Christian Geiss

Schattenwende


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unerreichbaren und für ihn unverständlichen Gefühlsebene. Sie weinen schreien, werfen mit Gegenständen um sich und rufen Sätze wie: „Vor Männern wie dir hat mich meine Mutter gewarnt!“ oder „Mach dich dahin, wo der Pfeffer wächst!“

      Ganz nüchtern betrachtet gab er ihr heute in einigen Punkten recht. Im Rückblick betrachtet war es wirklich schwer, nach vier Tagen von „Auseinanderleben“ zu sprechen. Aber das Theater, das Claudi damals veranstaltet hatte, war auch ein wenig überzogen und wirklich broadwayreif gewesen. Sie hatte sich fast so aufgeführt, als ob sie jahrelang verheiratet gewesen wären, fünf gemeinsame Kinder und ein Haus gehabt hätten und das war ja nun auch nicht der Fall gewesen.

      Selbst wenn sie ihm nun nach so langer Zeit und dem etwas unglücklichen Auseinandergehen, heute Morgen gesagt hätte, dass er kommen könnte, dann hätte er ihr immer noch erklären müssen, dass er nicht auf der Suche nach einem langen klärenden Gespräch war oder es um eine Entschuldigung ging, sondern dass er lediglich ihren PC bräuchte, damit er seine E-Mails abfragen konnte.

      Kapitel 6

       Deutschland einige Tage zuvor –

      In Lichtach gingen langsam die Lichter wieder an.

      Es war sogar ein ausgesprochen schöner Morgen und in einer so kleinen Stadt gibt es eine ganze Reihe festgelegter morgendlicher Rituale.

      Auf dem Weg zur Dorfschule, die sich direkt neben der Dorfkirche befindet, werden Erst- bis Drittklässler von Jungs aus der vierten Klasse verhauen, dann werden ihnen die Pausenbrote geklaut und der Inhalt des Schulranzens wird auf der Straße verteilt. Auf dem Weg zur Schule befindet sich die kleine Bäckerei des Ortes. Dort wird das letzte Taschengeld für Süßigkeiten oder ein Teilchen für die Pause ausgegeben und dort gibt es auch die besten Brötchen im ganzen Kreis, die natürlich auch besser sind als das Vollkornbrot, das die leckere Salami in einen schier undurchdringlichen Wust von Körnern einschließt. Aber seinen eigentlichen Ruhm, auch weit über die Grenzen von Lichtach hinaus, hat diese Bäckerei mit einem einmaligen Hefezopf erlangt. Hefezöpfe – ja, davon würden heute Morgen wohl ein paar mehr bestellt werden als sonst. Da Hefezöpfe genauso wie Streuselkuchen auf jede Kuchenplatte einer Beerdigung gehörten und wenn der Bäckermeister der Zeitung glauben durfte, dann war die Einwohnerzahl von Lichtach letzte Nacht um drei Personen gesunken.

      „Also noch einmal, Herr Heimer. Was war letzte Nacht hier los?“

      Es war ein karger Raum, der nur aus Beton, einem Tisch und zwei Stühlen bestand. Der Tisch stand in der Mitte des Raumes und darauf stand ein kleines Aufnahmegerät, das permanent mitlief.

      „Spreche ich vielleicht Suaheli, Sie kleines Würstchen?“

      Jörn Becher war nun von der äußersten Ecke des Raumes schnellen Schrittes hinter den einzig besetzten Stuhl am Tisch gegangen.

      Man konnte ihm ansehen, dass er am liebsten all die Dinge ausprobiert hätte, die er in seiner Ausbildung gelernt hatte. Jetzt ein Schlagstock, dachte er bei sich. Ein Schlag mit voller Wucht auf das Schlüsselbein und die Schulter wäre für immer unbrauchbar gewesen. Oder warum nicht von der Seite mit voller Kraft in die Nieren schlagen. So einen Nierenschaden spürt man auch bis ins hohe Alter. Wenn dann jede Woche der Anruf vom Arzt kommt, der einen zur Dialyse bittet, damit das Blut von den Giftstoffen befreit wird, weil die Nieren ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Natürlich war das nur eine Auswahl an Möglichkeiten. In einem Film hatte er mal gesehen, wie das die Gangster in Sizilien angeblich machen und dort hatte er sich schon einige Inspirationen geholt, die er zu gegebener Zeit einmal ausprobieren wollte. Deshalb war er vor dem Verhör auch noch in den Aufzeichnungsraum gegangen und hatte die Videokamera für Raum 2 ausgeschaltet. Er war fest entschlossen, die Informationen, die er brauchte aus Heimi, wie er in Kollegenkreisen genannt wurde, herauszuholen, bevor der Staatsanwalt Untersuchungshaft verhängen würde und er dann für Monate, Jahre oder immer in einer Zelle verschwinden würde.

