Rike Waldmann

Vier gewinnt


Скачать книгу

den Fernseher aber aus, als Marlene zur Tür hereinkam. „War eh nicht mehr spannend. Unsere haben schon wieder verloren. Die Saison kannst du abhaken.“ Zärtlich nahm er sie in die Arme und zog sie zu sich aufs Sofa. „Wie war es denn?“ – „Das Essen wie immer ausgezeichnet. Es gab erst ein Rote-Bete-Carpaccio und dann Lachs im Blätterteigmantel. Und Schokomousse als Nachtisch. Ich hab dir ein Schälchen mitgebracht.“ „Hmm. Lecker. Kochen kann sie einfach, deine Alex. Aber unsere Bratwurst war auch nicht schlecht. Und sonst?“ Lukas hatte gemerkt, dass da noch ein großes Aber kommen würde. „Na ja, also dieser Tim … Ich weiß es nicht. Das wird nicht lange dauern, könnte ich mir vorstellen. Alex ist total verknallt. Aber dann ist man eben auch ein bisschen blind. Mir ist er nicht besonders sympathisch.“ Und dann hechelte Marlene den Abend genüsslich durch. Und schloss gleich noch einen Bericht über ihren Tag in Köln an. „Also verglichen mit Tim ist dieser Stefan offensichtlich verdammt sympathisch“, neckte Lukas sie schließlich, als ihre Lobeshymnen gar kein Ende fanden. „Ja, ist er. Das wird ein tolles Buch und eine tolle Zusammenarbeit.“ Marlene stimmte todernst zu. „Aber natürlich ist das eine rein professionelle Beziehung, das kann man nicht vergleichen.“ „Na dann“, Lukas grinste. „Auf die professionellen Beziehungen. Lass uns schlafen gehen.“

      Der ganz normale Wahnsinn

      Zwei Wochen waren wie im Flug vergangen. Im Verlag liefen die ersten Meetings für den kommenden Spitzentitel von Stefan Sommer an. Denn Mathildes Tagebuch würde ein Spitzentitel werden, da waren sich alle einig, nachdem sie Marlenes ausführliches Briefing gehört hatten. Wie sollte man die Presse ansprechen? Vor allem: Welche Presse? Anders als bei sonstigen Titeln kam hier ja aufgrund der Popularität des Autors auch der Boulevard infrage. Und natürlich waren die Feuilletons aller großen Tages- und Wochenzeitungen wichtig. Und der Hörfunk. Das Fernsehen? Warum nicht. Nele rotierte und ließ ihre Kontakte spielen.

      Marlene nutzte jede freie Minute, um die Handschrift in ein lesbares Word-Dokument zu übertragen. Sie kam gut voran, aber es gab halt auch noch anderes zu tun. Die Frühjahrsvorschau musste vorbereitet werden. Peter hatte eine – wie immer knappe – Frist für die Budgetplanung des kommenden Jahres ausgegeben. Da musste sie rechnen. Und viele Unwägbarkeiten möglichst realistisch oder zumindest glaubwürdig schätzen. Allzu sehr wollte sie nicht daneben liegen, auch wenn sie bei manchen Positionen gern auf eine Kristallkugel zurückgegriffen hätte. Und natürlich waren immer noch die Nachwehen der Buchmesse abzuarbeiten. Zum Beispiel die Beschwerde von Frau Meyer-Wübbecke, die sich auf dem Autorenempfang nicht ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt gesehen hatte. Marlene wusste auch genau, woran das gelegen hatte: Der Sekt war ausgegangen, bevor Frau Meyer-Wübbecke kurz vor Ende des Empfangs endlich erschienen war. Ein Fan hatte sie mit Autogrammwünschen aufgehalten. Und dann war man ins Plaudern geraten. Nun waren die Canapés geplündert, der Rotwein war ihr zu schwer und beim Riesling vertrug sie die Säure nicht. Da hatten alle freundlichen Worte und Schmeicheleien nichts geholfen. Man war verstimmt. Es galt dennoch, die Dame zu beruhigen und wieder einzufangen. Telefon oder Mail? Marlene entschied sich für Letzteres. Da konnte sie ihre Worte sorgfältig wählen und musste das Ganze erst abschicken, wenn alles stimmig war. Wie viel Kreide musste sie wohl schlucken, um erfolgreich zu sein?

      Plötzlich kam ihr eine Idee. Tat sich Frau Meyer-Wübbecke nicht viel darauf zugute, dass sie eine Feministin der ersten Stunde war? Sie würde die Gute als Multiplikatorin in das Stefan-Projekt einbeziehen. Schaden könnte es auf keinen Fall, die Kontakte der Herausgeberin zu Politik und Presse waren exzellent. Und dem Charme des bekannten Schauspielers würde sie auf den ersten Blick erliegen und sich für ihn zerreißen. Natürlich durften zum jetzigen Zeitpunkt nur Andeutungen gemacht werden. Aber wenn sie sich ausgiebig entschuldigte und dann begann, dem ausgeprägten Ego der streitbaren Amazone zu schmeicheln, und sie gleichzeitig um ihre unschätzbare Hilfe bat – ja: Das würde klappen. Fröhlich machte Marlene sich ans Werk.

