Eike Stern

Die Ehre der Stedingerin


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Schmied strich seiner Kleinen liebevoll über das zu Zöpfen geflochtene dunkle Haar und nickte. „Bist ein gutes Mädchen und denkst mit… wie Rike. Deine Mutter wäre stolz auf dich.“

      Keine Minute verging, da erschien forschen Schritts die ältere Schwester und übergab ihm die Grützwurst. Ihre vergnügten Augen erstarrten angesichts der Stimmung am Platz. Ulrike war vor kurzem 16 geworden. Ihr abgetragenes Kleid entsprach dem einer Tochter aus armen Verhältnissen; was für sie nicht zählte. Bei der Geburt der heute fünfjährigen Timke starb ihre Mutter im Kindbett, und sie war seitdem die sorgende Seele in Lüders Heim und versuchte, den kleineren Geschwistern die Mutter zu ersetzen. Sie verzichtete auf manches, was anderen ihres Alters selbstverständlich erschien, weil es an ihr lag, ob das Geld zum Leben reichte. Ein melancholischer Zug um den Mund verriet, wie früh sie erwachsen werden musste; das Aufrichtige in ihren tiefen dunklen Augen konnte es ihr nicht nehmen, und sie trug das wie Mahagoni glänzende Haar bis auf ein paar wirre Locken über der Stirn im Nacken zu einem langen Zopf geflochten.

      Ulrike begriff, um was es ging, nahm die kleine Schwester an die Hand und machte sich mit ihr auf den Weg über den Deich an der Olle. Mit ihrem Vater verband sie etwas sehr Tiefes. Manchmal nahm er sich nach dem Gottesdienst ein paar Stunden für sie, und sie hörte ihm gern zu, sprach er über ihre Mutter, die sie nie richtig kennenlernte. Dann saß sie auf dem Schemel der Schmiede und beobachtete ihn, während er geduldig einem Pferd zuredete, bis es ihm brav den Fuß hinhielt, damit er ihm ein neues Hufeisen setzen konnte. Die schönsten Erinnerungen blieben die Abende, die sie in seiner Gesellschaft am Herdfeuer verbrachte, wenn die kleinen Geschwister schliefen. Lüder vermochte wunderbar Geschichten zu erzählen. Es kam vor, dass sie darüber einschlief und er sie ins Bett tragen musste.

      Den größten Teil der Strecke rannten Ulrike und Timke. Als sie die Binsenwiese an der Hunte erreichten, wo gelb das Hahnenklee blühte, betraten sie die Holzbrücke und hielten an, um nicht so außer Atem zu wirken bei den Aumunds. Unter ihnen rauschte der Fluss, und Ulrike fiel am abgewandten Ufer der Hunte ein Reiher auf, der auf seiner beschaulichen Jagd durchs Schilf stelzte. „So nahe am Ufer lässt sich selten ein Reiher blicken“, bemerkte sie und zeigte ihn Timke. „Im Bereich der Binsen findet er keine Frösche mehr.“

      Timke hob den Kopf, als könne sie das in der Luft liegende Gewitter spüren, und Ulrike erinnerte sich: Vor Monaten versprach sie Birte Aumund in die Hand, sie demnächst zu besuchen. „Weißt, wir liefen uns einmal nach der Kirche über den Weg, und da war mir, als würden wir uns schon ewig kennen. Birte hat so eine Art sich zu bewegen und versteht es, sich blendend anzuziehen. Man kann sich mit ihr so ungezwungen unterhalten, und Vater sagt, ich brauche jemanden in meinem Alter, zu dem ich Vertrauen habe… zum Reden und so. Und eigentlich kann ich mir ja meine Freundin aussuchen... Aber sie sind schrecklich vornehm, die Aumunds.“

      Auch Timke verfügte schon über einen regen Verstand und war auf ihre Art ein kleiner Naseweis. Des Öfteren verblüfften ihre Anmerkungen die Ältere. „Na jetzt hast du ja einen Grund, die Aumunds zu besuchen.“

      „Ich verstehe mich selbst nicht, Timke. Ich mag Birte, die ist kein wenig hochnäsig. Sie soll mich bloß nicht für aufdringlich halten.“

      Timke stutzte. „So ein Unfug. Der Deichgraf rief zur Nachbarhilfe auf... Wir sind sicher nicht die Einzigen, die bei der Ernte helfen wollen.“

      Das Doppeldachhaus aus Fachwerk, in dem die Aumunds lebten, beeindruckte in seiner Größe. Die Scheune eingeschlossen fasste es eine parkähnliche Grünfläche ein, Blumenbeete verliefen längs der Fassade. Auf dem First mit den sich kreuzenden Pferdeköpfen stach ein Nest aus grobem Reisig ins Auge. Ein Storch stopfte mit ruckhaften Schnabelstößen die Hälse seiner gierenden Jungen. Niemals zuvor betrat Ulrike einen derart riesigen Hof, und so gepflegt. Nur an der Scheune erstreckte sich staubiger Lehm, ein vertrauter Anblick, nach Wochen ohne den geringsten Schauer. Die drei Türen und die Rahmen der kleinen Fenster unter dem überhängenden dicken Reetdach des Wohnhauses waren blau gestrichen, und ein Laden stand offen - im Sonnenlicht blinkte ein Glasfenster. Das konnten sich höchstens betuchte Gutsherren leisten. Am großen Doppeltor fehlte auch nicht die charakteristisch in das Fachwerk eingefügte Zeile aus Sandstein - mit dem Datum der Erbauung und einem Namen. Ulrike ärgerte sich, sie konnte nichts davon lesen, und als Timke an einer stattlichen Trauerweide vorbeikam, verstand sie nicht, was den Gang der großen Schwester hemmte. Über ein Dutzend Hühner trieben sich zwischen dem Misthaufen und dem hofeigenen Brunnen herum, und ein Mädchen in einem weißen Linnenkleid hockte daneben und fütterte das Federvieh.

