Wolfgang Voosen

Das Dossier


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länger als üblich blieb Verena am nächsten Morgen im Bett, döste noch ein wenig vor sich hin, bis sie gegen halb neun aufstand, unter die Dusche sprang und sich dann noch im Morgenmantel mit dem 'Puls' bewaffnet an den kleinen Bistro-Tisch in der Küche setzte, um gemütlich zu frühstücken und die Zeitung zu lesen.

      Während sie früher am Montagmorgen immer in Hektik war und voller Tatendrang der neuen Woche entgegenfieberte, gerade mal dazu kam, die erste Seite ihrer Morgenlek­türe zu überfliegen, ihr Müsli hinunterzuschlingen, um dann mit fliegenden Fahnen ge­meinsam mit Paul die Wohnung zu verlassen, hatte sie es sich jetzt zur Gewohnheit ge­macht, gerade am Wochenbeginn ausgedehnt und in aller Ruhe zu frühstücken. Artikel für Artikel, Seite für Seite las sie die Zeitung. Nur den Sportteil, früher montags die Lieb­lingslektüre von Paul, ließ sie aus. Als sie im Feuilleton angelangt war, fiel ihr Blick bei Durchsicht des abendlichen Fernsehprogramms auf die Ankündigung der Eco-Verfil­mung Der Name der Rose von Jean-Jacques Annaud im ARD-Spätprogramm. Als jun­ger Teenager hatte sie sich den Film 1986 direkt nach seiner Uraufführung angesehen und war sowohl von der Handlung als auch von der schauspielerischen Leistung Sean Connerys so begeistert gewesen, dass sie sich den Film nur gut eine Woche später ein zweites Mal angeschaut hatte.

      Jetzt allerdings kreisten ihre Gedanken um den Beginn der Geschichte, die zunächst als Suizid deklarierte Ermordung des Mönchs Adelmus. So war Pauls Tod plötzlich wieder hautnah, obwohl sie sich doch vorgenommen hatte, ein, zwei Tage Abstand zu gewin­nen. Es ging nicht. Ganz oder gar nicht. Sie konnte ihre Gedanken nicht auf Reisen schicken. Sie beherrschten sie. Sie nahmen sie gefangen.

      Doch es war nicht nur der vermeintliche Suizid, der ihr ein Zeichen gebendes Bindeglied zu sein schien. Nein, es war auch die Verquickung der Buchtitel: Der Name der Rose genauso symbolträchtig wie Die weiße Rose, die Leidensgeschichte der Sophie Scholl. Schon war die Verbindung wieder hergestellt zu Paul, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie sich am gestrigen Abend über den Verkauf des Bootes unterhalten hatten. Der Name tauchte auf und mit ihm wieder die Erinnerung an Pauls Gewohnheit, ihr von sei­nen Reisen immer eine weiße Rose mitzubringen und oft ein kleines Gedicht oder nur ein paar Zeilen eines früheren Gedichts, wenn er offensichtlich nicht die Zeit gefunden hatte, sich hinzusetzen, um ihr ein neues Gedicht zu schreiben.

      Die Zeitung hatte sie zur Seite gelegt und hing ihren Gedanken nach. Stimmte das oder verschwamm die Realität in der Flut der Erinnerungen? Hatte er ihr wirklich von jeder Reise eine weiße Rose mitgebracht? Hatte er ihr in letzter Zeit denn überhaupt einmal ein neues Gedicht geschrieben? Oder waren es in den vergangenen Monaten nicht im­mer nur einige Zeilen früherer Gedichte?

      So sehr sie auch ihre Gedanken zu ordnen versuchte, so sehr sie sich auch anstrengte, die Vergangenheit Revue passieren zu lassen, es gelang ihr nicht, sich ihre selbst ge­stellten Fragen zu beantworten. So kramte sie schließlich im Schlafzimmer ihren Kos­metikkoffer hervor, den sie schon lange nicht mehr benutzte und der ihr inzwischen als Aufbewahrungsort für die zahlreichen von Paul geschriebenen Briefe und Gedichte diente. Schmerzlich kam ihr in Erinnerung, wie sie sich gesträubt hatte, als die Beamten der Staatsanwaltschaft aufgrund des richterlichen Durchsuchungsbeschlusses auch ihre persönlichen Sachen durchwühlten und selbst vor Pauls Briefen nicht Halt machten. Sie hatte gefleht, sie hatte getobt, sie hatte geschrien. Doch durch nichts ließen sich die Be­amten von ihrer Pflicht abhalten. Wie ein kleines Häufchen Elend hatte sie sich schließ­lich in die Ecke des Schlafzimmers verkrochen und den Koffer, nachdem sämtliche Schriftstücke gesichtet worden waren, wie einen Schatz an sich gerissen.

