Schwesterchen?“, fragte er. Als Antwort zog sich Prinzessin Laoghaire eine der Nadeln aus ihren Haaren, mit denen sie widerspenstige Strähnen zähmte, und zeigte sie ihrem Bruder. Anerkennend pfiff Prinz Anrai. „Ich bin überrascht, welch ungeahnte Talente du besitzt, liebste Schwester. Wo hast du nur gelernt, Türen auf diese Weise aufzubekommen?“
„Glyn“, sagte sie nur, weiterhin vor sich hin starrend. Einer der Küchenjungen, der einen Narren gefressen hatte an ihr, dachte Prinz Anrai grinsend, auch wenn es schon skandalös war, was einer der Bediensteten ihr beigebracht hatte. Er würde wohl mit ihm ein ernstes Wörtchen reden müssen.
„Und wie oft hast du dir auf diese Weise bereits Zutritt zu Orten verschafft, an denen du nicht sein solltest?“, hakte er weiter nach.
„Probiert habe ich es schon öfter. Heute war es das erste Mal, dass es tatsächlich geklappt hat und die Tür aufgesprungen ist“, antwortete sie ihm nach wie vor abwesend.
„Weißt du“, begann er zu sagen und trat in das Zimmer, „wenn du dir schon die Mühe machst, hier einzudringen, dann hättest du die Wahl eines Versteckes zu Ende treffen sollen. Setzt dich einfach hier mitten auf den Boden. Tss!“ Prinz Anrai sah sich in dem runden Zimmer um und allmählich begann er zu begreifen, wieso seine Schwester sich nicht weiter bemüht hatte, sich zu verbergen. Es gab nichts hierin, keinen Schrank, keine Kiste, kein Bett, keine Vorhänge, nur den staubigen Teppich, auf dem sie mit ihrem guten Kleid saß, und die Tapete, die das Rund, lediglich unterbrochen von der Tür und einem Fenster, vom Boden bis zur Decke umspannte.
„Hast du so etwas schon einmal gesehen?“, fragte Prinzessin Laoghaire ihren Bruder, der den Kopf schüttelte. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie erblickt, obwohl er in seinem jungen Leben bereits unzählige adlige Häuser besucht und vieles an Prunk und Glanz zu Gesicht bekommen hatte. Doch das hier war etwas gänzlich anderes. War es ein gewaltiges Stück Papier oder ein feinst gewebter Teppich? Prinz Anrai lief zu der Wand und strich mit seinen Fingern darüber.
„Es ist tatsächlich eine kunstvoll bemalte Tapete“, bemerkte er und trat einige Schritte zurück, um sich die Wand zu betrachten. Er musste sich um die eigene Achse drehen, um alles davon in Augenschein nehmen zu können.
„Meinst du, was sie zeigt, ist nur Fantasie oder ein Stück Geschichte unseres Landes?“, fragte Prinzessin Laoghaire. Ihr Bruder setzte sich neben sie auf den Boden und ließ seine Blicke weiter über die zahlreichen bunten Abbildungen wandern, die an der Wand prangten.
„Ich glaube, es ist nur Fantasie. Wenn es Geschichte wäre, müssten die Gelehrtenbücher neu geschrieben werden oder hast du schon einmal etwas von kämpfenden Schmetterlingen gelesen?“, fragte Prinz Anrai und deutete auf ein Wesen, das mit seinen Flügeln tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Schmetterling aufwies. Doch es war auch ein Mensch.
„Aber es gibt noch mehr als das. Sieh nur“, sagte Prinzessin Laoghaire, sprang auf und lief zu der Wand. „Hier, dieser grimmig dreinblickende Mann in seinem dunklen Mantel und über ihm das gottgleiche Wesen, das er verbittert ansieht. Und dort“, sie trat ein paar Schritte zur Seite und zeigte am unteren Rand der Tapete auf eine Höhle, „darin ist ein Schatz verborgen.“
„Ja, schon“, unterbrach sie ihr Bruder. „aber über dem Schatz ist das Gesicht eines Kindes zu sehen. Hier“, er krabbelte auf allen vieren über den Boden und tippte auf das junge Gesicht, das etwas blasser gezeichnet, aber dennoch zu erkennen war, „das ergibt keinen Sinn.“
„Ich verstehe auch nicht ganz, was das bedeuten soll. Aber sieh her“, meinte Prinzessin Laoghaire, „da sind Schmetterlinge in hellen Farben, aber auch Falter mit blau-schwarzen Flügeln, die gegeneinander kämpfen. Es kommt mir vor wie ein Kampf Gut gegen Böse. Klingt das nicht aufregend?“, rief sie und klatschte verzückt in die Hände. „Und schau, da ist noch mehr“, rief sie und eilte zu einer anderen Stelle der Wand hinter Prinz Anrai. „Pferde, ein Reitertrupp, Schwertkämpfer, ein Schloss, ein Königreich und dort – ist das ein Liebespaar? Oh ja, wie schön“, seufzte sie und betrachtete sich die zwei winzig klein gezeichneten Figuren in der untersten Ecke, die von einem roten Band und kleinen Schmetterlingen und Herzen umgeben waren.
