Klara Chilla

Schattensamt


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es aus dem Stevensons House machte. Neugierig geworden setzte ich mich auf und sah nach vorn. Wir fuhren einen schmalen Schotterweg zwischen einigen Bäumen hindurch. Dahinter lag auf einem sanften Hang ein weißes Farmgebäude, als hätte es jemand extra für eine kitschige Urlaubsidylle dort platziert. Unser Ferienhaus!

      Nur wenig später fuhren wir auf den Hof. Langsam konnte auch ich mich der aufgeregten Stimmung im Auto nicht mehr entziehen. Kaum hatte mein Vater den Motor abgestellt, rissen mein Bruder und ich gleichzeitig die Türen auf, um als Erste auszusteigen. Augenblicklich sprangen uns zwei große Hunde entgegen, die uns freudig begrüßten.

      »Herzlich willkommen auf unserer Farm«, sagte da ein Mann, der zusammen mit einer Frau aus dem Gebäude trat und meinem Vater die Hand entgegenhielt. »Ich bin Adam, und das ist meine Frau Mairee.«

      »Guten Tag!«, entgegnete mein Vater und stellte uns der Reihe nach vor. Adam und Mairee schüttelten uns die Hände. Mir waren die beiden auf Anhieb sympathisch. Sie waren etwas älter als meine Eltern. Adam trug eine Mütze, die seine grauen Haare verdeckte und um seine Augen hatte sich eine ganze Armee von Lachfältchen versammelt. Seine Frau wirkte ein wenig wie eine nette alte Oma, klein und rund mit freundlichen warmen Augen. Sie wandte sich zuerst an meinen Bruder und mich:

       »Ich zeige euch zuerst den Garten, da könnt ihr spielen und seid ganz für euch«, zwinkerte sie uns zu. Nicht, dass ich noch spielen würde. Aber vielleicht fand sich ja eine gemütliche Ecke, in der ich mal ungestört meine mitgebrachten Bücher lesen konnte. Wahrscheinlich blieb mir in dieser langweiligen Gegend sowieso nichts anderes übrig als von morgens bis abends zu lesen. Also folgten Finn und ich ihr neugierig, während meine Eltern mit Adam in das Ferienhaus gingen.

      Der Garten war riesig! Es war einfach unglaublich, was sich dort an Pflanzenvielfalt verbarg. Überall blühte es in den unterschiedlichsten Farben und Schmetterlinge und Bienen umtanzten wie winzige Feen das Blütenmeer. Mein Bruder sauste davon und verschwand im Gehölz, während Mairee auf einen kleinen runden Pavillon zusteuerte, der sich unter der üppigen Last einer großen Kletterpflanze mit unzähligen langen blauen Blütendolden duckte.

      »Hier kannst du es dir gemütlich machen und vielleicht lesen, wenn du magst«, wandte sich Mairee an mich und deutete auf eine breite Bank, die im Schatten darin stand und mit großen, roten Kissen ausgestattet war.

      »Oh ja«, seufzte ich. »Das ist wunderschön hier.«

      Mairee lächelte mich stolz an. »Den Pavillon hat Adam selbst gebaut.«

      »Für meine Mutter zur Hochzeit.«

      Erschrocken drehte ich mich um, und mein Herz setzte gleich noch einen weiteren Sprung aus. Vor mir stand ein Junge, einen guten Kopf größer als ich, und strahlte mich aus den schönsten Augen der Welt an.

      »Fearghas, du sollst dich doch nicht immer so anschleichen!«, schalt ihn Mairee, die meine Reaktion glücklicherweise falsch verstand. »Es muss dir nicht peinlich sein, wenn er dich erschreckt hat. Das passiert mir auch immer wieder.« Beruhigend tätschelte sie meinen Arm und deutete dann auf den Störenfried, der mich grinsend musterte. »Das ist mein jüngster Sohn, Fearghas. Und das hier, mein Freundchen, ist Klara unser neuer Feriengast. Also benimm dich. Wir können es uns nicht leisten, dass du uns die Feriengäste verschreckst.«

      »Ja, natürlich, Mum!«, sagte Fearghas und fuhr sich mit der Hand durch die dichten und strubbeligen dunkelbraunen Haare. »Aber Dad hat gesagt, ich soll mich bei dir melden, weil ich etwas für dich erledigen soll.«

      »Ja, ich möchte, dass du mir die alten Rosenbüsche ausgräbst, die hier neben dem Pavillon standen. Sie sind völlig kaputt, und ich möchte neue Büsche einsetzen.«

      »Gut, ich mache mich gleich nach dem Essen dran, und dir und deiner Familie wünsche ich einen angenehmen Aufenthalt«, wandte er sich an mich, zwinkerte seiner Mutter zu und ging über die große Wiese davon.

      Ich hatte keine Gelegenheit mehr, ihm nachzusehen, weil mein Bruder unter lauten Geknacke aus dem Unterholz brach: »Mensch, Klara, da hinten ist ein total cooler Baum. Da hängt ein Seil zum Schwingen drin.«

      »Bist du nicht ein bisschen zu alt für so was?«, fragte ich etwas ungnädig.

