Günther Dümler

Mords-Zinken


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der beiden Kriminalbeamten in ein unübersichtliches Chaos verwandelten. Schindlers Abwesenheit sei Dank, lief auch leise das Radio, genauer gesagt der Sender Radio Frankenland 99-3 und das aus gutem Grund. Havranek legte den schmalen Hefter, den er gerade in der Hand hielt, zur Seite und lauschte gespannt den Worten der Moderatorin. Seit zwei Wochen lief auf diesem Kanal eine Aktion, bei der man eine Reise nach Jamaika gewinnen konnte, wenn man erstens das Glück hatte angerufen zu werden und zweitens auf Verlangen auch noch das richtige Codewort parat hatte. Das aktuell laufende Musikstück vermittelte Havranek schon mal vorab ein unterschwelliges Karibikfeeling, Sunshine Raggae von Bob Marley. Gleich würde die Dame am Mikrofon eine Andeutung machen, wen sie als nächstes anrufen würde. Eine zweite Chance sozusagen, denn der zuvor ausgeloste Einsender hatte den Hörer nicht abgehoben. Wie dumm kann man denn sein, sich eine solche Traumreise entgehen zu lassen.

      „Unser nächster Kandidat ist ein Mann, ein Beamter, der tagtäglich im Dienste der Allgemeinheit und für die Sicherheit von uns allen im Einsatz ist. Na, wissen sie schon, bei wem das Telefon gleich klingeln wird? Dann gehen sie, sobald sie es hören, ganz schnell ans Telefon und sagen sie mir den Lösungssatz und schon sind sie der glückliche Gewinner einer phantastischen Traumreise in die herrliche Karibik, blauer Himmel, weißer Sand, einen Cocktail in der Hand, im Arm eine rassige Schönheit … Eins, zwei, drei…“

      In diesem Moment klingelte das Diensttelefon von Heinz Havranek, der sofort den Hörer abnahm, ihn fest ans Ohr presste und aufgeregt verkündete:

      „Ich höre bei der Arbeit Radio Frankenland neunundneunzigdrei, blauer Himmel, weißer Sand. Ich wäre gern dabei."

      Die Dame vom Radiosender meldete sich nicht gleich, wahrscheinlich war sie verblüfft, wie schnell und fehlerfrei er die Lösung heruntergerasselt hatte. Als Havranek es vor Spannung kaum mehr aushielt, da dröhnte urplötzlich auf ihre unnachahmliche Art die hoch erregte Stimme von Hauptkommissar Erwin Schindler aus dem Äther:

      „Das kann schon sein, Havranek, aber ganz bestimmt zum letzten Mal. Ab sofort hören sie ausschließlich was ich ihnen zu sagen habe, verstanden. Hier spricht Erwin Schindler, falls sie es noch nicht gemerkt haben sollten. Blauer Himmel, weißer Sand! Ich sage ihnen, dass sie von Glück reden können, wenn sie nächste Woche nicht mit ein paar wunderschönen weißen Handschuhen und einer blauen Uniform auf einer Kreuzung stehen und den Verkehr regeln. Haben wir uns verstanden?“

      Und mehr zu sich selbst fügte er hinzu:

      „Es wird höchste Zeit, dass wieder einmal etwas passiert. Dieser Müßiggang ist pures Gift für die Disziplin.“

      Er konnte ja nicht ahnen, dass sein Wunsch schon sehr bald in Erfüllung gehen und auch nicht, wie sehr er diesen Spruch noch bereuen würde.

      Mittwoch, 27. Juni 2018, spätnachmittags

      Inzwischen war fast ein Monat vergangen. Auf dem Zeltnerhof schien der Hund verreckt zu sein, wie man in Franken gerne sagt, wenn sich nichts, aber schon rein gar nichts regt. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich so aus, als ob diese Redewendung wortwörtlich zu nehmen wäre. Der Harras, von Berufs wegen Hofhund bei den Zeltners, lag faul und teilnahmslos, die mächtige Schnauze flach auf den Boden gepresst, auf dem grob gepflasterten Vorhof des Anwesens. Nur hin und wieder gab er ein schwaches Lebenszeichen von sich. Dann blinzelte er für einen winzigen Augenblick in die Spätnachmittagssonne des angenehm warmen Junitages, so als wollte er wenigstens so tun, als hätte er seine Pflichten als Wächter des Hauses noch nicht ganz vergessen. Eine geradezu unheimliche, fast übernatürliche Stille lag über der Szenerie. Nicht einmal der prachtvolle, ansonsten so stimmgewaltige Hahn auf dem ebenso beachtlich großen Misthaufen gab auch nur einen einzigen Ton von sich. Irgendwie war die ganze Stimmung durch und durch deprimierend.

