Christian Geiss

Schattenwende


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Ropp am Wohnzimmerfenster zu klopfen und dort durch den Hintereingang ins Treppenhaus zu gelangen oder, ohne dass jemand etwas mitbekommt, die Feuerleiter außen hochsteigen, um dann von dort aus in seine eigene Wohnung einzusteigen. Er ließ die Lenkradsperre einrasten und überprüfte noch einmal die Waffen in seinem Halfter und an seinem Fußgelenk, denn nun hieß es aussteigen und erst einmal den Weg bis zur Diamond Street unbeschadet zu überstehen.

      Kapitel 8

        Deutschland einige Tage zuvor -

      Lichtach war längst in großer Aufregung. Es war, als würde es gar kein anderes Thema mehr geben. Insgesamt waren in den letzten Tagen drei Polizisten und Frau Rollflügel gestorben. Die meisten Männer trauerten allerdings mehr um Frau Rollflügel als um die Polizisten. Denn Damaris Rollflügel war das, was landläufig als „Sexbombe“ bezeichnet wird. Es hatte wohl kaum einen Mann gegeben, der sich nicht nach ihr umgedreht hatte, wenn sie grazil über den Bürgersteig schwebte. Mancher Mann, der seine Augen nicht von ihr lassen konnte, musste sich dann eine Standpauke von seiner Ehefrau anhören, wenn die Wohnungstür ins Schloss gefallen und die Tüten vom Einkaufsbummel abgestellt waren. Aber das war nun vorbei, an die Schönheit des kleinen Ortes würde nur noch ein schlichtes Holzkreuz auf dem Friedhof erinnern. Ebenso wie an die drei gestorbenen Polizisten.

      Jörn stand vor dem Revier und inhalierte den Rauch seiner Zigarette. Eigentlich musste es Suizid gewesen sein – aber wie bloß? Die Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden und die Füße an das Tischbein gekettet, aber zu Beginn der Befragung hatte er noch gelebt. Es blieb nur ein langsam wirkendes Gift. Gut, dass er kein Pathologe war, allein bei der Vorstellung, in Magen und Darm nach Giftrückständen zu suchen, löste bei ihm einen Brechreiz aus. Aber was wäre, wenn sie nichts finden würden? Die Kamera des Überwachungsraums hatte er selbst noch ausgeschaltet und den zweiten Polizisten, der anfangs noch im Raum gewesen war, hatte er hinausgeschickt. „Ich werde das alleine regeln“, hatte er gesagt. Sein Stresspegel stieg immer weiter.

      „Darf ich mich zu Ihnen stellen?“ Weder die Stimme noch das dazugehörige Gesicht kamen ihm bekannt vor. Er musterte mit seinen Augen sein Gegenüber. Die Schuhe waren recht stabil, keine Sportschuhe und auch keine Discotreter, eher die Sorte stabiler Wanderschuh, darüber eine dunkle Cordhose, die zusätzlich von einer massiven Gürtelschnalle zusammengehalten wurde. Der Pulli schien sehr dick zu sein und um die Schultern hing ein langer schwarzer Trenchcoat. Der Bart sowie die markant dunklen Augen, die durch die randlose Brille noch betont wurden, vervollständigten das Bild.

      „Lassen Sie mich raten … Reporter.“

      „Nicht so vorschnell mit den jungen Pferden. Sagen wir, ich bin jemand, der sich für viele Dinge interessiert und Antworten auf Fragen sucht, die niemand stellt.“

      „Also doch Reporter.“ Jörn steckte seine Zigaretten wieder ein und wollte gehen.

      „Rauchen Sie lieber noch eine mit mir, Sie können in der Sache hier ganz schön Probleme bekommen und dann sind Sie bestimmt froh jemanden zu haben, der Ihnen Antworten geben kann.“

      Die Eingangstür zur Wache öffnete sich, zwei Polizisten, deren Schicht wohl gerade zu Ende war, kamen heraus und gingen langsam sich unterhaltend die Treppe hinunter.

      „Okay – aber nicht hier.“

      „Wo denn dann?“

      „Ich wollte sowieso noch etwas trinken, lassen Sie uns vorne in die Eckkneipe gehen.“

      „Guter Vorschlag, dann könnten wir unser Gespräch auch gleich auf Flugblätter drucken und in der Stadt verteilen.“

      „Haben Sie eine bessere Idee?“

      „Lassen Sie uns einfach ins Auto steigen und ein wenig umherfahren. Es ist mir auch egal, ob wir Ihren oder meinen Wagen nehmen.“

      Noch einmal schaute Jörn sein Gegenüber durchdringend an. Er ließ den Blick auf dem langen Trenchcoat haften.