„Tss! Ja, ganz toll. Ist dir auch aufgefallen, worauf sie stehen?“, warf Prinz Anrai ein, rutschte über den Boden zu seiner Schwester und zeigte ihr, was er meinte.
„Ist das –?“, begann sie.
„- ein Grab?“, beendete er die Frage für sie. „Ja, ich denke schon. Es sieht ganz danach aus.“ Für einen Moment schwiegen die beiden Geschwister und hingen ihren eigenen Gedanken nach.
„Wer hat sich das alles nur ausgedacht?“, flüsterte Prinz Anrai schließlich, „und vor allem, wozu?“
„Ich habe das Gefühl, als wollte derjenige uns eine Geschichte hiermit erzählen“, meinte seine Schwester und strich zärtlich über die Wandverkleidung, deren Farben allesamt verblasst waren, doch die Grundfarbe Blau war noch ausreichend erkennbar. Am oberen Rand zur Decke hin war es Petrol, das sanft in ein Türkis überging, das sich zur Mitte der Tapete in Grün wandelte und zum Boden hin heller wurde. Zarte, filigrane Efeuranken, einstmals in Dunkelblau gemalt gewesen, das hier und da noch zu sehen war, verliefen kreuz und quer über die Wand. Die übrigen Elemente wie Bäume, Blätter, Blumen, Wolken, Gebäude, Menschen und Schmetterlinge waren in Gold, Silber, Pink, Lila, Magenta, Orange, Braun, Schwarz, Grau und Weiß aufgemalt worden. Ihre letzten Spuren, nicht von der Zeit und von der Sonne ausgeblichen, leuchteten an mancher Stelle noch auf und zeugten davon, welch prächtiger, farbenfroher Anblick dies hier gewesen sein musste.
„Aber weißt du was?“, rief Prinzessin Laoghaire plötzlich aus, kniete sich vor ihren Bruder und nahm seine Hände in ihre. „Wir wissen nicht, wieso der Künstler dies hinterlassen hat und ob es nur seiner eigenen Gedankenwelt entsprungen oder Teil der Geschichte unseres Landes ist. Wir wissen auch nicht, was genau die Bilder erzählen wollen. Aber lass uns die Geschichte erzählen auf unsere Art und Weise, mit unseren eigenen Worten. Was hältst du davon?“
Prinz Anrai runzelte die Stirn. Sich Märchen ausdenken? Aus dem Alter war er doch längst heraus. Außerdem, wozu sollte es nütze sein, sich irgendetwas zu ersinnen, das fern jeder Wirklichkeit war? Er war Realist und kein Träumer wie seine Schwester, die mit ihrem Kopf in den rosa Wolken steckte. Er stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Deswegen war ihm auch das Dunkle, das der wundersamen Wandverkleidung anhaftete, aufgefallen, während Prinzessin Laoghaire das märchenhaft Schöne ins Auge gestochen war.
„Hm“, brummte er nachdenklich. Es könnte auch interessant werden, dachte er, wenn sich unsere beiden unterschiedlichen Charaktere auf das Abenteuer einlassen, gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. „Einverstanden. Wir wechseln uns ab, und jeder bringt das mit ein, was er möchte“, meinte Prinz Anrai schließlich.
Seine Schwester nickte, führte jedoch an, dass es nicht allzu brutal und blutig werden sollte. Sie kannte die Vorlieben ihres Bruders zur Genüge.
„Wir werden sehen“, entgegnete er ihr augenzwinkernd. „Ich fange an“, sagte er und besah sich die Tapete, „und zwar mit ihm.“ Er deutete auf den miesepetrig wirkenden Mann im Kapuzenumhang.
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2
Ein Meuchelmörder zu sein, ist manchen in die Wiege gelegt. Sie sind regelrecht für dieses Dasein geboren, ob sie es wollen oder nicht. Andere wählen den Weg oftmals aus freien Stücken, manchmal aus Verzweiflung, um das Geld einzuheimsen, das lockt. Und wieder andere werden durch Erziehung oder Zwang dazu gemacht, als heimtückische Attentäter zu leben.
Blake und Arren, in der Reihenfolge, gehörten zu den ersten zwei Kategorien. Und so wie sie sich darin unterschieden, waren sie auch in ihrem Wesen ungleich. Das stellte Blake nun einmal mehr fest, als er mit Arren an dem Lagerfeuer lag, das sie zur Nacht in einer Erdkuhle im Wald entfacht hatten. Umgeben von hoch aufragenden Bäumen, dichtem Gebüsch, war