Christian Geiss

Schattenwende


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war eine echte Ausnahme.

      „Notruf eins eins null, was ist Ihr Anliegen?“

      Auch diesmal passierte nichts. Wieder war kein Ton zu hören. Damaris Rollflügel hielt den Atem an. Sie wollte gerade den Knopf für die Funkverbindung mit einem heute Nacht tätigen Streifenwagen betätigen, als sie zwei gedämpfte Schüsse im Erdgeschoss der Polizeistation hörte.

      Kurze Zeit später ging das Licht im Treppenhaus an und sie vernahm Schritte. Ihr Puls sprang auf zweihundert und sie konnte das Pochen ihrer Halsschlagader spüren, ihre Hände waren schweißnass und ihr Mund wurde trocken.

      Die Schritte im Treppenhaus kamen immer näher. Schnell drückte Damaris den Knopf für die Funkverbindung mit einem der diensthabenden Streifenwagen.

      „Notfall in der Zentrale, bitte direkt kommen.“

      Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis derjenige, der dort die Treppe hinauf kam, die Tür zu ihrem Büro aufstoßen würde. Da sie keine Polizistin, sondern lediglich Angestellte für den Polizeinotruf war, hatte sie nicht einmal eine Waffe. Aber sie wusste, dass einer der Polizisten, eine Pistole in der oberen Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte – allerdings befand sich dessen Büro am anderen Ende der Etage und so war es unmöglich, jetzt dorthin zu gelangen, ohne demjenigen, der auf der Treppe war zu begegnen. Sie glitt von ihrem Stuhl und versteckte sich unter ihrem Schreibtisch. Auf der Straße konnte sie entfernt die Sirenen des Streifenwagens hören, sie lauschte, ohne die Augen von der Tür ihres Büros zu lösen. Nach ihrer Berechnung musste sich diese jeden Moment öffnen. Ihr Blick fixierte die Türklinke, aber nichts passierte. Die Schritte, die sie vor wenigen Momenten noch deutlich gehört hatte, waren verschwunden. Das Einzige, was jetzt durch die Räume schallte, waren die Sirenen, die höchstens noch eine Straße von der Polizeistation aufheulten. Ihre Kehle war trocken und ihre Hände schweißnass. Der Streifenwagen war jetzt vor der Polizeistation, die Sirenen verstummten und das Einzige, was sie hörte, waren zwei flüsternde Männerstimmen. Es dauerte nicht lange, dann stand Rainer Heimer, einer der Polizisten dieser Station, mit erhobener Waffe in ihrem Büro. Eine Sekunde später betrat ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte, mit der Waffe im Anschlag den Raum.

      „Damaris, was ist los?“, sagte Rainer und seine Stimme hatte etwas an sich, dass sie schwer zuordnen konnte. Augenblicklich wurde ihre Haut aschfahl und mit zitternder Stimme antwortete sie auf die Frage. „Irgendjemand war hier in der Station und es gab zwei Schüsse. Wo sind die beiden Wachleute, die unten im Foyer Dienst haben?“ Eigentlich war ihr die Antwort klar.

      Rainer nahm ihre Hand. Damaris fiel sofort auf, dass seine Hand ganz kalt war. „Sie sind tot“, sagte er leise. „Hast du irgendjemand gesehen? Oder war irgendetwas Ungewöhnliches in dieser Nacht?“

      „Gesehen habe ich nichts, ich habe nur die zwei gedämpften Schüsse gehört. Ja und dann gab es da ein Telefonanruf. Es hat wie ein Jungenstreich geklungen. Ich habe aber alles auf Band und werde es morgen dem Chef vorspielen.“

      „Hast du Herrn Becher noch nicht über die Vorfälle informiert?“

      „Nein, bis jetzt noch nicht. Ich denke, wir sollten ihn anpiepsen und dann auch direkt die Spurensicherung aus Dieken kommen lassen.“

      Das „lassen“ wäre ihr fast im Hals stecken geblieben. Rainers Hand hatte ihre losgelassen. In seinen Augen sah sie, dass etwas nicht stimmte. Rainer wusste, wie man mit einer Handbewegung jemandem die Halswirbel brechen konnte. Aus seiner Tasche holte er einen schwarzen Lederhandschuh, wie ihn alle Polizisten mit sich führten. Er streichelte ihr mit der linken Hand über das blonde, kurz geschnittene Haar. Dann schnellte seine Rechte an ihren Unterkiefer, sodass der Kopf ruckartig nach hinten flog.

      Es knackte, wie wenn man dürres Holz im Winter für den Kamin klein machte. Nur, dass hier kein dürres Holz gebrochen wurde, sondern einer der Halswirbel von Damaris Rollflügel. Eigentlich hätte Damaris nun die letzte Ehre zu Teil werden sollen. Jedoch war dort niemand, der für sie ein Gebet sprach oder ihre vor Todesangst geweitet Augen schloss. Erst, wenn die Spurensicherung ihren Job gemacht hatte, würde sie mit einem städtischen Leichenwagen abtransportiert werden und dann würden auch ihre Augen geschlossen werden.

