Wolfgang Voosen

Das Dossier


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Verena nicht zu gefährden, sämtliche Namen ...“. Niemals hätte Paul eine Notiz in neuer Rechtschreibung verfasst. Er war von Anfang an ein Verfechter der alten Schreibweise und hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass der 'Puls' sich der von einigen Gazetten initiierten Rückkehr zur bisherigen Rechtschreibung angeschlossen hatte.

      Einmal auf der Spur entdeckte sie nun noch etliche Wörter, die Paul so nicht geschrie­ben haben konnte. Verena lehnte sich zurück, atmete tief durch und wollte sofort zum Hörer greifen, um Püll die neue Erkenntnis mitzuteilen. Aber sie besann sich eines Bes­seren. Er hatte ihr doch gestern noch gesagt, sie solle nicht gleich euphorisch werden. Bisher hatte sie nichts in der Hand. Das Einzige, was sich geändert hatte, war ihre Ge­wissheit. Waren die massiven Indizien bisher immer wieder zur Nahrung ihrer Zweifel geworden und hatten Fragen nach dem Sinn ihres Handelns aufgeworfen, so wusste sie jetzt: Ich bin auf der richtigen Spur. Paul ist ermordet worden. Der von den Ermittlern an­genommene Suizid war getürkt, und wenn er noch so raffiniert eingefädelt worden war.

      Sollten die anderen sie ruhig weiter für eine Spinnerin halten. Vor Liebe blind. Eine ver­bohrte Frau, die die Wahrheit nicht akzeptieren wollte. Die sich in die fixe Idee eines von einer osteuropäischen Mafia in Auftrag gegebenen Mordkomplotts verrannt hatte. Je stärker sie sich auf diese Weise isolierte, desto geringer war das Risiko, die Mörder von Paul erneut auf den Plan zu rufen.

      Durfte Sie dann aber wenigstens Kirsten und Püll einweihen? Oder musste sie auch ihre besten Freunde im Unklaren lassen? Bei Kirsten fiel ihr die Entscheidung, sie nicht zu informieren, relativ leicht. Nur zu gut wusste sie, dass Schweigen nicht zu ihren Stärken zählte. Wie oft war sie selbst bei intimsten Angelegenheiten, die Kirsten unter dem Sie­gel der Verschwiegenheit anvertraut worden waren, Mitwisserin geworden. Oft hatte sie sich in solchen Situationen gefragt, ob sich das Verhalten ihrer Freundin mit dem Status einer Chefsekretärin eines großen Versicherungskonzerns in Einklang bringen ließ. Nein, Kirsten durfte sie nicht einweihen. Auf keinen Fall. Zu groß war die Gefahr, dass ihre gerade gewonnene Erkenntnis die Runde machte. Denn das Wissen um einen Mord ist ein allzu verlockender Gesprächsstoff in vertrautem Kreis.

      „Und was ist mit Püll?“, sagte sie halblaut zu sich selbst, als würde dadurch die Frage mehr an Gewicht gewinnen. Schließlich verdankte sie ihm, überhaupt auf die richtige Spur gekommen zu sein. Hätte er nicht das Risiko auf sich genommen, die der hiesigen Sonderkommission vorliegenden Akten für sie zu kopieren, wäre sie wahrscheinlich schon auf dem Rückzug, die Zweifel weiter im Gepäck, mehr und mehr sich innerlich von Paul entfernend.

      Aber andererseits, so sinnierte sie weiter, wäre die Gefahr recht groß, dass er irgend­wann seinen Freunden im Präsidium - und sei es nur aus Unachtsamkeit - etwas über die neuen Erkenntnisse mitteilte.

      Ihre innere Stimme zeterte noch eine Weile mit ihr herum und rief ihr Begriffe wie Loyali­tät und Freundschaft zu, aber schließlich siegte ihre Vorsicht. Sie wollte diesen Wis­sensvorsprung, der ihr so eine Art Schutzwall zu sein schien, allen anderen gegenüber verteidigen. Also wandte sie sich wieder ihren Unterlagen zu.

      Erneut durchforstete sie die Orte, an denen sich Paul in den letzten Monaten vor seinem Tod zu Recherchezwecken aufgehalten hatte. Erfolglos. Kein noch so kleiner Hinweis ließ sich finden. Natürlich war ihr klar, dass auch die Sonderkommission so vorgegan­gen sein musste. Wenn diese, trotz wahrscheinlich viel umfangreicheren Informationen und technischem Knowhow nichts in Erfahrung gebracht hatte, ließ dies nur einen Schluss zu: Entweder hatte Paul seine Erkenntnisse mit ins Grab genommen oder sie so geschickt verborgen, dass selbst die SoKo sie nicht gefunden hatte.

      Die erste Alternative schloss Verena aus. Paul war Journalist. Mit Leib und Seele. Au­ßerdem war er äußerst penibel. Was sie fast immer bewundert, manchmal aber auch verflucht hatte: Seine Akribie, alles im Laptop in seinem elektronischen Kalender zu no­tieren oder in Excel-Dateien aufzulisten. Seine Pünktlichkeit. Seine Zuverlässigkeit.

