Dirk Bierekoven

Kehrtwende


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       Er hielt den Atem an und Adrenalin schoss ihm ins Herz, dass es ihn fast von den Füßen riss. War ihm tatsächlich eben kalt gewesen?

       Er sah, wie die Haustür aufging und ein Mann auf die Straße trat. Er sah, wie der Mann kurz stehen blieb, sich umsah, den Kragen seines Mantels hochschlug und die Straße hinunterging, fort von ihm.

       Er wartete, bis Max Schulte sich ein paar Meter vom Haus entfernt hatte, und trat dann aus seinem Versteck heraus.

       Nicht zu früh, warnte er sich. Schulte musste weit genug weg sein von diesem Haus, jemand könnte aus dem Fenster schauen und ihn beobachten.

       Als er sich in Bewegung setzte, merkte er erst, wie steif er tatsächlich vom unbewegten Warten in der Kälte geworden war. Er bekam seine Beine kaum vernünftig voreinander, und der Bürgersteig war nass und rutschig.

       Er war zu langsam, verlor den Abstand zu seinem Opfer und hatte auch noch die Straße zu überqueren, die zwischen ihnen lag.

       Vor Panik wurde er unvorsichtig, beschleunigte seinen Schritt und es hallte von den Wänden wider.

       Warum war es nur so verdammt ruhig hier.

       Langsam kam er ihm wieder näher. Er trat auf die Straße, doch das Kopfsteinpflaster war zum Teil schon überzogen mit gefrierender Nässe, sodass er ausrutschte und sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte.

       Hatte er dabei gestöhnt?

       Schulte beschleunigte seinen Schritt, er hatte ihn bemerkt, zweifellos. Er wurde zu schnell für ihn und in Panik rief er nach ihm. Es war eine völlig unsinnige Idee, doch er wusste sich nicht anders zu helfen. Zweimal, dreimal rief er seinen Namen und tatsächlich, überraschenderweise blieb Schulte stehen.

       Verdutzt stoppte er ebenfalls und haderte einen Moment. Mit dieser Reaktion Schultes hatte er nicht gerechnet, eher schon mit Flucht. Und für den Moment hielt die Welt den Atem an, gespannt auf die Explosion. Dann besann er sich, stürmte auf ihn zu und in dem Moment, als er bei ihm war, drehte sich Max Schulte zu ihm um.

       Sie standen Aug in Aug.

       Es war eine völlig skurrile Situation für ihn, unwirklich, wie ein nachwirkender Traum am frühen Morgen, gleich nach dem Erwachen.

       Sie starrten sich an und Schulte stand die Frage im Gesicht geschrieben: Wer zum Henker bist du denn?

       Wie hypnotisiert hob er das Messer, das er fest in seiner Hand hielt, bis in Bauchhöhe von Schulte – und stach zu.

       Langsam, eher zögerlich.

       Er spürte den Widerstand der Bauchdecke und nach ein wenig mehr Druck, wie er brach und seine Hand tief in den Leib seines Opfers fiel. Er sah ihm dabei fest in die Augen und suchte nach dem Moment, in dem Schulte klar wurde, wer sein Henker war und warum er jetzt zu sterben hatte. Er drehte das Messer um hundertachtzig Grad, drückte es nach unten, zog es langsam wieder heraus und durchschnitt ihm dabei abermals Magen und Gedärm. Warmes Blut lief über seine kalte Hand.

       Schultes Mund öffnete sich, doch sein Schrei blieb stumm. Seine weit aufgerissenen Augen, voller Angst und Schmerz, sahen hilfesuchend wild umher.

       Dann stach er kopflos auf sein Opfer ein. Wutentbrannt und mit blinder Raserei. Bauch, Hals, Nacken und Rücken. Fünfmal, zehnmal, er wusste es nicht mehr. Warme Tränen liefen ihm über sein Gesicht, und als er fertig war, stand er auf und sah auf sein Opfer hinab. Ein lebloser, verstümmelter Körper. Die Gliedmaßen weit von sich gestreckt. Der Kopf fast abgetrennt.

       Er erbrach sich gleich neben ihm.

       Er spürte keine Angst, setzte sich erschöpft auf die Bordsteinkante und wollte nur noch dort sitzen bleiben und sich erholen. Was würde jetzt kommen?

       Ben Mulder

      Wenn die Nacht schon so richtig übel war, kann der Morgen danach einfach nicht besser sein.

