Dirk Bierekoven

Kehrtwende


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vor das Waschbecken. Die Zahnbürste in der rechten Hand haltend, schaute ich auf meine neblige Silhouette im beschlagenen Spiegel. Hob langsam die linke Hand, um die Feuchtigkeit vom Spiegel zu wischen, stockte kurz, denn ich wusste, dass mir nicht gefallen würde, was ich gleich sah. Presste dann meine platte Hand auf den Spiegel und zog sie quer hinüber.

      Und ja, Volltreffer.

      Diese Ränder ...

      Die Falten sind mir egal. Auch mit den feinen geplatzten Äderchen auf meiner Nase und den Wangen kann ich leben. Rote Augen, die werden bald wieder weiß sein. Aber die Ränder unter meinen Augen, die werden bleiben und jeder wird sie sehen. Und jeder wird denken, wie übel ich aussehe. Und ich hasse das. Ich will nicht, dass irgendjemand glaubt, mir ginge es nicht gut. Ich will nicht, dass sich irgendjemand überhaupt Gedanken darüber macht, wie es mir geht.

      Damit kann ich so gar nicht mit umgehen: eigene Schwächen!

      Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel, die Narbe über dem rechten Auge. Ich konnte mich schon lange nicht mehr daran erinnern, wie ich ohne ausgesehen hatte.

      Seit Tagen nicht rasiert und ich hätte fast alles an diesem Morgen lieber getan, als mich zu rasieren.

      Also ließ ich es sein.

      Freute mich stattdessen auf die Sprüche im Büro und beschloss einfach, dass ich heute Morgen nicht zum Chef gerufen werden würde.

      Ich ging näher an den Spiegel heran und suchte in meinem grauen Haar nach meiner eigentlichen Haarfarbe, schwarz. Hier und da noch zu entdecken, aber im Gesamtbild nicht mehr zu erkennen.

      Ich war alt. Aber das scherte mich nicht. Solche Eitelkeiten waren mir schon vor langer Zeit abhandengekommen. Ich hatte andere.

      Jeans, schwarzer Rollkragenpullover und ab in die Küche, die zwar sehr klein war, aber ich fand sie urgemütlich. Links Kühlschrank, Gasherd und Spüle, rechts ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und geradeaus eine Glastür mit schmaler Terrasse dahinter.

      Zwei Tassen ganz starker Kaffee mit reichlich Zucker, dazu zwei Titretta im Wasserglas und Bisoprolol in fast vorgeschriebener Menge. So langsam kam ich in Tritt.

      Schwarze Lederjacke, schwarze Lederstiefel, einen Toast mit Marmelade auf die Hand, so schlug ich die Eingangstür hinter mir zu und stieg die ausgetretenen und quietschenden Holztreppenstufen der Haustreppe von meiner Dachwohnung bis runter auf die Straße.

      Dietrich-Bonhoeffer-Straße 14

      Im Eingangsbereich blieb ich kurz stehen.

      Toast war weg, Zeit für eine Kippe.

      Ich kramte in meiner Jackentasche und fand ein zerknautschtes Päckchen mit zwei Zigaretten darin. Die erste hatte einen Riss. Heiland, bitte nicht. Die zweite war ebenso ramponiert wie die erste, ich strich sie vorsichtig glatt und, Themis sei Dank, sie war in Ordnung.

      Ist das normal, solch eine Erleichterung wegen einer Kippe?

      Ich zog mein silbernes Benzinfeuerzeug aus der rechten Hosentasche und zündete mir die Zigarette an. Dabei schaute ich auf die Klingeln neben der Haustür und auf die Namensschilder all der Personen, die im Haus lebten.

      Ich ging die Namen von oben an nach unten durch.

      - Mulder

      - Schneider

      - Garetzki

      - Schuhmann

      Schuhmann ... hhhmmm!!

      Hier blieb mein Blick hängen und ein kleines Kribbeln machte sich in meinen südlichen Gefilden breit.

      Nein, so weit südlich nicht, mehr in Höhe meines Magens. Ein warmes, schönes Kribbeln, ein echtes Gefühl.

      Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und trat auf die Straße.

      Es regnete.

      Bindfäden im Winkel von sechsunddreißig Grad.

      Ich sah die Straße hinunter.

      Am Horizont gossen sich die weichen Linien des wolkengrauen Himmels über die scharfkantigen Schattierungen der Stadt und verschluckten ihre Tiefe.

      Es sah aus wie ein Bild von Emil Nolde. Ein bisschen weniger bunt vielleicht.