      Doch jetzt störte sie niemand. Seine ihr so vertrauten Worte waren nun nur für sie be­stimmt. Stille beherrschte den Raum und wie von weiter Ferne drang seine sanfte Stim­me an ihr Ohr. Als erstes fiel ihr das Gedicht in die Hände, das Paul für sie nach der endgültigen Trennung von Maria geschrieben hatte. Sie las die ersten Zeilen:

       Die Tropfen des Regens höre ich fallen,

       nehme den Duft von Salbei wieder wahr.

      Doch weiter kam sie nicht. Denn ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Buchstaben be­gannen zu tanzen, zu verschwimmen. So saß sie eine ganze Weile auf der Bettkante, völlig apathisch. Als sie sich besann, wusste sie gar nicht, wie viel Zeit vergangen war. Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Oder gar eine Stunde?

      Schließlich bekam sie sich wieder in den Griff und machte sich mit großer Entschlossen­heit auf die Suche nach Antworten auf ihre Fragen. In seiner peniblen Art hatte Paul auf allem, was er verfasste, immer sein P.P. zusammen mit dem Datum hinterlassen. So sortierte sie zunächst seine Briefe und Gedichte chronologisch und begann dann, den Stapel rückwärts zu durchforsten. Zwar fiel es ihr nicht leicht, diese Reihenfolge zu wäh­len, denn so war es zwangsläufig Pauls letzter Brief, den sie zuerst zu lesen bekam. Aber alles andere machte keinen Sinn.

      Sie spürte, in den vergangenen Tagen Dinge übersehen zu haben. Von Pauls Briefen versprach sie sich neue Hinweise. Es kam ihr vor, als suche sie nach der viel zitierten Nadel im Heuhaufen. Irgendetwas hatte sie wahrgenommen, ohne dass es bis in ihr Be­wusstsein vorgedrungen war. Aber was und wann ist es gewesen? War es am Samstag, als sie mit Püll nochmals alle Unterlagen gesichtet hatte? Oder gestern Morgen, als sie sich Fragen notiert hatte, die darauf abzielten, Unterschiede in den Verhaltensmustern zu erkennen?

      Sie stand auf, ging ins Wohnzimmer und nahm das Blatt Papier mit dem Fragenkatalog vom Schreibtisch. Zurück im Schlafzimmer las sie sich jede einzelne Frage laut vor, ohne eine neue Erkenntnis zu gewinnen, aber sie prägte sich alle Fragen genau ein. Dann wandte sie sich wieder Pauls Briefen, Notizen und Gedichten zu.

      Als sie den dritten Brief gelesen hatte und der nächste griffbereit vor ihr lag, wurde ihr plötzlich bewusst, dass Paul ihr in den letzten Wochen vor seinem Tod, ganz gegen seine Gewohnheit, tatsächlich nicht ein einziges neues Gedicht geschrieben hatte. Aber immer hatte er zwei, scheinbar beliebige Zeilen früherer Gedichte oben am Briefanfang noch vor der Anrede diagonal geschrieben und unterstrichen.

      Wieso unterstrichen? Das war überhaupt nicht Pauls Art. Er hasste es geradezu, wenn Kollegen oder Mitarbeiter auf diese Weise etwas hervorheben wollten. Verena gegen­über hatte er mehr als einmal betont, dass nur derjenige etwas unterstreiche, der nicht in der Lage sei, sich klar auszudrücken.

      War das ein erstes Zeichen? War das eine Botschaft, die nur sie verstand, die nur sie verstehen sollte? Aber was konnten ihr diese Zeilen früherer Gedichte sagen? Ergaben sie aneinandergereiht einen Sinn? Deuteten sie auf etwas hin?

      Sie überlegte hin und her, aber konnte sich aus den Unterstreichungen keinen Reim machen. Schließlich las sie den vierten Brief und stellte fest, dass nur noch dieser mit einem auf diese Art hervorgehobenen Zweizeiler begann. Die davor geschriebenen Briefe Pauls enthielten keine Fragmente früherer Gedichte. Dass ihr das nicht schon frü­her aufgefallen war?! Und warum hatte sie darüber nicht mit Paul geredet? Warum hatte er nicht selbst sie darauf angesprochen? Fragen über Fragen. Aber nicht eine einzige Antwort.

      Verena überlegte. Dann nahm sie einen linierten DIN-A4-Bogen und schrieb die vier Zweizeiler in chronologischer Folge, wie sie die Briefe erhalten hatte: Die Spannung war entwichen,

       der Atem abgeflacht.

       Dicht beieinander

       ruhten unsere Körper.

       Nur das Dröhnen der Stille

       nahmen wir wahr.

       Erinnerst Du Dich

       an das Spiel unserer Zehen,

      Wie in Trance ergänzte Verena die nächste Zeile: „das dann wieder begann.“ Von der Erinnerung überwältigt liefen ihr ein paar Tränen über die Wangen. Aber in ihre ganze Traurigkeit mischte sich auch ein Gefühl des Triumphes: Wer diese Zweizeiler bei Durchsicht der Briefe gelesen hatte, mochte sie für eine Spinnerei unter Verliebten hal­ten. Auf keinen Fall konnte der nicht eingeweihte Betrachter hierin eine Botschaft erken­nen, selbst