      Es gibt Nächte, die Heilung bringen, und, geknüpft an deren Morgen, der Abend zuvor wunderschön und keine Verschwendung war.

      Doch so ein Morgen war dieser Morgen nicht. Keine Heilung. Kein wunderschöner Abend. Nichts zum Schönreden. Nur Schmerzen, Übelkeit und Reue.

      Wenn ich trinke, schlafe ich mies. Das ist einfach so. Zuerst falle ich in eine Art Koma. Doch irgendwann in der Nacht wache ich auf, gequält von Müdigkeit und den Folgen des Alkoholkonsums. Kämpfe mit dem Kater, gegen das Kotzen und mein Herz legt Doppelschichten ein, um mich rein zu waschen. Ich spüre den Pulsschlag in jeder kleinsten Ecke meines Körpers.

      Es ist die Hölle.

      Jedes Mal.

      Wenn ich mit der Nacht durch bin und der Morgen sich gnädig zeigt, pelle ich mich aus dem Bett, dankbar, dass es vorüber ist, und zugleich fluchend, dass keine weitere Zeit für Erholung bleibt. Meine ersten Gedanken sind dann nicht „Nie wieder", diesen Selbstbetrug habe ich schon lange aufgegeben. Nein, die ersten Verknüpfungen kümmern sich darum, wie ich den Tag bis zum Abend ordentlich hinter mich bringen kann. Denn die Erfahrung sagt mir, ab Mittag wird es noch mal richtig schlimm. Dann kommt der Einbruch und die Übelkeit, Hand in Hand mit einer hinterhältigen Müdigkeit, wie dunkle Schatten in eine schmale Häusergasse, und mit ihnen die folgenschwere Entscheidung, die Qualen wie ein Mann auszutragen oder eben mit Alkohol und Tabletten zu überbrücken, um am nächsten Tag von vorne zu beginnen.

      Raten Sie mal, wie das ausgeht.

      Trotzdem stehe ich jeden Morgen auf und beginne den Tag pünktlich, und wissen Sie, warum? Weil ich meine Arbeit liebe und das bisschen Selbstachtung, welches ich noch besitze, mir klar vor Augen führt, dass dies der einzige Grund ist, um nicht komplett im Delirium zu verschwinden.

      Ich bin Polizist.

      Mit Leib und Seele.

      Morduntersuchungskommission Ostberlin. Oder kurz: MUK.

      Das war ich nicht immer. Ich stand auch schon mal ein paar Stufen höher auf der Leiter der Befehlskette, aber das ist eine andere Geschichte, vielleicht für später.

      Jedenfalls quälte ich mich auch an diesem Morgen mit krampfendem Magen und schmerzenden Beinen aus dem Bett.

      Im Nachhinein sei gesagt, dass ich mir das an diesem Tag ausnahmsweise einmal hätte sparen sollen. Es war eine folgenschwere Entscheidung, die ich traf, aber das konnte ich natürlich noch nicht wissen.

      Also stolperte ich quer durch meine Wohnung bis ins Badezimmer. Fluchend über mein verdammtes Pflichtbewusstsein fiel ich dort vor der Schüssel auf die Knie, um sie ordentlich anzubrüllen. Einer hatte es schließlich auszubaden.

      Meinen ganzen verdammten Frust der versoffenen letzten zwei Tage brüllte ich ihr entgegen und als ich fertig war mit Brüllen, setzte ich mich neben sie, erschöpft und leer, schaute durch das runde Dachfenster in den Himmel und sah die Sonne durch einen kleinen Riss im tiefen Grau kurz in mein Bad hineinkieken. Es war wunderschön. Ich mag Wolkenspiele und Weitblick. Deshalb lebe ich in einer Dachwohnung.

      Eine heiße Dusche ist so eine Art schwereloser Raum für Befindlichkeiten. Alles, was sich unter ihr abspielt – wie gut man sich auch immer fühlt – es zählt nicht für außerhalb. Sie täuscht über die Tatsachen hinweg wie eine magische Käseglocke und es ist wichtig, das zu wissen, dann ist die Enttäuschung später nicht so groß, wenn man merkt, dass man sich doch noch so richtig kacke fühlt und der Tag noch eine Ewigkeit dauern wird.

      Ich drehte die Dusche auf heiß, so richtig heiß, stieg hinein, stützte mich an der Wand ab und pinkelte. Hab mal gelesen, das würde Wasser sparen, und ja, warum eigentlich nicht.

      Ich blieb unter der Dusche, bis mein Kreislauf