Isabella Kniest

Love's Direction


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nächsten Wochen zogen ereignislos an ihm vorüber – bis auf den einen unbedeutenden Tag, als seine Zwangsbeurlaubung eingestellt und er durch seinen charakteristisch unterkühlt anmutenden Chef darüber aufgeklärt wurde, fristlos gekündigt zu werden, sollte die Gerichtsverhandlung seine Schuld anerkennen.

      Ansonsten lief es wie üblich: Er spielte Taxi für alte Menschen, hörte sich deren Gezeter und die immerselben Geschichten des Kriegs und der Zeit der Entbehrungen an, fernerhin durfte er sich jeden Morgen die anprangernden Blicke seiner verschissenen Kollegen zu Gemüte führen.

      War das Leben nicht herrlich?

      Zu Hause absolvierte er einen regelrechten Marathon an Trainingseinheiten. Sit-ups, Push-ups, Kniebeugen – um einige zu nennen. Dazwischen schoben sich großzügige Jogging- oder Spazierrunden sowie Karateeinheiten im Klub. Doch jedes Mal, wenn er glaubte, diese namenlose, verrückte Schönheit vergessen zu haben, träumte er von ihr oder sie blitzte vor seinem Geiste auf.

      Ihren Namen könnte er selbstredend schnell herausfinden – immerhin stand dieser in seinem Anwaltsschreiben. Angesichts seiner anhaltendenden und von ihm zwanghaft unterdrückt werdenden Kopfkinoeinlagen seit des Blind-Dates wollte er es jedoch tunlichst vermeiden, eine engere Bindung aufzubauen.

      Ein Name bedeutete Subjektivation. Ein Name bedeutete Manifestation. Ein Name bedeutete Nähe und Intimität.

      Und nichts von alldem durfte sich jemals zutragen! Denn wie es aussah, würden sie beide ohnehin niemals Freunde werden.

      Gleichwohl er sich insgeheim nichts sehnlicher wünschte …

      Freilich, ihr Blind-Date hatte in einer absoluten Katastrophe geendet, dessen ungeachtet war es ihm wenigstens möglich gewesen, einen winzigen Blick in Rotschopfs Seele zu erhaschen. Dies hatte ihm veranschaulicht, was er sich die gesamte Zeit erhofft hatte: Sie schien offenkundig keine vollumfänglich durchgeknallte Emanze zu sein.

      Da lagen bisweilen unberührte Geheimnisse verborgen.

      Ich will endlich gemocht werden.

      …

      Auch er sehnte sich danach, mit den Menschen in seinem Umfeld zurechtzukommen. Er wollte toleriert und geliebt werden. Vor allem jedoch wollte er endlich die Frau seines Herzens finden. Die Frau, welche an seiner Seite schreiten würde – für den Rest ihres gemeinsamen Lebens. Die Frau, die Kamerad, Freund, Schwester und Geliebte in einem darstellte.

      Sein Seelenverwandter.

      Bedauerlicherweise wusste er selbst längst zu gut, was diese seine Vorstellungen waren: durch Verzweiflung hervorgerufene Symptome eines naiven, realitätsfremden Mannes. Eines Mannes, der auf schmerzhafte Weise hatte erfahren müssen, wie Partnerschaften in der gegenwärtigen Zeit funktionierten: Menschen betrogen einander, lebten gänzlich eigenständige Leben, nahmen keinerlei Rücksicht auf den jeweils anderen. Alleine Spaß haben und in den Tag hineinleben – Verantwortung übernehmen und sich für den anderen aufgeben dagegen nicht.

      Kein Wunder, weshalb es in sämtlichen Lebenslagen kriselte! Wenn Menschen ihre Arbeit und die Erziehung ihrer Kinder auf dieselbe Weise verrichteten wie sie sich um ihre Ehepartner und Eltern kümmerten, waren Flüchtlingskrisen, Kriege, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftseinbrüche und Mobbing vorprogrammiert!

      Manchmal kam es Tracey vor, er wäre auf einem anderen Stern geboren worden – wie Superman. Bloß fehlten ihm die physischen Kräfte.

      Der schneidende durch seine dicke Lederjacke dringende Nordwind zog ihn aus seinen unnützen Grübeleien.

      Zielsicher brachten seine Beine ihn über den kahlen Friedhof, dessen asphaltierte durch Eis, Umgebungsfeuchtigkeit und Streusalznässe stumpf schimmernde Weglein sich einsam und fröstelnd durch die Anlage zogen. Die alleenförmig aufgereihten Laubbäume ragten stumm und teilnahmslos in den von dunkelgrauen, tonnenschweren Regenwolken verhangenen Himmel. Deren nackte Zweige wiegten apathisch-verzweifelt hin und her. Sie erweckten den Eindruck, seine Stimmung zu teilen. Das triste Wetter sowie der die Gebirgsketten gänzlich verhüllende Nebel verstärkte seine depressive Stimmung nochmals erheblich und verlieh seinem derzeitigen Leben das passende Flair.