      „Es ist ganz einfach: Ich zähle nun langsam von zehn runter. Innerhalb dieser Zeit schafft es ein Spaceshuttle, in den Weltraum zu starten, also werden Sie wohl auch anfangen können, zu reden. Noch einmal zur Erinnerung – ich will gar nicht viel wissen, keine Schuhgröße und kein Lieblingsessen, nur ein paar ganz einfache Informationen. Warum musste Frau Rollflügel sterben? Und wo ist dieses verdammte Band von gestern Nacht?“

      Wieder herrschte absolute Stille. Keine Uhr, die tickte. Da es keine Fenster gab, fiel auch kein Sonnenlicht in den Raum, kein Vogelgezwitscher war zu hören und die kargen Betonwände gaben auch keinen Ton von sich.

      Jörn hielt den Atem an. Es war viel zu still und das viel zu lange schon. Heimi hatte die Hände auf dem Rücken mit einem Kabelbinder zusammengebunden und die Füße waren mit Handschellen an den Tischbeinen angekettet.

      Jörn lauschte. Es war nicht einmal das langsame Heben und Senken eines Brustkorbes zu hören, es fehlte auch das flache unterdrückte Atmen, das er noch vernommen hatte, als er hinten in der Ecke vor der Tür gestanden hatte. Es war schlicht und einfach gar nichts mehr zu hören.

      „Heimi, die zehn Sekunden sind rum.“

      Statt ihn mit dem Gummiknüppel zu schlagen, tippte er Heimi ganz leicht von hinten an die Schulter.

      Nun war zumindest wieder etwas zu hören.

      Heimi kippte wie ein Klappmesser nach vorne und schlug frontal mit dem Gesicht auf den Tisch. Dieser dumpfe Aufschlag war das einzige Geräusch. Kein Aufschrei.

      Nur dieser dumpfe Ton, der so schwach war, dass es nicht einmal einen Widerhall von den Betonwänden gab.

      Es herrschte wieder Schweigen. Wie die ganze Zeit.

      „Scheiße, scheiße, scheiße!“

      Jörn Becher schaltete das Aufnahmegerät aus und ging, ohne sich umzudrehen. Das war alles zu viel für ihn. Jetzt musste er erst einmal eine rauchen und sich einen doppelten Whisky genehmigen.

      Kapitel 7

      Kaleb hatte eigentlich keine Wahl, es blieb doch nur seine Wohnung, um die letzten beiden E-Mails abzufragen. Inzwischen war die Sonne schon aufgegangen und es schien wirklich ein schöner Tag zu werden, zumindest was das Wetter hier an der Ostküste der USA betraf. Wie sich das Weltklima in den nächsten Tagen entwickeln würde, konnte er beim besten Willen nicht sagen, aber irgendwie war ihm klar, dass er zumindest was das betraf, eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielen würde. Da der Berufsverkehr eingesetzt hatte, musste er sich durch die nun langsam dichter werdenden Straßen wühlen. Ihm fiel ein BMW mit einer grün-metallic Lackierung mit Perleffekt auf. Auch wenn dieses Auto nie direkt hinter oder neben ihm war, sondern immer mit einigem Abstand fuhr, so geboten Kaleb sowohl Vorsicht als auch Instinkt, sich bei der nächstbesten Möglichkeit das Nummernschild zu notieren. Möglichkeiten dazu hatte er in seinem Auto genug, in der Seitentür flogen einige Zettel und ein Kugelschreiber herum, im Fußraum des Beifahrersitzes lagen noch diverse leere McDonald’s-Tüten, die er immer dort aufbewahrte, bis er sich die Zeit nahm, sie entsprechend den gegebenen Verordnungen zu entsorgen, auch das Kaugummipapier in der Mittelkonsole würde als mögliche Schreibunterlage ausreichen. Oder eben einfach der Handrücken. Es war aber gar nicht so einfach das Nummernschild zu erkennen, der BMW war zwar immer irgendwo hinter ihm zu sehen, aber es waren doch jeweils drei bis vier Autos dazwischen. Es gab eigentlich nur die Möglichkeit, in eine kaum befahrene Seitenstraße zu wechseln, dort das Nummernschild zu erhaschen und sich dann mit quietschenden Reifen aus dem Staub zu machen. Die Ampel sprang auf Gelb und intuitiv trat Kaleb das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die 180 PS mit sechs Zylindern zeigten, was in ihnen steckte und die Kreuzung lag direkt hinter ihm. Es war klar, dass zumindest der silberne Focus, der zwei Autos hinter ihm gefahren war, stehen bleiben würde und so auch der grüne BMW für die Zeit, in der die Ampel auf Rot stand, eine Ruhepause einlegen musste. Denn noch wichtiger als das Nummernschild waren die beiden noch nicht gelesenen E-Mails und derjenige, der im grünen BMW hinter ihm war, würde schon wieder auftauchen – das war sicher. Zwei Blocks von seiner Wohnung entfernt war das dreistöckige Parkhaus des