      Nachdem sie die Mail abgeschickt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Sandra, um sie zu einem gemeinsamen Mittagsimbiss beim Italiener um die Ecke zu überreden. Diese Belohnung hatte sie sich heute verdient. Marlene war schon halb aus dem Zimmer, als das Telefon klingelte. Ihre Arbeitsmoral gewann für diesmal den Kampf gegen den Hunger. Es könnte ja wichtig sein. Sie hob ab. Und ob es wichtig war: Stefan. „Hi, Marlene, ich sitze im Zug von Berlin nach Frankfurt. Und ich sterbe vor Hunger: Der Speisewagen fährt aus unerfindlichen Gründen heute nicht mit. In fünfzehn Minuten halten wir bei dir. Ich habe vor, kurz zu unterbrechen, ehe es mich dahinrafft, und am Nachmittag weiterzufahren. Kennst du ein Restaurant in Bahnhofsnähe? Und hast du Zeit für ein Treffen? Ich habe sogar ein erstes Konzept in der Tasche.“

      Fantastisch, fantastisch. Dann musste Sandra halt allein essen gehen. Mit der konnte sie auch morgen zum Italiener. Begeistert sagte Marlene zu und schlug vor, Stefan am Bahnhof abzuholen. Das konnte sie gerade so schaffen. Und ein Ristorante gab es gleich neben dem Bahnhof auch. Sie bestellte sicherheitshalber noch einen Tisch, stopfte einen Ausdruck der bereits transkribierten Manuskriptseiten in ihre geräumige Handtasche, machte noch schnell einen Abstecher in den Waschraum, um frischen Lippenstift aufzutragen, und eilte dann los.

      Ein Konzept mit Konsequenzen

      Im Laufschritt bog Marlene um die Ecke und betrat die Bahnhofshalle. Da stand er ja schon. Hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen und hoffte offenkundig, dass ihn niemand erkannte. Da war wenig Gefahr, die Leute hatten es eilig und achteten nicht auf andere Menschen, wenn sie nicht gerade im Weg standen. Und wer rechnete auf diesem Provinzbahnhof schon mit Stefan Sommer?

      Bald darauf saßen sie sich bei einem Teller Pasta gegenüber und brachten sich aufs Laufende. Stefan war unterwegs zu einem Außendreh, der irgendwo in der hessischen Wetterau stattfinden sollte. Das mit dem vorhandenen Konzept in seiner Tasche war allerdings ein klitzekleines bisschen übertrieben gewesen. Er hatte die Zugfahrt genutzt, um erste Gedanken zu notieren. Ohne nähere Kenntnis dessen, was seine Heldin überhaupt zu Papier gebracht hatte, war das naturgemäß etwas dünn. Das wusste er selbst. „Aber es war mir klar, dass ein Gespräch mit dir mich auf jeden Fall weiterbringen würde.“ Bei seinem etwas verlegenen Lächeln schmolz Marlene dahin. „Das Gespräch vielleicht nicht“, sagte sie und zog den Papierpacken aus ihrer Handtasche. „Aber das hier.“ Sie reichte ihm die Seiten, die etwas mehr als die Hälfte des Manuskripts enthielten. Stefan machte große Augen. „So weit bist du schon? Das ist ja perfekt. Und du hast natürlich recht: Was da steht, wird mir Schwung geben.“

      „Da ich schon weiß, was da steht, bin ich davon absolut überzeugt. Diese Mathilde war eine klasse Frau. Und dein Urgroßvater war auch nicht ohne.“

      „Ich fang gleich nachher an zu lesen. Und morgen auf der Rückfahrt hab ich ja auch viel Zeit. Was meinst du, wie lange brauchst du für den Rest?“ Marlene zögerte. Es lag jede Menge andere Arbeit auf ihrem Schreibtisch. Aber heute war Donnerstag. Und wenn sie das Tagebuch übers Wochenende mit nach Hause nahm, dann würde sie einen großen Schritt weiterkommen. „Irgendwann nächste Woche hast du es. Vielleicht schon am Montag. Aber das kann ich nicht versprechen.“

      Stefan winkte dem Kellner. „Keine Widerrede. Heute zahle ich. Schon allein als Dankeschön für deine tolle Unterstützung.“ „Okay, dann bedanke ich mich“, Marlene nickte. „Und hoffe, dass du mit dem Material etwas anfangen kannst. Aber da bin ich eigentlich ganz sicher. Das ist so lebendig.“

      „Du bist nicht böse, wenn ich schon aufbreche, oder? Mein Zug geht um 14 Uhr 13. Und der nächste erst in zwei Stunden.“ „Nein, natürlich nicht. Ich muss ja auch wieder an die Arbeit. Wir hören voneinander.“ Weg war er.

      Zurück im Verlag war Marlene für die nächsten zwei Stunden in einer Marketingbesprechung zur Vorbereitung der anstehenden Vertreterkonferenz beschäftigt. Als sie wieder an ihren Schreibtisch zurückkehrte, war es draußen schon dämmrig. Es wurde halt langsam Winter und immer früher dunkel. Sie machte Licht und aktivierte ihren PC. Acht neue Mails, sechs davon mit dem Absender Stefan Sommer. Na, der hatte wohl auf der Fahrt Langeweile gehabt. Marlene öffnete die erste. „Wie gut, dass wir uns getroffen haben. Stehe hier auf freier Strecke kurz vor Hanau. Triebwerksschaden. Ohne unser