      „Wissen Sie, wie viel hier in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert ist?“

      „Ja.“

      „Bevor ich mit Ihnen in ein Auto steige, öffnen Sie bitte Ihre Jacke, damit ich weiß, worauf ich mich hier einlasse!“

      „Kein Thema.“

      Er öffnete die Jacke. Außer dem Pulli war nichts zu sehen.

      „Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt“, sagte er mit einem breiten Lächeln. „Nathan Sieben.“

      Jörn reichte ihm die Hand. „Jörn Becher, Kommissar in Lichtach und seit zwei Stunden vom Dienst suspendiert.“

      „Ist mir bekannt, deshalb bin ich hier“

      „Sie sind doch von der Presse, oder?“ Jörn hielt im Sprechen kurz inne und blickte noch einmal zu dem Fremden. Irgendwie hatte dieser schon einige Ähnlichkeit mit einem nervigen Reporter.

      „Die Presse mag ich so wenig wie ein Eisbär das Ozonloch, wenn Sie verstehen, was ich meine“, sagte er, was er dachte.

      „Ich arbeite so, dass nicht alle Welt davon mitbekommt und ich will auch keine Sensationsberichte, sondern nur, dass alles seine Ordnung hat.“

      Herr Sieben drehte sich um und ging langsam die Straße hinunter. Die Straßenlaternen gingen erst um dreiundzwanzig Uhr dreißig an, so waren die einzigen Lichter, die die Straße erhellten, die Sterne und ein wenig Licht aus den umliegenden Fenstern.

      „Kommen Sie, mir wird kalt und es ist auch schon bald zweiundzwanzig Uhr, wir sollten uns auf den Weg machen.“

      Jörn wusste schon gar nicht mehr, wie lange er vor dem Revier stand. Seine Zehen schmerzten vor Kälte und die Lippen begannen langsam taub zu werden.

      „Sie haben mir ja noch gar nicht gesagt, wo es hingeht und das interessiert doch ein wenig.“

      „Das sage ich Ihnen, wenn wir unterwegs sind – vertrauen Sie mir einfach.“

      Seine Waffe hatte Jörn mit der Dienstmarke zusammen abgeben müssen, somit konnte er sich darauf schon einmal nicht mehr verlassen. Aber was gab es zu verlieren? Seit drei Jahren war er geschieden, die Unterhaltszahlungen für seine Kinder fraßen den größten Teil seines Gehalts, und da es nun so aussah, dass sein Beamtendasein mit dem schönen geregelten Einkommen auch seinem Ende zuging, war er vielleicht sogar bald gezwungen, sein Haus verkaufen, das er vor acht Jahren noch mithilfe des Bauspardarlehens komplett saniert hatte. In diesem Jahr hatte er die einfache Verglasung durch schön gerahmte Doppelglasfenster aus Holz ausgetauscht und im Wohnzimmer hatten er und seine Ex-Frau, sich eine schöne neue Couchgarnitur inklusive Kamin gegönnt. In gewisser Weise waren die Couch und der Kamin auch der Grund für die Scheidung gewesen, nicht weil sie sich diesen Luxus eigentlich nicht hätten leisten können, sondern weil seine Ex-Frau ihn dort in flagranti mit seiner Kollegin erwischt hatte. Da hatte auch die Ausrede, dass sie vor der Haustür von einem plötzlichen Platzregen erwischt worden seien und ihre Kleider nur ausgezogen hätten, weil sie sonst erfroren wären, nicht geholfen. Eine Woche später war der Brief vom Anwalt mit der Scheidungsklage da gewesen. Vor einigen Tagen, als er schon einmal über seine Lebenssituation nachgedacht hatte, war er schon kurz davor gewesen, sein Leben wie Private Paula in dem Film „Full Metal Jacket“ zu beenden, aber dafür war sein Lebenswille doch zu stark gewesen und außerdem besaß er keine Pumpgun.

      Aber jetzt, wenn er auch noch sein Haus verkaufen und seinen Job als Polizist an den Nagel hängen müsste, dann wäre das Maß mehr als voll. Dann wäre Schluss.

      „Ich komme mit.“

      Nathan Sieben blieb fünf Meter vor ihm stehen. „Dann auf, bewegen Sie Ihren Allerwertesten, oder muss ich Sie holen kommen?“

      Schweigend gingen sie nebeneinander her.

      „Sie haben einen guten Geschmack“, sagte Jörn, als Nathan eine Straße weiter auf den elektronischen Türöffner seines Schlüsselbundes drückte.

      „Ist