      An einem mit schneeweißem Kies bedeckten Doppelgrab blieb er stehen.

      Er wollte kein Immergrün oder kitschige Engelsfiguren. Soweit ihm bekannt war, hatten seine Eltern die Einfachheit des Seins bevorzugt.

      Laut seinen Großeltern liebte Mama gerade Linien und schnörkelloses Design. Papa mochte die Natur und reine, glatte Objekte: klares Glas, spiegelnde Flächen, Steinböden. Seine Großeltern wiederum waren verrückt nach funkelnden Dingen gewesen: Kristallgläser, Vasen, Mineralien. Aus diesem Grund hatte Tracey in den aus schwarzem auf Hochglanz polierten Granit gefertigten rechteckigen Grabstein zwei funkelnde Kristallglassteine setzen lassen.

      Diesen vier von ihm unendlich geliebten Menschen sollte ein jeder Quadratzentimeter Tribut gezollt werden. Durch die geradlinige mit grauem Naturstein umrandete niedrige Abgrenzung und dem Kies meinte Tracey, dies erfolgreich in die Tat umgesetzt zu haben.

      Er überlegte.

      Eigentlich besaß er sehr wenig Gemeinsamkeiten mit seinen Eltern und Großeltern. Weder konnte er funkelnden Dingen noch puristischem Design etwas abgewinnen. Ja, eigentlich interessierte ihn beinahe gar nichts. Er war kein Kunstliebhaber oder Verfechter eines besonderen Stils.

      Nun ja … etwas liebte er wohl: Wasser – in all seinen Formen. Die von der Sonne funkelnden Wellen eines kristallklaren Flusses, die brachiale Gewalt einer Sturzflut, das beruhigende Plätschern eines Baches, das einlullende, prasselnde Geräusch eines lieblichen Sommerregens …

      Er genoss die Einfachheit, in welcher unbezwingbare Stärke lag. Keine Schnörkel, Ausschmückungen oder protziges Gehabe – schlichtweg das Ergebnis … das Leben … die Liebe.

      Nichts anderes zählte im Leben. Nichts anderes gab Rückhalt, Erfolg und Hoffnung.

      Er ging in die Hocke und entfernte behutsam die einzelnen störrischen andauernd wiederkehrenden Grashalme, die irgendwie das unter dem Kies befindliche Vlies durchdrangen.

      Ich hoffe, es geht euch gut, sprach er im Gedanken. Ich hoffe, wir sehen uns, wenn meine Zeit gekommen ist …

      All die erdrückenden Ereignisse der letzten Jahre schlugen auf ihn ein, zwangen ihn dazu, die Zähne zusammenzubeißen.

      Manchmal will ich nicht mehr länger warten. Manchmal möchte ich am liebsten zu euch kommen. Ich weiß nicht mehr weiter. Alles läuft schief. Ich weiß nicht, was ich noch tun, wie ich mein Leben in den Griff bekommen soll. Oma … Opa … Mama … Papa … ich vermisse euch unwahrscheinlich. Schenkt mir bitte etwas Kraft, um weiterzumachen.

      Tränen flossen ihm über die erkalteten Wangen. Flott wischte er sie davon.

      Helft mir. Was soll ich machen? Ich will meinen Job nicht verlieren. Ich wollte bloß glücklich sein. Weshalb gelingt mir das nicht?

      Kraftlos ließ er sich auf die Knie fallen.

      Wozu sind wir überhaupt hier? Wozu bin ich hier? Welcher Grund war es, der mich hat auf die Welt kommen lassen? Was ist mein Schicksal? Etwa zu leiden, ein Leben lang durch Einsamkeit und Sehnsucht gepeinigt zu werden? Ich ertrage den Schmerz nicht mehr länger … Holt mich doch zu euch …

      Krähengeschrei nötigte ihn dazu, sich umzudrehen.

      Drei von diesen anmutigen Tieren in ihrem glänzend schwarzen Federkleid saßen auf der hundertjährigen Birke, welche knapp zwanzig Meter von Tracey entfernt ihre Zweige erhaben in den Himmel reckte.

      Sie war ein majestätischer Baum. Selbst jetzt, ohne Belaubung. Im Sommer allerdings, wenn ihre wunderschönen, sanft im Takt des warmen Windes schwankenden dunkelgrünen Blätter in der rötlichen Abendsonne funkelten, da war sie die Königin unter all den Pflanzen.

      Schniefend blickte er zurück zum Grab.

      Es war ihm nicht erlaubt gewesen, seine Eltern kennenzulernen. Sie starben, da war er ein Säugling gewesen – eben sechs Monate alt.

      Es