      Dazu passte auch der offensichtlich zutiefst niedergeschlagene Mann, der sich in einer abgewetzten, ehemals schwarzen Hose und einem weißen T-Shirt kraftlos und schlurfenden Schrittes über das Pflaster in Richtung Heuschober bewegte. Sein schleppender Gang erweckte den Eindruck ein schwerer Schicksalsschlag habe ihn an den Rand seiner körperlichen Leistungsfähigkeit gebracht. Was zum Teil auch stimmte. Ein aufmerksamer Betrachter hätte natürlich die schmalen anthrazitgrauen Streifen und das auffällige Emblem auf der Vorderseite des Hemds sofort richtig gedeutet. Wem dies noch nicht gereicht hätte, der hätte spätestens aufgrund der aufgedruckten Zahl 13 und dem Schriftzug Müller auf seinem Rücken Klarheit gehabt. Es handelte sich um ein Originaltrikot der deutschen Fußballnationalmannschaft. Der war ja bekanntlich und das sehr zum Leidwesen des gebeutelten Mannes, seit einigen Jahren das Nationale im Namen und das Fußballerische, vorsichtig ausgedrückt, in ihren Beinen ein wenig abhanden gekommen. Deshalb bezeichneten sie sich selbst auch nur noch als ‚Die Mannschaft‘. Eine Neuerung, die dem vom Kommerz bestimmten Zeitgeist geschuldet war und die dem Zeltnerbauern und um niemand anders handelte es sich bei dem dahin schwankenden Wrack, ganz und gar nicht gefiel. „Keinen Stolz, diese Söldner“, hätte er geschimpft, wenn ihn denn nur einer nach seiner Meinung dazu gefragt hätte. Hatte aber keiner.

      Es war wieder einmal Weltmeisterschaft, genauer gesagt Fußball-Weltmeisterschaft, normalerweise eine Spanne von vier Wochen, in der in Deutschland die Ordnung weitgehend auf den Kopf gestellt wird. Mitarbeiter forderten zusätzliche Pausen, um die Spiele am Fernsehen verfolgen zu können, selbst Kabinettssitzungen wurden verschoben, weil der WM-Zeitplan der absoluten Konzentration auf die Regierungsgeschäfte geschadet hätte und an fast allen Häusern hingen schwarz-rot-goldene Fahnen aus den Fenstern. Autos fuhren hupend durch die Großstädte, der Verkehr brach regelmäßig zusammen, doch niemand regte das auf, es war halt wieder mal WM.

      So war das alle vier Jahre der Fall, bisher jedenfalls. Diesmal jedoch fand das Großereignis in Russland statt, was die Sache ein klein wenig veränderte. Es war weiterhin allgemeine Bürgerpflicht, die Spiele, wenigstens die der Deutschen, am Fernsehgerät zu verfolgen, wenngleich dies auch nicht mit der gleichen Euphorie geschah wie noch vor vier Jahren. Dafür sorgten schon die zahllosen Berichterstatter, die bereits im Vorfeld nicht müde wurden von den PutinSpielen zu reden und die kein gutes Haar an der ansonsten liebsten Veranstaltung der Deutschen ließen. Manche hatten sich sogar zu dem Ratschlag verstiegen, man hätte gar nicht erst anreisen und die Propagandaspiele dieses lupenreinen Feindes aller aufrechten Demokraten ganz boykottieren sollen. Die russische Bevölkerung, die fast 150 Millionen Russen, die sich darauf freuten, die Welt bei sich zu Besuch zu haben, spielten in deren Überlegungen offensichtlich keinerlei Rolle. Der Fußball war bei dieser Weltmeisterschaft für die Deutschen zur Nebensache geworden, wie sehr, das konnten auch die größten Pessimisten in diesem Moment noch nicht ahnen.

      Im Moment sah es ganz so aus, als würden die Deutschen, zumindest die auf dem Spielfeld, genau diesen Vorschlag befolgen. Boykott und das mit voller Konsequenz. Eine absolut trostlose Vorstellung, die sich der Zeltner da angetan hatte, ganz alleine im Wohnzimmer. Die Zeltnerin interessierte sich überhaupt nicht dafür, hatte sie jedenfalls gesagt, bevor sie die Wohnstube verlassen hatte, um angeblich ihren vielfältigen Pflichten auf dem stattlichen Hof nachzukommen. Dieses Verhalten hatte den Bauern doch ziemlich verwundert, wo sie doch noch beim Gewinn der Weltmeisterschaft vor vier Jahren eine der eifrigsten Anhängerin der Jogi-Buben zu sein schien. Überall hatte sie damals schwarz-rot-goldene Devotionalien aufgestellt, was sogar ihrem fußballverrückten Mann ziemlich albern erschien. Aber versteh‘ einer die Frauen.

      Es war gerade Halbzeit im letzten und entscheidenden Vorrundenspiel der Deutschen Nat…, Pardon, der Mannschaft. Gegen Mexiko hatte sie schon eine Niederlage kassiert, obwohl Fachkreise im Vorfeld allgemein nur über die Höhe des zu erwartenden Sieges diskutiert hatten. Dieses enttäuschende Ergebnis hatte beim Zeltner bereits eine leichte Spur von Skepsis ausgelöst, was den weiteren Verlauf des Turniers anging. Dann aber hatten sie gegen die Schweden, die von allen Experten unisono als spielerisch unterlegen eingestuft waren, erst fünfzig Sekunden vor Ende der großzügig bemessenen Nachspielzeit und nur mit unendlich viel Dusel doch noch einen Sieg geschafft. Die Welt schien mit einem Mal wieder in Ordnung zu sein. Einfach Kroos-artig! Alles war wieder möglich. Man hatte es wieder selbst in der Hand. Eine reichlich oberflächliche Betrachtungsweise. Beim Zeltner und der war Experte, hatte die Art und Weise des Zustandekommens dieses Holpersieges die Zuversicht