Andreas Groß

Rosenblut


Скачать книгу

aus. „Bitte, treten Sie ein.“

      Raphael schob sich an Schuster vorbei in den Raum. Irritiert blieb er vor einem wuchtigen Schreibtisch stehen. Am Fenster stand mit dem Rücken zu ihm ein hochgewachsener Mann, der auf die Wilhelmsstraße hinabsah. Er trug einen dunkelblauen, maßgeschneiderten Anzug. An seinem linken Handgelenk schimmerte eine goldene Armbanduhr. Seine silbernen Haare verstärkten im Licht der Sonne die elegante Erscheinung des Mannes.

      Neben dem Schreibtisch stand ein weiterer, deutlich jüngerer Mann, dessen Anzug zwar nicht von einem Schneider stammte, aber eindeutig von hochwertiger Qualität war, die man in jedem gut sortierten Kaufhaus vorfinden konnte. Seine schwarzen Haare hatte er auf der rechten Seite mit einem Scheitel versehen, der ihn älter wirken ließ. In den Händen hielt er einen schlichten Ordner und ein Tablet.

      Als Schuster die Tür schloss, drehte sich der Mann am Fenster um. Wolf zog die Augenbrauen hoch, obwohl er den Ministerpräsidenten von Hessen bereits an seiner außergewöhnlichen Haarpracht erkannt hatte. Matthias Richter übte seit vier Jahren das politische Amt des Regierungschefs aus. Und er besaß gute Chancen, bei der nächsten Landtagswahl, bei dem seine Partei die Mehrheit der Sitze erreichen würde, wiedergewählt zu werden.

      In seinen blauen Augen blitzte Belustigung auf, als er um den Schreibtisch herumschritt und Wolf die Hand entgegenstreckte, die dieser mit einem begrüßenden Nicken ergriff. Ein breites Lächeln umspielte für einen Augenblick die Lippen des Ministerpräsidenten.

      „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Hauptkommissar Wolf“, erklärte Richter. „Sie fragen sich bestimmt, warum Sie zu mir gebracht wurden?“

      „In der Tat“, erwiderte Raphael und musterte Richters Gesicht. Einen Herzschlag lang glaubte er, einen Hauch von Schmerz in der Miene des Ministerpräsidenten zu sehen.

      Richter deutete auf den jungen Mann. „Darf ich Ihnen zuerst Thomas Cordes vorstellen, Herr Wolf. Er ist ein enger Mitarbeiter und Vertrauter. Ich würde ihn sogar als einen Freund bezeichnen, soweit man in der Politik Freunde haben kann. Wir kennen uns seit vielen Jahren kenne und im Gegensatz zu zahlreichen anderen Mitarbeitern ist er absolut loyal.“

      Wolf sah interessiert zu Cordes. Offenbar musste er seine Einschätzung über ihn revidieren, da er aufgrund dessen jugendlichen Aussehens angenommen hatte, dass es sich um einen einfachen Sekretär der Partei handelte. Scheinbar war er doch weit mehr als ein schlichter Adjutant. Schließlich musste Wolf sich eingestehen, dass er keineswegs alle Minister, Staatssekretäre und hohe Beamte des Landes kannte. Cordes hob kurz den Kopf, nickte ihm zu, um sich sofort wieder seinem Tablet zu widmen.

      Richter wandte sich erneut Raphael zu. „Ich habe meinen Studienfreund gebeten, während meines kurzen Aufenthaltes hier in Nordhessen ein privates Treffen zu arrangieren. Zuerst wollte ich mich an Sandmann wenden, aber im Gegensatz zu meinem Innenminister bin ich nicht gerade von seinen Fähigkeiten überzeugt. Außerdem soll dieses Treffen kein Aufsehen erregen. Und aus diesem Grund bat ich Ralf, Sie während dieses Empfanges einzubestellen. Es halten sich im Rathaus so viele hochrangige Persönlichkeiten der Stadt auf, dass wohl kaum einer der Presseleute Ihrer Anwesenheit eine größere Bedeutung zuordnen wird.“

      Nach einer kurzen Pause fuhr der Ministerpräsident fort: „Es gibt ein Problem, bei dem ich die Hilfe eines Beamten benötige, der die Fähigkeit besitzt, unauffällig und effizient zu ermitteln. Und auf der Suche nach einem geeigneten Mann, bin ich auf Ihren Namen gestoßen, Herr Wolf. Nicht nur Kriminaldirektor Schuster, sondern auch Kriminalrat Gehrmann sind voll des Lobes über Ihre Arbeit in Kassel. Besonders Gehrmann hat Ihre erfolgreiche Jagd auf den ‚Propheten‘ hervorgehoben. Aber nicht nur diese Aussagen haben mich überzeugt“, deutete Richter an, ohne näher darauf einzugehen, worauf er sich bezog. „Bevor ich sie jedoch mit diesen Dingen zu langweilen beginne, will ich mit meinem eigentlichen Anliegen herausrücken.“

      Matthias Richter drehte sich kurz zu Cordes um, der ihm die Akte reichte. Er holte ein Foto hervor, das er Wolf weitergab.

