Günther Dümler

Mords-Brand


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der Vierbeiner spannen einen gewaltigen Bogen vom edlen Baldo vom Lüdenhain bis hin zum einfachen Schatzi, dem kleinen Liebling von Margarethe Beck, der allseits bekannten Beggn Gredl. Einen Stammbaum aber haben sie alle, wenngleich nur Baldo von Adel ist, die Stammbäume der anderen finden sich samt und sonders auf den Grünflächen der kleinen Gemeinde.

      Sie treffen sich mehrmals täglich aus geschäftlichen Gründen, also wenn es Zeit für ihre Lieblinge ist, ihre angestammten Schattenspender und Grünstreifen neben dem Weg aufzusuchen. Notfalls auch spät am Abend. Heute ist es schon nach 23 Uhr, als die Beggn Gredl und drei ihrer Mitstreiterinnen durch die dunklen Gassen von Röthenbach ziehen und den neuesten Tratsch von vorne bis hinten und zurück durchkauen. Es ist schon etwas später geworden, denn bis vor kurzem lief noch der Rosamunde-Pilcher-Film im Zweiten, dem Programm, mit dem man angeblich besser sieht. Bevor die beiden hinreißend schönen Protagonisten sich im golden schimmernden Licht der untergehenden Sonne Cornwalls endlich das bis unmittelbar vor dem Ende von üblen Intrigen und jähen Schicksalsschlägen gegefährdete Ja-Wort geben hatten, war an einen Aufbruch nicht zu denken. Diesem Umstand war es auch geschuldet, dass so mancher Liebling seinen Stammbaum nicht unfallfrei erreichte. Routiniert wurden Schäufelchen und Tüten ausgepackt, die Unfallfolgen beseitigt, ohne dass die angeregte Unterhaltung auch nur die geringste Unterbrechung erfahren hätte.

      „Ich hobbs ja glei gwussd, dass der Graf von Blissering-Dingsdou nedd ganz koscher iss. Dess hodd mer demm sein verschlagner Bligg ja glei angseeng, dass der dem jungen Mann blouß durch Beschiss sei Erbe vorendhaldn hodd. Mensch, war der dess villeichd ein gemeiner Schuffd. Abber drum schau ich die Bilcherfilme ja su gern, wall am End immer der Richdiche gwinnd. Na und sie erschd, wassd scho, die Barroness, wäi a Rauschgoldengl hodd dee ausgschaud mid ihre langer roudblondn Haar, wergli wahr. Denne zwaa hodd mers ja einfach gönner müssn, dass doch nu zsammkommer. Iss scho immer schee.“

      „Ach, ich däd hald immer nu gern seeng, wies dann heiradn und die Feier und alles. So a Fürsdnhochzeid, mid anner weißn Kudschn und Pfer…“, steuerte eine weitere Dame bei.

      „Gschmarri!“, unterbrach sie die Beggn Gredl resolut, „vielleichd a glei nu vier, fünf goldblonde Kinderlä im Madroosnanzuuch und Sommergleidlä mid frisch büglde Schleifler in die Haar. Irgndwann muss hald amaal Schluss sei. Den Resd kommer sich doch denkn!“

      Sie waren noch mitten ins Gespräch vertieft, als ein Mann um die vierzig, etwas unsicher auf den Beinen schwankend, auf sie zu kam. Der Kerl sah ziemlich wild aus, doch so etwas wie Angst kannten die Frauen nicht. Notfalls hätten sie von ihrem Pfefferspray Gebrauch gemacht, das sie bereits vorsichtshalber in der Jackentasche mit sicherer Hand umschlossen hielten. Alles unter Kontrolle. Nur einer der Hunde war offenbar nicht informiert. Entweder hegte Gredls Schatzi generell eine Abneigung gegen große Männer oder er hatte aufgrund seiner angeborenen Instinkte eine potentielle Gefahr gewittert, die von der leicht schwankenden Gestalt ausging. Der kleine Hund fühlte sich jedenfalls ernsthaft bedroht und knurrte den Entgegenkommenden sogleich wütend an. Der erschrak und wollte zurückweichen, kam dabei aber beinahe aus dem Gleichgewicht.

      „Verfluchter Köter! Verschwinde!“

      Zeitgleich versetzte er Margarethe Becks Liebling einen heftigen Fußtritt, der den tapferen Verteidiger der Schutz- und Wehrlosen augenblicklich aus der Kampflinie entfernte. Danach wankte er, so schnell es sein erhöhter Alkoholspiegel zuließ, an den im ersten Moment völlig verdutzten Frauen vorbei und verschwand bald danach im Dunklen. Die vier Damen konnten nur noch konsterniert hinter ihm her blicken.

      „Woss war ner dess für anner?“, erkundigte sich eine davon. „Den hobbi bei uns dou noch nie gseeng.“

      „Dess iss mir worschd! Der hodd mein Schatzi dreedn. Abber ich hobb mer sei Gsichd genau gmergd. Den werri helfn!“, schimpfte die Gredl.

      Das mit dem Helfen darf man nicht gar zu wörtlich nehmen. Im Gegenteil. Wenn der Franke sagt, dem werd ich helfn oder gar dem werd ich in die Schlabbn nei helfn, dann meint er damit, dass er dem so bedachten zur Not mit einer Mordsdrumm Schelln, einer Ohrfeige also, nachhelfen werde, sein Unrecht einzusehen.

