Rike Waldmann

Vier gewinnt


Скачать книгу

nicht mehr. War nur ein paarmal im Jahr zu Besuch dort. Und jetzt musste ich es ausräumen.“

      „Das war bestimmt nicht leicht.“ Marlene sah ihn mitfühlend an. „Nein. Aber ich habe beschlossen, dort wieder einzuziehen: Ein wunderschönes Gründerzeithaus mitten in Köln, zentral und komfortabel. Für Oma war es eigentlich schon längst viel zu groß. Aber sie wollte nicht mehr umziehen. Was ich immer gut verstanden habe.“

      Nachdenklich blickte Stefan Sommer auf seinen Teller. Da lag nur noch eine einsame halbe Knoblauchzehe herum. „Zufrieden blickte er Marlene an: „Bestellen wir noch einen Nachtisch? Ich liebe gebackene Bananen.“ Damit war er nicht allein.

      „Als sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, erzählte Stefan schließlich den Rest der Geschichte: „Natürlich musste ich entrümpeln. Und renovieren. Und wie gut, dass ich nicht einfach ein Unternehmen beauftragt habe, sondern alles selbst einmal in die Hand genommen habe. In der Wäschekommode fand ich eine Blechschatulle. Eine alte Keksschachtel. Und darin ein dickes, handgeschriebenes Tagebuch. In Sütterlin, versteht sich. Das wird mich noch Nerven kosten. Auf der ersten Seite stand in Schönschrift: ‚Mein Leben, meine Liebe und meine Passion. Von Mathilde Jäger‘.

      „Ein Tagebuch. Ein authentisches Zeitzeugnis“, Marlene war fasziniert. „Das ist ja fantastisch. Wollen Sie es edieren? Oder als Basis für ein beschreibendes Werk nehmen?“

      „Das ist genau die Frage, für die ich Beratung brauche. Eigentlich möchte ich beides. Das Original sprechen lassen, aber den Leser und die Leserin nicht im Nebel stochern lassen. Ich denke, man muss da schon ein paar Infos dazugeben, damit es verständlich wird. Aber dröge Wissenschaft soll es natürlich nicht werden. Das könnte ich auch gar nicht.“

      „Hmm, verstehe. Würden Sie es mir anvertrauen, damit ich mir ein Bild machen kann, bevor ich eine Empfehlung ausspreche?“ Jetzt hatte Marlene Blut geleckt und war ganz in ihrem Element. Sie bestellten noch ein zweites Bier und verließen das Restaurant erst, als der Kellner diskret begann, die Beleuchtung zu dimmen.

      Draußen sagte Stefan Sommer: „Jetzt weiß ich, warum Andreas Sie mir empfohlen hat. Zum ersten Mal seit Monaten sehe ich das Ganze plastisch vor mir. Weil Sie die richtigen Fragen gestellt haben. Ich danke Ihnen sehr für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben. Und jetzt bringe ich Sie zu Ihrem Hotel und rufe mir da ein Taxi.“

      Marlene war es recht. Allmählich merkte sie doch, wie müde und kaputt sie inzwischen war. Kein Wunder, Mitternacht war bereits vorbei. Sie mussten nur einmal um die Ecke gehen, dann stand sie schon vor dem kleinen Hotel, in dessen Apartments der Verlag seine Mitarbeiter während der Messe immer unterbrachte. Zufrieden verabschiedete sie sich von Stefan Sommer. Das versprach eine runde Sache zu werden.

      Home, sweet Home

      Es war schon dunkel, als Marlene am Samstagabend die Haustür aufschloss. Sie war ziemlich erledigt. Erst hatte sie im Intercity zwei Stunden stehen müssen, weil der Wagen mit ihrem reservierten Platz dem Zug irgendwo zwischen München und Frankfurt abhandengekommen war. Das erlebte sie nicht zum ersten Mal – und wie immer blieb es ein völliges Rätsel, wie so etwas passieren konnte. Zumindest offiziell. Inoffiziell kursierten auf dem Gang, wo sie mit vielen anderen Messeheimkehrern erschöpft auf ihrem Koffer saß, wilde Gerüchte: Von Doppelbuchungen bis zum Totalschaden der Klimaanlage war alles dabei.

      Marlene war es eigentlich herzlich egal, warum ihr Platz nicht da war, sie ergab sich in ihr Schicksal und versuchte die Fahrt irgendwie zu überstehen. Das gelang auch, aber als sie am Bahnhof endlich in ihr Auto umstieg, hatte sie Rückenschmerzen. Kein Wunder. Jetzt eine schöne warme Dusche und dann ein gemütlicher Abend auf dem Sofa. Ein Glas Wein, ein bisschen kuscheln mit Lukas, den sie fast eine Woche nicht gesehen hatte. Und morgen, am Sonntag, lange ausschlafen. So sah ihr Programm für die nächsten vierundzwanzig Stunden aus.

      Im Erdgeschoss war alles dunkel und still, im ersten Stock auch. „Schatz, ich bin da. Haaallo“, Marlene machte sich bemerkbar. Keine Reaktion. Hmm. Es war nicht abgeschlossen und das Auto stand auch in der Einfahrt. Weit konnte Lukas also nicht sein. Vielleicht kurz beim Nachbarn? Sie kickte ihren Koffer ins Arbeitszimmer und beschloss, sich auf jeden Fall erst einmal die ersehnte Dusche zu gönnen. Zehn Minuten später war sie in ihren Lieblings-Schlafanzug geschlüpft und föhnte sich gerade die Haare trocken, als die Haustür aufgesperrt wurde.