      »Ah, du hast den ältesten Teil des Gartens entdeckt, Finn. Der Baum ist ungefähr eintausend Jahre alt.«

      Mein Bruder schrie begeistert auf, während ich mir nicht sicher war, ob das Mairees Ernst war. Doch als sie mir kurz darauf stolz das knorrige alte Ding präsentierte, hatte ich keine Zweifel mehr. Ich hatte niemals zuvor so einen Baum gesehen. Es sah aus, als stände nur noch ein Gerüst, bestehend aus unzähligen ineinander verwachsenen Ästen. Fasziniert folgte ich mit den Augen den Windungen und hatte das Gefühl, das von dem Baum etwas Mystisches ausging. Finn kletterte völlig unbeeindruckt durch die verzweigten Äste, ließ sich von oben herab auf das Seil zu rutschen und schaukelte wie ein Affe durch den gewaltigen Schatten, den der Baum warf. Nun gut, ich war eindeutig zu alt dafür und nicht unglücklich, als meine Eltern auftauchten und sich zu uns gesellten. Mairee zeigte meiner Mutter die einzelnen Pflanzen, während mein Vater den Baum bewunderte, in dem Finn immer noch umherschwang.

      Zeit, mir das beste Zimmer auszusuchen, dachte ich und ging zu unserem Ferienhaus zurück, um die Gelegenheit beim Schopf zu packen.

      *

      Nachdem mein Bruder und ich uns doch noch über einen kleinen Streit endlich geeinigt hatten, wer welches Zimmer bekam und sämtliche Kisten und Koffer im Ferienhaus verstaut worden waren, fuhren meine Eltern mit Finn zum Einkaufen. Ich beschloss, die Zeit zu nutzen und mich zum Lesen in den Pavillon zu verziehen.

      Also machte ich mich mit Buch, Keksen und einer Flasche Wasser bewaffnet auf, durchquerte den Garten und machte es mir zwischen den vielen weichen Kissen, die auf der Bank lagen, gemütlich. Zufrieden schloss ich für einen Moment die Augen und atmete tief ein. So hätte ich mir gut vorstellen können, in einem orientalischen Zelt zu liegen. Warm war es in Schottland seltsamerweise auch. Ganz anders, als ich es erwartet hatte, schien eine freundliche Sonne von einem wolkenfreien Himmel herunter. Es war beinahe so, als wollte das Land mich davon überzeugen, dass es keine schlechte Alternative zum sonnigen Süden war. Genüsslich kuschelte ich mich in die Kissen und griff schließlich nach dem Buch, für das ich mich entschieden hatte. Die Geschichte fesselte mich vom ersten Satz an. Sie handelte von einem Mädchen, das aufgrund einer Familientragödie gezwungen war, nach Schottland zu ziehen. Ich liebte Geschichten, die in dem Land spielten, in dem ich gerade in Urlaub war, und verschlang Zeile um Zeile in rasendem Tempo. Natürlich traf das Mädchen dort den geheimnisvollen Unbekannten, natürlich verliebten sie sich ineinander, und natürlich war er irgendein mystisches Wesen. Ziemlich unrealistisch! Trotzdem traumhaft schön!

      Seufzend schlug ich eine Seite um und sah auf und mich wieder einem Paar verdammt schöner Augen gegenüber, die mich ein wenig skeptisch musterten. Erschrocken setzte sich mich gerade auf und klappte das Buch zu. Dabei stieß ich die offene Flasche Wasser um, deren Inhalt sich augenblicklich über mein Buch ergoss.

      »Au, verdammt!«, schrie ich und sprang hektisch ganz auf. Mit der einen Hand griff ich nach der Flasche Wasser, um sie wieder aufzustellen, während ich mit der anderen das Buch hin und her schlenkerte, um das Wasser abtropfen zu lassen. »Was bist du nur für ein Stalker?«, schimpfte ich dabei wütend auf Fearghas ein, der mir lachend ein Handtuch reichte.

      »Ich habe dich angesprochen. Ich kann nichts dafür, wenn du taub bist wie eine alte Frau.«

      »Ich bin nicht taub!«

      »Du hast mich aber nicht gehört«, stellte er ruhig fest.

      »Ich habe vielleicht gelesen? Und dabei achte ich nun einmal nicht permanent darauf, ob sich irgendwelche Spanner in meiner Nähe befinden.«

      »Es tut mir sehr leid, wenn ich dich da enttäuschen muss, aber ich wollte dich nicht heimlich beobachten. Ich bin hier, - falls du dich erinnerst - weil meine Mutter mich darum gebeten hat, die Rosenbüsche auszugraben. Aber vielleicht ist dein Gedächtnis ebenso schlecht wie dein Gehör.«

      Sprachlos starrte ich ihn an, und er starrte nicht gerade freundlich zurück.