      „Der brauchd si bei mir nimmer bliggn lassn, sonst gibds woss! Abber wahrscheinli iss dess sowieso a Fremder, der im Adler über Nachd abgschdiegn iss, irchnd a Verdreeder odder a Monteur hald“ vermutete die Gredl, befürchtend, dass sie auf ihre Rache verzichten musste.

      „Abber dou gäihds doch gar nedd zum Adler, eher wech dervo“, hakte die erste Sprecherin nach.

      „Woss wass ich, vielleichd maand er, er mou sein vullgsuffner Kobf nu aweng in die frische Lufd haldn, bevor dass er ins Bedd gäihd. Herrschafd, dass dee Mannsbilder aa immer su saufn mäin! Woss ner dou gar su schäi droo iss?“

      Margarethe Beck sprach aus langjähriger Erfahrung.

      „Kumm Schatzi“, sagte sie kurz darauf an ihren leise winselnden Mischling gewandt, „gänger mer hamm, etz hosd ja scho brav dei Wisserla gmachd und dann bfleechd di die Mamma widder gsund!“

      Die Gemeindeschwester ist rechtschaffen müde von einer schier endlos langen, nahezu völlig durchwachten Nacht, die sie mit einer Engelsgeduld am Krankenbett eines ihrer Patienten verbracht hat. Von einigen wenigen kurzen Phasen erschöpften Wegduselns abgesehen hatte sie kein Auge zugemacht. Ungeachtet der widrigen Umstände macht sie sich aber trotzdem pflichtbewusst auf ihre allmorgendliche Tour. Es hilft sowieso nichts, die Alten und Kranken warten bereits sehnsüchtig auf sie, auf die tägliche Tablettenration, die Insulinspritze, ein aufmunterndes Wort. Das alles hat Adele Heller im Gepäck. Auf sie ist Verlass. Immerhin kann sie seit ungefähr einem Monat ein nagelneues E-Bike ihr eigen nennen, was die Anstrengungen ein bisschen erträglicher macht.

      Eben biegt sie in den schmalen, von üppig blühenden Hecken gesäumten Dahlienweg ein, wo ihre letzte Patientin für heute früh wohnt und wahrscheinlich schon ungeduldig auf sie wartet. Eleonore Lippl ist eigentlich eine ganz Liebe, sie kann aber nicht mehr gut laufen und ist deshalb auch ab und zu etwas unleidlich. Geduld erwächst den Menschen nicht automatisch mit zunehmendem Alter, auch nicht als wohlverdiente Kompensation für die sich unaufhaltsam ausbreitenden Gebrechen, die damit einhergehen. Das Treppensteigen ist seit einem häuslichen Unfall vor zirka vier Monaten kaum mehr möglich, weshalb sie seither auch die Nächte im Wohnzimmer ihres kleinen Einfamilienhauses zubringt, wie mit unsichtbaren Ketten an eines dieser zwar unheimlich praktischen, vielfach verstellbaren, letztendlich aber deprimierenden Krankhausbetten gefesselt. Auch bezüglich ihres Allgemeinzustands steht es nicht gerade zum Besten. Der Arzt hat ihre Verfassung wohl als relativ stabil eingestuft, konnte sich aber die Bemerkung nicht verbeißen, dass dies im gesegneten Alter von 89 Jahren keine Garantie für ein ewiges Leben bedeutet.

      „Gell, Frau Lippl, sie verstehn mich scho richdich. Uns gehds für unser Alder schon noch ganz guud, abber überdreim derf mers nadürlich nimmer. Abber dess wissns ja selber. Schön vorsichdich, brav unsre Dableddn nehmer und wenn alles guud gehd, dann wermer vielleichd sogar noch Hundert. Alles iss möglich. Besser wärs nadürlich, sie häddn eine dauerhafde Pflege. Dess wär dess allerbesde.“

      Warum Ärzte so gerne in der Wir-Form reden, auch wenn sie ausschließlich ihren Patienten meinen, das konnte bislang noch niemand ergründen und es wird wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben. Ob man ihnen dieses Verhaltensmuster schon während des Studiums beibringt? Als vertrauensbildende Maßnahme sozusagen? Die Aussage des Arztes „Alles ist möglich“ hingegen darf man getrost wortwörtlich nehmen, im positiven wie im negativen Sinn. Es ist eine altbekannte Tatsache, dass jede noch so kleine Erkältung, die ein Junger nahezu unbemerkt wegstecken würde, bei bettlägerigen Menschen schnell in eine lebensbedrohlichen Krise münden kann. In ein Pflegeheim würde er sie gerne einweisen, meinte der Hausarzt, wo ihr aufgrund ständiger Kontrollen rund um die Uhr die beste Betreuung und höchstmögliche Sicherheit garantiert sein würde.

      Ob die alte Frau Lippl das alles richtig verstanden hatte, kann niemand mit Sicherheit sagen. Es gibt bei ihr hoffnungsvolle Tage, an denen sie glockenhell im Kopf ist, aber auch andere an denen man alles mindestens dreimal sagen muss bis die verständige Miene der guten Eleonore wenigstens einigermaßen den Eindruck vermittelt,