      „Hallo, Lukas! Liebling, ich bin wieder da“, Marlene stellte den Föhn ab und trug noch schnell etwas Feuchtigkeitscreme auf. Dann lief sie die Treppe hinunter, um ihrem Schatz um den Hals zu fallen. Doch der war nirgends. Merkwürdig. Sie hatte doch ganz deutlich die Tür gehört? Ah, im Keller brannte jetzt Licht. Also noch eine Treppe tiefer. „Hier bist du“, sie umarmte Lukas, der sich an seiner Werkbank zu schaffen machte, von hinten und schmiegte sich an ihn.

      „Hm, schön, dass du wieder da bist“, nuschelte Lukas. „Hab mit Tim über die neue Gartenbank am Zaun gesprochen. Wir machen sie jetzt doch selbst. Muss da eben was vorbereiten.“ Er küsste sie flüchtig, wobei er sich kaum umdrehte, und machte sich dann wieder an den Latten zu schaffen, aus denen vermutlich mal Armlehnen werden sollten.

      „Aber das musst du doch nicht heute machen, oder? Wir haben uns die ganze Woche nicht gesehen …“ Marlene war enttäuscht. „Ach doch, lass mich mal machen, jetzt hab ich grad so einen Lauf. Du willst dich doch bestimmt sowieso ausruhen. Schlaf schön – und morgen unternehmen wir dann was zusammen.“ Lukas war in Gedanken ganz woanders. Mist. So viel zu Kuscheln und Wiedersehens­freude. Marlene trollte sich, schenkte sich ein Glas Wein ein und bemitleidete sich noch ein Weilchen. Dann ging sie ins Bett und fiel sofort in einen tiefen traumlosen Schlaf.

      Am nächsten Morgen weckte sie die Sonne, die durchs Fenster schien. Es war kurz vor acht Uhr, sie war ausgeschlafen und bereit, dem Tag das Beste abzugewinnen. Marlene streckte sich und drehte sich zu Lukas um. Das heißt: Sie drehte sich dahin, wo normalerweise Lukas lag, wenn sie aufwachte. Heute lag da aber niemand. Das Bettzeug sah unberührt aus. Er hatte doch wohl nicht die ganze Nacht durchgearbeitet? Zuzutrauen wäre es ihm. Wenn er sich einmal in etwas verbissen hatte, vergaß er Zeit und Raum. Das bedeutete dann allerdings, dass es mit dem gemeinsamen Sonntag nicht viel werden würde. Irgendwann musste schließlich auch ein begnadeter Hobbybastler schlafen.

      Marlene rief sich zur Ordnung. Nicht gleich sauer werden, erst mal positiv denken. Das musste sie sich in letzter Zeit immer öfter sagen. Und nur manchmal schämte sie sich im Nachhinein, dass sie Lukas Unrecht getan hatte. Meistens stimmte leider, was sie ihm unterstellte. Zweifellos liebte er sie – jedenfalls hatte sie keinen Grund, daran zu zweifeln. Aber ebenso zweifellos war es für ihn kein Grund mehr zum Jubeln, dass sie ihn zurückliebte. Das nahm er einfach als gegeben hin. Wenn sie da an ihre Anfangszeit zurückdachte: Lukas hatte sein Glück kaum fassen können. Und ihr in jedem Moment das Gefühl gegeben, sie auf Händen zu tragen und anzubeten. Wie man so schön sagte.

      Na ja, das konnte wohl nicht fünfzig Jahre so weitergehen. In lang dauernden Beziehungen mussten andere Werte an die Stelle der gegenseitigen Vergötterung treten. Marlene war nicht so naiv, das zu leugnen. Andererseits: Ging das tatsächlich schon vor der Hochzeit los? Die war noch ein wenig undeutlich für das kommende Jahr ‚irgendwann‘ geplant. Sie war gerade mal dreieinhalb Jahre mit Lukas zusammen. Vor einem Jahr hatten sie dieses Haus gemeinsam bezogen und waren immer noch dabei, sich einzurichten. Etwas länger hätte die Begeisterung für ihren Geschmack durchaus anhalten können.

      Stattdessen hatte Lukas beim Hauseinrichten sein Heimwerkertalent entdeckt. Und allen Enthusiasmus, den er aufbringen konnte, steckte er nun in selbstgezimmerte Bänke, passgenau angefertigte Regale und kreativ entworfene Blumenkübel. An sich ja ein schönes Hobby. Nur fühlte sich Marlene allmählich schon selbst wie eine Gartenbank. Die hatte man halt und auf der saß man, um sich auszuruhen. Irgendwelche Gedanken verschwendete man daran nicht mehr, wenn sie einmal da war.

      Genug Trübsinn geblasen. Marlene schlüpfte in ihren bequemen Jogginganzug und machte sich auf die Suche nach dem verschollenen Geliebten. Die vage Hoffnung, dass er vielleicht gerade beim Brötchenholen war, zerschlug sich schnell: Die Haustür war verschlossen, die Jacke hing am Garderobenständer.