      Verena merkte, wie sie schon wieder hinüberglitt in die Flut der Erinnerungen. Ja, all diese Charakterzüge waren das, was ihn ausmachten. Was ihn anders sein ließ. Natür­lich hatte sein Pünktlichkeitswahn sie manchmal zur Weißglut gebracht. Wenn sie bei­spielsweise, was häufig vorkam, noch fünf oder zehn Minuten vor dem Haus von Freun­den, die sie eingeladen hatten, im Auto saßen, weil Paul mal wieder überpünktlich war. Zeit, die sie im Bad gut hätte nutzen können, um eben noch einmal die Lippen nachzu­ziehen. Aber im Grunde ihres Herzens, auch wenn sie hin und wieder mal schmollte, zeigte sich auch in diesem Wesenszug seine Zuverlässigkeit. Sie konnte sich immer blind auf ihn verlassen. Er war ihr starker Arm, ihre Stütze, ihr Leben.

      Also, und so fand sie wieder zurück zu ihren Überlegungen, blieb nur die zweite Alterna­tive: Paul musste sein Wissen so verborgen haben, dass nur Püll oder sie eine Chance hatte, es ans Licht zu befördern. Wahrscheinlich eher sie selbst. Zumindest ging sie erst einmal davon aus.

      Verschlüsselte Notizen? Wahrscheinlich mit einem Zahlencode, der nur für sie von Be­deutung ist. Datum des Kennenlernens oder das der ersten gemeinsamen Nacht? Das erste Datum kannten viele, das zweite außer ihr nur Kirsten. Nach kurzer Überlegung verwarf Verena diese Theorie. Denn sie war sich auch sicher, dass die Spezialisten der SoKo diese Codes geknackt hätten und Paul viel zu vorsichtig war, um so vorzugehen, zumal er sich offensichtlich der ihm drohenden Gefahr bewusst gewesen war.

      „Was weiß ich, was die Kripo nicht weiß?“, schrieb Verena auf ein neues Blatt Papier und notierte dann weitere Fragen.

       Hat Paul in letzter Zeit sein Verhalten geändert?

       Hat es Widersprüche gegeben, wenn er von seinen Reisen zurückkam und mir davon berichtete?

       Hat er die Namen von Personen erwähnt? Den Namen einer bestimmten Person besonders häufig?

       Hat Paul Dinge eingepackt, die er sonst nie mitgenommen hatte?

       Hat er mir von seinen Reisen Geschenke mitgebracht, die anders waren als sonst?

       Hat er mir über Dinge berichtet, die zunächst für mich unverständlich, jetzt im Nachhinein aber von Bedeutung sind?

      Danach ging Verena alle Punkte durch, ohne auch nur die Andeutung einer Spur zu fin­den. Nichts. Es war zum Verzweifeln. Also Abstand.

      Du hast alles versucht und bist jetzt vielleicht betriebsblind, gestand sie sich ein. So be­schloss sie nach kurzem Zögern, sich frisch zu machen - es war inzwischen schon fast 18.00 Uhr - und noch eine Kleinigkeit im 'Biagini' essen zu gehen. Dabei wurde ihr be­wusst, dass gerade das Lieblingsrestaurant von Paul und ihr zum Erst-einmal-Abstand-Gewinnen keine wirklich gute Idee war.

      Also rief sie Kirsten an und fragte, ob sie allein sei, und ob sie nicht noch für zwei Stündchen irgendwo gemeinsam einen Happen essen gehen wollten.

      „Erste Frage: Ja, ich bin allein. Zweite Frage: Nein, aber ich wollte mir gerade den Rest der Lammkeule von unserem letzten Sekretärinnentreff in den Ofen schieben“, kam die prompte Antwort. „Wenn du dich also beeilst, könnten wir so in einer guten halben Stun­de einen gemütlichen Weiberabend starten. Für mich allein sind die Reste sowieso viel zu viel“, fuhr Kirsten fort. „Und dazu gibt´s einen 'David Moreno'. Ich lasse ihn vorher schon mal ein bisschen atmen, bevor wir ihm den Garaus machen“, ergänzte sie, noch bevor Verena etwas sagen konnte.

      „Hatte schon gedacht, du hättest wieder einen Spanier kennengelernt“, ulkte Verena. „Dann bis gleich. Ich mach mich nur noch eben fertig, bin kurz nach halb sieben bei dir.“

      „Beeil dich! Ich hab einen Riesenhunger.“

      8.

      Ein bisschen Make-Up, die Haare einmal durchgekämmt, raus aus den Wohlfühl-

      Klamotten, rein in die Jeans, weiße Bluse, darüber einen dünnen hellblauen Cashmere-pullover. Schon war Verena startklar. Sie schnappte sich ihre Handtasche, zog sich im Flur noch schnell ihre Sneaker an, schloss die Wohnungstür ab und hechtete die zwei Treppen hinunter zur Tiefgarage. Das war rekordverdächtig. Nicht einmal zehn Minuten hatte sie gebraucht, da sie doch