      Ulrike erkannte das blonde Mädchen an den schulterlangen, vollen Locken und zwinkerte der kleinen Schwester beruhigt zu. „Das ist Birte.“

      Birte wirkte gesund und wohlgenährter als die meisten Mädchen, ohne deshalb dick zu sein und tat, was zu tun war mit einem feinen, sinnigen Lächeln. Grübchen und klare, kornblumenblaue Augen erfüllten ihr Gesicht mit nahezu engelhafter Milde. Eine bemerkenswert gerade gewachsene Nase machte sie zu einer der Schönheiten von Berne.

      Die Freude, mit der Birte sie begrüßte, war echt, doch wirkte sie nicht halb so fröhlich wie bei ihrer letzten Begegnung. Ulrike weihte sie ein in die Forderung des Grafen, da zuckte es um ihre Mundwinkel. Birte nestelte verunsichert an ihrem Kleid. „Du lieber Gott, jetzt wird’s heikel. Der Vogt zog uns alle Knechte ab.“

      „Ja weißt du denn nicht von der Nachbarhilfe?“, platzte Ulrike vergnügt heraus. „Halb Berne ist auf den Beinen, euch zur Hand zu gehen.“

      Birte musterte sie scheel von oben bis unten. „Eine Sense zu schwingen, will gelernt sein und erfordert Männerarme. Uns fehlen Knechte, keine Mädchen.“ Ihre Augen schweiften über die verdunkelten Gehöfte am Deich. „Es ist ohnehin zu spät... Seit gestern Abend ziehen Wolken über die Weser. Das Wetter schlägt um.“

      Über so viel Kleinmut erschrak Ulrike und schüttelte den Kopf dazu. „Du hast mich falsch verstanden. Sicher, Timke und ich wollen helfen. Aber doch nicht bloß wir beide! Der Deichgraf steckt dahinter. Alle wollen alb erneH helfen. Da gibst du doch nicht auf, oder? Der Deichgraf ist mit vierzehn Leuten aus Berne auf eurem Feld, euch bei der Ernte zu helfen.“

      Birte schluckte und strich sich die Haare aus der Stirn „Die Schweine sind unruhig. Es riecht nach Gewitter.“

      Während sie redeten, nahte ein Ochsengespann, auf dem vier Mägde des Gutes saßen. Der älteste Sohn des Hauses, nicht ganz 10 Jahre alt, führte die Zügel und lud die Mädchen ein, aufzusteigen. Er zog eines nach dem anderen hinauf, und man rückte auf der Ladefläche des Fuhrwerks dichter aneinander, um den Wettlauf mit der Zeit aufzunehmen. Hitzewellen flimmerten über den Roggenähren, und das morsende Gezirp der Grillen wurde übertönt vom Dengeln der Sensen. Die Linie der Männer rückte in schräger Formation Schritt um Schritt vor und hatte die halbe Ackerfläche schon in ein wüstes Stoppelfeld verwandelt. Die Mädchen trafen rechtzeitig ein, das gefällte Korn zu Garben zu schnüren und die zusammenzustellen. Über ihnen bewölkte es sich. Ein frischer Wind kündete schon den Wolkenbruch an, und der von der Stirn tropfende Schweiß brannte in den Augen. Einmal musste sie lachen, Birte stolperte in ein Mauseloch und warf ihre aneinander gelehnten Korngarben um. Aber Birte war nicht der Mensch, ihr das krumm zu nehmen, sondern lachte von Herzen mit. Ulrike half, den Schaden zu beheben, damit war es gut für sie. Überhaupt lachten sie viel und hatten viel Spaß, während sie mit anderen Mädchen Halme aufklaubten und Garben zusammenstellten, die gemeinsame Arbeit machte sie zu Freundinnen. Plötzlich zeigte Timke aufgeregt zum Feldweg. Sie hielten inne und gewahrten den schwankenden Erntewagen, der bereits den oberen Feldweg nach Berne erreichte, doch ein unheilvolles Grummeln schien alles zunichte zu machen. Ein greller Blitz zerriss die schwüle Witterung. „Zu spät“, stöhnte Birte und zählte laut bis fünf. Und ein Donner rollte über die Äcker und Wiesen an der Hunte. Ulrikes Augen streiften erschrocken himmelwärts, dann blickte sie Birte mitfühlend an - und eigentlich grundlos. Es war, als hätte die Hand Gottes eingegriffen. Der Fluss hielt das Gewitter auf; es wanderte nicht über die Weser. Der Wolkenbruch entlud sich über Osterstade. Bei ihnen fiel wie durch ein Wunder kein Tropfen. Sie hörten an der Front des Stoppelfeldes die Männer fluchend die Sensen ins Korn werfen und dann trotzdem in Jubel ausbrechen. Birte lachte, als hätte es Geld geregnet.

      Alle,