      Der kalte Regen drang in alle ungeschützten Ritzen meiner Kleidung ein.

      Ich schritt zu meinem Wagen und seufzte laut.

      Jaaahh, mein Wagen, mein Baby!

      Ich stieg ein, drehte den Zündschlüssel, und es folgte ein motzendes rööhhr, rööhhr, rööhhr, was zu erwarten war.

      Ich liebe mein Auto, wirklich, ich liebe es sehr, aber es ist halt eine Französin und offensichtlich im Süden Frankreichs geboren und aufgewachsen. Es hasst Kälte und Feuchtigkeit.

      Aber es ist mein ganzer Stolz. Ein schwarzer Citroën CX. Und ist dies nicht schon außer- gewöhnlich genug, ist es ein Citroën CX Prestige, eine Luxuslimousine, ganz in Schwarz.

      Wie ich zu diesem Auto gekommen bin, hier in diesem Land? Wie die Jungfrau zum Kinde. Dieses Auto ist mein ganzer Stolz. Meine Insel der Freiheit inmitten versperrter Wege. Meine direkte Verknüpfung zum Außergewöhnlichen, zum Besonderen, zum heimlichen Protest. In ihm hebe ich mich vom Rest um mich herum ab.

      Scheiße, ich weiß, das klingt arrogant, aber es ist viel mehr als Arroganz. Für mich ist es ein Grund. Ein Grund, nicht zu viel über mein Leben außerhalb der Arbeit nachzudenken. Ein Grund, all die Einschränkungen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht zu analysieren, warum ich wieder allein bin. Ohne mein Auto wäre ich nichts anderes als ein weiteres dunkles Partikel in einer schwarzen Masse.

      Ich brauche keinen Urlaub am Meer in Bulgarien, mir reicht es, hin und wieder unbedacht mit meiner sanften Französin über die einsamen Feldwege im Norden zu schweben, die weichen Stoßdämpfer unter meinem Arsch und John Coltrane im Ohr.

      Und ja, mein Auto ist eine Sie.

      So glitt ich auch diesen Morgen über die nassen Straßen Ostberlins dahin.

      Dietrich-Bonhoeffer-Straße bis zum Arnswalder Platz, mit seinem monumental hässlichen Stierbrunnen oder auch Fruchtbarkeitsbrunnen. Furchteinflößend. Am Platz rechts, in die Bötzowstraße, beidseitig flankiert von Altbauten aus der Jahrhundertwende, wunderschön und großzügig angedacht, jedoch sah man ihnen ihr Alter exakt auf den Tag genau an. Abgeplatzter Putz, bröckelnder Stuck, leider keine Ausnahmeerscheinung. Hier kümmerte man sich einen Scheiß um seine Gebäude, oder Straßen, oder ..., ach hören wir auf damit. Bötzowstraße bis zum Ende, und dann rechts abbiegen in die Straße Am Friedrichshain. Vorbei am großen Bunkerberg im Volkspark, und von dort bis zur Ecke Greifswalder Straße, dann links abbiegen, und immer geradeaus bis zur Hans-Beimler-Straße. Hier wurde die Straße schon fast verschwenderisch breit.

      An Ampeln, an denen ich hielt, lugten die Menschen unter ihren Regenschirmen hervor und warfen Blicke auf meine Süße, aber das war ich gewohnt. Männlein wie Weiblein schauten immer, wenn wir vorfuhren, meistens allerdings mit Argwohn.

       Polizeipräsidium Keibelstraße

      Diese Stadt ist der Inbegriff der Farbe Grau. Ernsthaft schlagen Sie es nach: Grau = Ostberlin. Und an Tagen wie diesen, im November, müssen Sie Grau schon wirklich mögen, um nicht in unmittelbare oder posttraumatische Depressionen zu verfallen. Hab mich schon oft gefragt, ob das wohl so gewollt war, alles schön grau halten. Grau und funktionell, dann kommste auch nicht auf doofe Gedanken.

      Vielleicht steht´s ja aber auch in irgendeinem Nebensatz von Engels oder Marx: Lasst es grau sein!

      Oder so ähnlich.

      Während ich meinen Wagen quer durch Berlin steuerte und mich an den freien weiten Straßen erfreute, war die Stadt wie ausgestorben. Die meisten Einwohner lagen sicher noch mit einem angemessenen Kater im Bett. Schon seit ein paar Wochen war der übliche Alltag ins Wanken geraten, und mit jedem Montag wurde es chaotischer. Doch nun, seit zwei Tagen, nach