      Für Rainer war dies hier ein Job, für den er bezahlt wurde und diesen wollte er gut ausführen. Mit seiner rechten, immer noch vom Lederhandschuh geschützten Hand, drückte er somit den Notrufknopf, um zusätzliche Streifenwagen zur Station zu ordern. Als Nächstes wurde Jörn Becher angepiepst und die Spurensicherung aus Dieken gerufen. Alles musste jetzt sehr schnell gehen. In der Regel braucht der nächstgelegene Streifenwagen höchstens drei Minuten bis zur Polizeistation und Herr Becher würde auch in den nächsten zehn Minuten hier auftauchen. Er war zwar ein unausstehlicher Typ, hatte aber einen Scharfsinn, der nicht unterschätzt werden durfte.

      Kapitel 3

      Vier Stunden Schlaf sind viel zu wenig, dachte Kaleb, als er beim Piepsen des Weckers sein Daunenkissen über den Kopf legte, um dieses schrecklich gleichmäßig monotone Piepsen nur noch gedämpft hören zu müssen. In der Küche sprang die elektronische Zeitschaltuhr der Kaffeemaschine an. In wenigen Minuten würde die Küche von Kaffeeduft erfüllt sein. Dann ein paar Aufbackbrötchen mit Nutella und der hausgemachten Erdbeermarmelade, die er jedes Mal auf dem Bauernhof einkaufte, wenn er dort Kati bei ihren Reitstunden zuschaute. Zu der Erdbeermarmelade noch ein wenig Quark, obwohl er sich da nicht mehr sicher war, ob er noch ein Päckchen im Kühlschrank hatte. Allmählich konnte er sich damit anfreunden aufzustehen, wenn da nicht immer noch dieses monotone Piepsen des Weckers gewesen wäre. Er zog das Kopfkissen zur Seite und betätigte den Schieber an seinem Wecker, sodass zumindest dieser Krach ein Ende hatte. Das einzige Geräusch war nun das Dampfen der Kaffeemaschine. Drei Tassen schwarzer Bohnenkaffee warteten darauf, sein Blut in Wallung zu bringen. Noch mehr als über drei Tassen Kaffee hätte sich Kaleb jetzt gefreut, neben Kati aufzuwachen und ihr einen Guten-Morgen-Kuss zu geben. Aber er hatte ihr eindeutiges Angebot gestern Abend im Auto ja abgelehnt. Es half nichts, er musste jetzt aufstehen. Sein morgendlicher Rundgang durch die Wohnung zeigte ihm, dass alles in Ordnung war, die Vorhängeschlösser waren an ihrem Platz, alle Jalousien unten und die Fenster geschlossen. Wenn er jetzt die Brötchen in den Backofen stellte, hatte er noch zehn Minuten zum Duschen und Rasieren, das sollte reichen.

      Das Bad war das größte Manko in seiner Wohnung. In erster Linie war es viel zu klein. Offenbar hatte der Monteur, als er hier die Armaturen anbrachte, einen ganz schlechten Tag gehabt. Das Waschbecken hing gerade so tief, dass es für Leute von einem Meter sechzig oder kleiner geeignet war. Kaleb hingegen musste sich mit seinen ein Meter einundachtzig immer bücken. Eigentlich war das ganze Bad für Kleinwüchsige. Der Duschkopf konnte höchstens auf einen Meter siebzig geschoben werden, Kaleb musste beim Duschen immer in die Hocke gehen. Der Spiegel vom Hängeschrank zeigte ihm, wenn er aufrecht stand, gerade noch die Mitte seiner Stirn, aber nicht mehr seine Haare. Egal, das Haus hatte zwanzig Wohnungen und war so anonym, dass sich keiner dafür interessierte, was sein Nachbar macht oder nicht macht und der Vermieter lebte irgendwo in Australien. Wenn die Miete pünktlich gezahlt wurde, bekam man auch den Hausverwalter, Herrn Ropp, nie zu Gesicht. Herr Ropp war ohnehin ein besonderer Mensch. Er hatte als Hausmeister die Wohnung im Erdgeschoss bezogen. Kaleb hatte im Fahrstuhl einmal mitbekommen, wie zwei Frauen wetteten, dass selbst eine kommunistische Wanderschnecke schneller sei als Herr Ropp, und innerlich hatte er ihnen recht gegeben und gegrinst. Nein, Herr Ropp würde nie freiwillig eine Wohnung inspizieren, und selbst wenn er darum gebeten wurde, dauerte es Tage, wenn nicht Wochen, bis er den Ersatzschlüssel gefunden hatte und sich zu der Wohnung aufmachte.

      Daher war die Wohnung für ihn perfekt. Es war eines von zwei etwas höheren Häusern in der Stadt und dadurch, dass er im obersten Stockwerk wohnte, konnte ihm auch eigentlich nie jemand ins Fenster schauen.

      Er griff nach dem dunkelblauen Handtuch, das auf dem Hocker neben der Dusche lag.

      In der Küche waren die Brötchen schon seit einigen Minuten fertig, aber nicht verbrannt, sondern goldbraun und knackig warm. Er wollte erst ein paar Brötchen essen und zumindest eine Tasse Kaffee trinken, bevor er seine E-Mails abrief und sich die neuesten News im Internet anschaute. Das mit den E-Mails war immer ein