Eike Stern

Die Ehre der Stedingerin


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Mancher brachte eine Schwester oder den kleinen Bruder mit, damit sich die ebenfalls den Bauch vollschlugen, niemanden störte, dass bei Ulrike neben Timke auch ihre andere Schwester Wibke saß. Weiße Decken verliehen der Tafel ein festliches Gewand, und in großen Töpfen stand Getreidegrütze bereit. Drei Mägde stellten flache Holzschalen mit grobkörnigen Hirsebroten und Semmeln ab, und man tischte eine Auswahl an Fisch auf, von Stör über Aal bis hin zum Hering. Dem Deichgrafen fiel es zu, den Abend formell mit ein paar starken Worten zu eröffnen. „Wen ich hier sitzen sehe, der darf sich, solange ich lebe, mein Freund nennen. Sibo Aumund sagte mir eben, die ganze Ernte ist in der Scheune! Und das wäre ohne euer Zutun undenkbar gewesen. Er dankt euch!“

      Es entsprach seiner Art, Einsatz zu loben, und er förderte den Gemeinschaftssinn mehr, als die meisten jemals begriffen. Sibo Aumund fügte mit strahlender Miene hinzu: „Lasst es euch schmecken… meine Freunde!“

      Ulrike verspürte Herzklopfen, bei Birte und ihr nahm der redegewandte Sohn des Deichgrafen Platz, den sie bisher nur von ferne zu Gesicht bekam. Manche der einfachen Leute stopften die Sachen in sich hinein wie die Kesselflicker, er ließ sich Zeit beim Schmausen. Während sich auf dem Grätenteller Häufchen bildeten, betrachtete Ulrike verunsichert ihre von Fett triefenden Hände und orientierte sich an Birte, die sich die Finger am Rock abwischte. Andere benutzten einfach das Tischtuch. Sie vermisste Bolkes Bruder Eike. Seit der Lüder in die Schmiede schneite und bat, ihm Angelhaken anzufertigen, schätzte sie ihn als Freund, begleitete ihn oft auf seinen Fischzügen und half ihm Heuschrecken zu fangen – als Köder. Gewöhnlich trafen sie sich in einer Laubhütte, und sie liebte diese gemeinsame Heimlichkeit und die Farbe, die Eike in ihr Leben brachte. Niemals zum Hof der Bardenfleths mitgenommen worden zu sein, betrübte sie nicht, bis sie kürzlich bei brütender Sommerhitze baden gingen, im warmen Wasser der Hunte. Hinterher klebte die Kleidung am Leib, sie lagen im Halbschatten einer Birke, und Eike ritt aus heiterem Himmel der Teufel. Ihm fiel ein, ihr den Rock hochzuschlagen. Sie zierte sich und stellte ihm in Aussicht, ihm alles gern zu geben, um den Preis, endlich seinem Vater vorgestellt zu werden. Daran zerbrach die Beziehung. Im Grunde war es eine lässliche Sünde. Sie verbrannten sich aneinander und wussten beide nicht recht damit umzugehen. Er blieb der Sohn eines Ministeralen, wie man es drehte. Ulrike ärgerte bloß, wie wenig er zu ihr stand. Eike war trotzdem in Ordnung. Lediglich Bolke gab sich so anders, unnahbar und erhaben wie ein Aristokrat. Unterdessen verteilte eine gutbeleibte Magd Steingutkrüge. Hausgebrautes Bier wurde ausgeschenkt. Die Bäuerin schöpfte mit einer Zinnkanne aus dem Fass, bald löste das Gebräu auch die verklemmten Zungen und witzige Trinksprüche der Männer riefen schallendes Gelächter hervor, während sich der Deichgraf in Richtung der Ställe absetzte, um bei Einbruch der Dämmerung in Berne zu sein. Es hielt den Sohn des Deichgrafen nicht ab, sich weiterhin als Hahn im Stall zu fühlen. „Sechzehn Leute aus Berne trugen zu diesem glücklichen Ende bei“, warf er den Mädchen aufmunternd zu. „Ein Zusammenhalt, auf den mein Vater stolz sein darf.“

      Birte strahlte ihn mit rosa Wangen an. Ulrike gefiel Bolkes klare, tiefe und zugleich sanfte Stimme. „Dein Vater verfügt über eine Gabe, die wenigen eigen ist.“

      Sie betrachtete den bartlosen jungen Mann mit dem kinnlangen Pagenschopf und dem sinnlichen Mund genauer. Offensichtlich warf er ein Auge auf Birte Aumund. In Dingen, die jeden angingen, kannte er sich außerordentlich gut aus und führte gern das erste Wort. „Weilt der Graf von Oldenburg in der Lechterburg, so bestimmt nicht grundlos“, stellte er fest. „Der wird auf seinen Vogt einwirken, hart durchzugreifen, der will Erträge aus dem Lehen ziehen. Unser Erzbischof ist krank, erzählen sich die Leute in Bremen… er leidet an andauerndem Geldmangel.“

      „Oh“, seufzte Birte und strich sich über die Stirn, unschlüssig, was sie geistreiches erwidern sollte. Für solche Dinge fehlte Ulrikes neuer Freundin jedes Interesse. Oder es ging Birte wie ihr, sie fand schließlich auch keine Worte. „Ich bin übrigens Lüders Tochter“, brachte sie verlegenen lächelnd vor. „Und ich wüsste zu gern, um was er sich mit dem Grafen gestritten hat, heute Morgen.“

      „Ah ja“, raunte Bolke und nickte verstehend. „Du hast einen mutigen Vater, Mädchen. „Er machte sich zum Sprachrohr aller und erinnerte den Grafen, durch das Aufwerfen des Deiches an der Olle wären wir nach Holler Recht für 7 Jahre vom Zehnten befreit.“

      Ulrike spürte plötzlich ihren Herzschlag, so erschrak sie.

