

      Kapitel 10

      Kaleb sah sich um, ob ihm etwas Verdächtiges auffallen würde. Im Parkdeck C füllten sich immer mehr Plätze, da das Parkhaus sehr günstig lag und viele Leute, die in der Innenstadt arbeiteten, hier ihr Auto abstellten. Der Eingang zum Treppenhaus und der Fahrstuhl lagen direkt nebeneinander. Eine weitere Möglichkeit, entweder auf das Dach oder in das Erdgeschoss zu gelangen war über die Feuerleiter an der Stirnseite. Kaleb nahm seine Jacke und legte sie auf den Rücksitz. Er hätte gerne auch noch seinen Pulli ausgezogen, da es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonne die Luft auf schwüle fünfunddreißig Grad erhitzt hätte, aber wenn jeder direkt sähe, dass er ein Schulterhalfter mit einer Waffe trug, wäre das nicht gerade vorteilhaft gewesen. Dann hätte er sich genauso gut direkt ein Schild mit der Aufschrift „Polizist oder Gangster – wählen Sie selbst“ um den Hals hängen können. Da nahm er doch lieber in Kauf zu schwitzen.

      „Hast du schon die Acht-Uhr-Nachrichten gehört?“

      Kaleb drehte sich langsam um. Hinter ihm gingen zwei sich angeregt unterhaltenden Frauen vorbei. Leider bekam er nicht mehr mit, was in den Nachrichten gemeldet wurde, da das Gesprächsthema nahtlos von den Nachrichten auf das blau geblümte Kleid der Frau überging, die sich gerade bemühte, ihr Kind aus dem Kindersitz ihres Autos in den bereitstehenden Kinderwagen zu setzen. Im gleichen Moment fiel der Lichtkegel eines Autos, das die Auffahrt hochfuhr, auf die karge Betonwand vor ihm. Seine Gedanken sprangen zurück zu den Möglichkeiten, die sich ihm boten, das Parkdeck zu verlassen.

      Die Frau mit dem blauen Kleid schob nun den Kinderwagen mit dem schreienden Baby an ihm vorbei. Wirklich ein hübsches Kleid, dachte sich Kaleb. Die Spaghettiträger waren auf den gebräunten Schultern kaum zu sehen und das Kleid ging nur bis kurz über die Knie.

      Er stocherte mit dem Schlüssel in seinem Fahrerschloss herum. Seit Wochen hakte nun schon das Türschloss, sodass er Probleme hatte, die Tür auf- und zuzuschließen. Wenn er sich nicht bald darum kümmerte, käme der Tag, an dem der Schlüssel abbrechen und im Schloss stecken bleiben würde. Das wäre wesentlich ärgerlicher und auch teurer, als nur das Schloss austauschen zu lassen. Endlich machte es leise klack und die Tür war verschlossen. Wie erwartet, hatte die Frau sich für den Fahrstuhl entschieden, um in eines der unteren Stockwerke zu gelangen. Zum Glück waren Frau und Kinderwagen nicht das schnellste Gespann, sodass er mit ihnen in den Fahrstuhl steigen konnte. Es war schwer einzuschätzen, aber er hatte das Gefühl, dass die Frau besonders langsam machte, vielleicht, damit er mit ihr in den Fahrstuhl kommen konnte. Oder war es nur das Kleid, das ihn fast schon magisch anzog?

      Höchstens zweieinhalb Quadratmeter, mehr Platz bot der Fahrstuhl nicht, in dem er sich nur Sekunden später befand.

      Viel Zeit für ein Gespräch hatte er nicht, da die Lampe des ersten Stocks leuchtete und dies darauf hinwies, dass Kleid, Frau und Kinderwagen ihn dort wieder verlassen würden.

      „Wirklich interessant, was in der Welt so passiert.“

      „Ich finde es nicht wirklich interessant, sondern eher merkwürdig, dass zwei Minister am selben Tag Selbstmord begangen haben sollen.“

      Das war wirklich interessant.

      Die Frau bückte sich nach vorne und schob dem quengelnden Kind den Schnuller in den noch zahnlosen Mund zurück. Dabei wurden die bisher so gekonnt vom Kleid verdeckten Kurven sichtbar. Die Frau trug zu Recht ein hübsches Kleid.

      Es war so weit, der Fahrstuhl drosselte seine Geschwindigkeit und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich die Türen zum ersten Stock öffneten. Geräuschlos schob sich die silberne Fahrstuhltür nach links in den dafür vorgesehenen Spalt.

      „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“

      Mit Kinderwagen voraus, schritten die Frau und das hübsche blaue Kleid mit Mohnblumen wieder aus seinem Leben. Wie lange blieb so eine Tür wohl offen? Drei, vier oder gar fünf Sekunden? Auf alle Fälle lange genug, um in seinem Blickfeld wahrzunehmen, was dort passierte. Die Frau, deren Namen er nicht wusste, die sich aber gerade von ihm verabschiedet hatte, ging nach rechts – genau dorthin, von wo der langsam fahrende grüne BMW heranfuhr. Kaleb machte einen Satz in die rechte Ecke des Fahrstuhls, in der Hoffnung, dass die Tür zuging, bevor – wer auch immer – einen Blick in den Fahrstuhl werfen konnte. In der sich schließenden Tür spiegelte sich auf dem glänzend polierten Silber die Frau mit dem Kinderwagen. Sie war anscheinend von dem BMW-Fahrer angehalten worden und zeigte nun mit dem linken Arm in seine Richtung.

      Hier entwickelte sich gerade ein Katz-und-Maus-Spiel der ganz besonderen Art. Im Moment war Kaleb die Maus und saß in einer fahrenden Mausefalle. Bevor die Rollen getauscht würden, galt es, sich eine Zeitung zu besorgen und endlich den Inhalt der letzten beiden Mails zu erfahren.

      Eine Maus entkommt der Katze nur, wenn sie entweder nicht aus dem Loch kommt oder Wege geht, die die Katze nicht kennt. Für ihn galt beides, er musste aus dem Loch hier raus und Wege gehen, die er bisher so nicht geplant hatte.

      Die Decke des Fahrstuhls bestand aus locker aufgelegten, schwarz eingefärbten Gipsplatten. Es war ein Leichtes, sie zur Seite zu schieben und sich an der Fahrstuhlwand abgestützt auf dessen Dach hoch zu schwingen, während die Fahrstuhltür wieder zurückglitt und der Aufzug sich in Bewegung setzte.

      Alle Fahrstühle sind nach dem gleichen Prinzip gebaut, während der Fahrstuhl nach oben oder unten fährt, bewegt sich mit gleicher Geschwindigkeit ein Stahlseil mit Gegengewicht in die andere Richtung. Mit einem kurzen Ruck stoppte der Fahrstuhl im Erdgeschoss. Kaleb kniete auf dem Dach und ein gleitendes Geräusch zeigte ihm, dass die Tür sich öffnete. Stimmen waren keine zu hören, sondern nur die Schritte einer einzelnen Person. Gerne hätte Kaleb gewusst, ob es der Fahrer des BMW war, aber es war zu gefährlich, die Deckenplatten zur Seite zu schieben und zu schauen. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Aber es war nur eine kurze Reise, denn nach einem Stockwerk war schon wieder Schluss. Die Tür öffnete sich und wieder hörte Kaleb nur einzelne Schritte, die in die Ebene des zweiten Stockes traten, ohne dass eine andere Person den Fahrstuhl betrat. Kaleb schob die Gipsplatte zur Seite und ließ sich genauso geschmeidig wieder