      Raphael musterte ausgiebig den Abzug in DIN A4-Größe, auf dem eine junge Frau abgebildet war. Er neigte den Kopf. Die Ähnlichkeit mit dem Ministerpräsidenten war unverkennbar. Sie verfügte über sanfte Gesichtszüge und in ihren dunklen Augen lag ein melancholischer Ausdruck.

      „Sie sehen darauf meine älteste Tochter Anja“, sagte Richter. Er machte eine Pause und holte tief Luft. „Sie ist in Gefahr, denn sie wird bedroht. Jedenfalls ist das meine persönliche Einschätzung.“

      „Was bringt Sie dazu?“, hakte Raphael nach. „Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit.“

      Richter griff erneut in die Akte und holte ein gefaltetes DIN-A4-Blatt hervor und streckte es wortlos Wolf entgegen.

      Raphael griff zu und faltete es auseinander. Aufmerksam las er den einzigen Satz, der darauf stand:

      Meiner einzigen Liebe ist großer Hass entsprungen.

      Als er wieder aufsah, hatte sich über seiner Nase eine kleine Falte gebildet. „Ich kann auf den ersten Blick darin keine konkrete Bedrohung für Ihre Tochter erkennen. Jedenfalls wird sie mit keinem Wort erwähnt und der Satz ist recht diffus formuliert. Wirkt beinahe poetisch, etwas altertümlich.“

      Richter nickte bestätigend. „Das habe ich auch gedacht. Bis ein weiterer Brief eintraf.“ Er griff ein drittes Mal zwischen die Aktendeckel und zog ein weiteres Blatt hervor.

      Raphaels Stirnrunzeln vertiefte sich, als er den Satz las:

      Einmal muss jeder sterben.

      „Das ist eindeutig“, gab er zu.

      „Dies war auch mein Gedanke“, stimmte Richter zu. „Und seitdem bin ich in großer Sorge. Diese Schreiben wurden nicht per Post zugestellt, sondern irgendwann in den Briefkasten meines Privathauses eingeworfen. Der Unbekannte weiß also, wo meine Familie wohnt. Und diese Briefe waren an Anja adressiert, an niemanden anderen aus meiner Familie.“

      „Warum Ihre Tochter? Warum bedroht der Unbekannte nicht Sie?“, hakte Wolf nach.

      Richter zuckte mit den Schultern. „Ich kann es mir nicht erklären. Es gibt nichts, was meine Tochter getan hat, was sie zur Zielscheibe machen würde.“

      „Es wäre also auch nicht auszuschließen, dass sich jemand auf diesem Weg an Ihnen rächen will“, äußerte Wolf.

      Der Ministerpräsident zögerte, ehe er antwortete: „Nein. Keineswegs, aber ... trotzdem erscheint es mir unwahrscheinlich. Ich habe mir mit Sicherheit während meiner politischen Karriere genügend Feinde gemacht, aber die würden sich nicht auf diese Weise an mir rächen.“

      Wolf starrte auf die beiden Blätter. „Ich bin kein Psychologe, aber aus diesen Sätzen schimmert etwas Persönliches heraus. Liebe und Hass deuten schon auf starke Gefühle hin. Möglicherweise hat Ihre Tochter jemanden abgewiesen oder verletzt, der jetzt Vergeltung an ihr üben will. Sie haben die Briefe bestimmt untersuchen lassen?“

      „Das ist richtig“, sagte Richter, „aber leider erfolglos. Auf den Briefen und den Umschlägen waren nur die Abdrücke meiner Familie und von mir vorhanden.“

      Raphael fuhr sich über die Lippen. Dieses Ergebnis war kein gutes Zeichen. Es deutete darauf hin, dass der Unbekannte sehr genau zu wissen schien, wie er vorgehen musste, um unerkannt zu bleiben.

      „Ich nehme an, dass an Ihrem Haus Sicherheitskameras angebracht sind?“, drückte Wolf eine schwache Hoffnung aus, die Richter sofort zerstörte.

      „Es gibt zwar Kameras, aber die haben nichts aufgezeichnet, da die Übertragung gestört wurde.“ Richter breitete die Hände aus. „Ich habe natürlich sofort die Anlage überprüfen lassen, aber man konnte keine Manipulation feststellen. Jemand muss die Funkübertragung von außen gestört haben.“

      „Dann haben wir es mit einen technisch versierten Mann zu tun“, mutmaßte Raphael, „wobei ich nicht ausschließen kann, dass auch eine Frau hinter diesen Briefen stecken könnte.“

      Richter schüttelte langsam den Kopf. „Das glaube ich nicht. Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen. Es muss ein Mann