      „Nun mach‘ dir mal keine Sorgen“, beruhigte Bolke sie. „Moritz von Oldenburg gehen andere Dinge im Kopf herum. Das hat der längst vergessen. Außerdem stimmt, was Lüder gesagt hat. Dafür kann man ihn schwerlich belangen.“

      Sie äugte ihn ungläubig an. So leicht wollte sie sich nicht von ihren Ängsten lösen. Dann blinzelte sie einlenkend. „Man merkt, Bolke, dein Vater ist unser Deichgraf. Du weißt es ganz genau.“

      „Nun ja, sagen wir, ich bekomme einiges mit. Damals beschlossen die Gemeinden der Brookseite und der Lechterseite, die drei Mündungsarme der Olle durchzudämmen. An den Mündungen wurden drei dicht beieinanderliegende Siele angelegt. Das machte die alten Deichabschnitte beidseitig der Olle zu Schlafdeichen und bedeutete eine erhebliche Verbesserung des Küstenschutzes, eigentlich genial. Wisst ihr, die Hunte verfügt in Sturmnächten über ungeheure Stoßkraft. Eine Sturmnacht überschwemmte gewöhnlich für Wochen das Hinterland. Früher mussten die Deiche durchstochen werden, sonst wäre das Wasser kaum abgelaufen.“ Er nickte bekräftigend. „Deswegen heißt die neue Ortschaft bei Bettingbühren Dreisielen.“

      Ein verwundertes Lächeln spielte um Birte Lippen nach dieser erschöpfenden Auskunft, aber Ulrike reizte die Gelegenheit, sich in einer zuhause oft unter den Tisch gekehrten Angelegenheit schlau zu machen. Leise bemerkte sie: „Alle reden oft und gern vom Holler Recht. Was ist damit eigentlich gemeint? Mein Vater hat versucht, es mir zu erklären, aber ich glaube, der weiß es auch nicht richtig.“

      Schmunzelnd erwiderte Bolke, „die erste Welle Einwanderer stammte aus Holland. Der damalige Erzbischof, ich weiß seinen Namen nicht mehr, holte sie wegen ihrer Erfahrung im Deichbau. Ihnen folgten Friesen, Flamen und Westfalen, aber für alle galt die Kolonisationsurkunde von 1106, und die steht für das Holler Recht. “

      „Und…“, warf ihm Ulrike in fragendem Tonfall zu. „Stimmt es? Waren die ersten Siedler zeitlebens vom Zehnten befreit? Mein Vater lässt sich nicht beirren, es sei ein verbrieftes Recht. Man sollte darauf bestehen.“

      Er strich sich amüsiert die Haare von der Wange und nickte anerkennend. „Na du weißt Fragen zu stellen. Alle Achtung. Aber egal, was unseren Vorvätern früher zugesichert wurde… das betraf sie, nicht ihre Kindeskinder.“

      „Sag‘ mal, zu wem hältst du eigentlich?“, mischte sich Eike von Bardenfleth ein. Gegen den älteren Bruder wirkte sein Gesicht grob geschnitten, eine Warze über den buschigen Brauen störte Ulrike nie besonders, und er sorgte für Aufregung und Stühle rücken, weil er über die Sitzbretter und Tische geklettert kam und sich unaufgefordert zu ihnen gesellte. „Das ist alles eine Riesenlüge. Wer seinen Hund hängen will, findet immer einen Strick“, raunte er Bolke zu und spannte selbstbewusst neben Ulrike die Schultern aus.

      Nachdenklich betrachtete Bolke ihn und schüttelte den Kopf über seinen zynischen Bruder. „So ist es ja nicht, Eike. Die wollen uns nicht umbringen. Wir sollen für sie den Knecht spielen, das ist der Zweck.“

      „So, meinst du? Na, ich kann dir was erzählen. Der Ritter der Lieneburg hat den Werther-Hof heimgesucht. Udo Werther hätte zwei Kühe bis zum Sonnenuntergang bei der Burg abliefern müssen, aber er war nicht zugegen, heute Morgen auf dem Markt. Die Schergen veranstalteten in seiner Diele ein Schlachtfest und stachen ihm die Schweine ab. Ein junger Friese, den du kennen dürfest, sorgte für heftiges Handgemenge. Sie suchen ihn überall.“

      Bestürzt nickte Bolke. „Ich wüsste in Berne wenige Leute bei denen ich annehme, sie können lesen. Die schriftliche Proklamation an der Tür vom Rathaus gleicht einer billigen Posse!“

      „Der Ocko ist ein Teufelskerl“, flüsterte Eike ihm zu. „Einem der Leute des Vogts brach er den Arm und soll einen anderen mit einem Fleischermesser erstochen haben. Dann verschwand er wie ein Spuk über die Mauer im Stall auf den Dachboden. Du kannst dir vorstellen, dass