Günther Dümler

Mords-Brand


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gerade im oberen oder unteren Bereich auf der ausgedehnten Skala ihrer möglichen geistigen Zustände befand, das konnte niemand zuverlässig sagen. Auf jeden Fall kam die durchaus gut gemeinte Empfehlung nicht sehr gut an. Ganz gewiss nicht. Im Gegenteil, sie wurde sogar als ernste Bedrohung empfunden. Die Seniorin reagierte richtiggehend zornig und schlug mit beiden Fäusten heftig auf die Bettdecke. Wäre ihr das Aufstehen noch leichter gefallen, dann hätte sie zweifellos zornig mit dem Fuß aufgestampft wie ein unartiges Kind. Kontrolle rund um die Uhr! Das war genau das, was sie auf keinen Fall wollte. Den freien Willen abgeben, auf die Stufe eines unmündigen Kleinkinds reduziert werden. Niemals! Und sie wollte schon gar nicht ins Heim, nicht weg von ihrem Zuhause, nicht weg von ihrer gewohnten Umgebung und dem aufgrund der Umstände mittlerweile etwas ungepflegten, aber innig geliebten Garten. Und schon gar nicht fort von ihrem treuen Freund, dem munter vor sich hin zwitschernden türkisfarbenen Wellensittich Hansi, der während langer einsamer Tage ihr einziger Ansprechpartner ist.

      Eine richtige kleine Quasselstrippe ist der quicklebendige Bursche. Seinen Namen und sogar die Adresse bringt er mehrmals am Tag zu Gehör, gerade so, als wollte er sich seinem futterverschmierten Ebenbild, das ihm aus einem von der Käfigdecke herabhängenden runden Spiegel entgegenblickt, immer wieder aufs Neue formvollendet vorstellen. Ein Eindruck, der durch sein eifriges Nicken in Richtung des vermeintlichen Spielkameraden sogar noch bekräftigt wird. Hansi Lippiiih, Da-i-enweg dreizeeehhn! Mit dem L hat er so seine Probleme. Das darf er auch, schließlich ist er kein vollwertiger Papagei, sondern lediglich ein viel kleiner unbedeutender Verwandter.

      

      Adele Heller stellt das Fahrrad am Zaun ab und holt mit geübten Griffen ihre Utensilien aus der rechten Packtasche. Das Blutdruckmessgerät bringt sie immer mit, die Tabletten und die Spritzen lagern griffbereit im abschließbaren Fach des Badezimmerschranks der alten Dame. Seit die Patientin nicht mehr richtig Treppen steigen kann hat die Schwester einen eigenen Hausschlüssel. Das ist praktisch und erspart der Frau Lippl unnötige Schmerzen, die ihr jeder vermeidbare Schritt bereiten würde.

      „Guten Morgen! Guten Morgen meine Liebe! Die Schwester Adele ist da!“, trällerte sie mit freundlicher Stimme und dem professionellem Singsang der typischen Krankenschwester in den altmodischen Hausflur hinein.

      Adele Heller zeigt immer gute Laune, auch wenn sie wie heute am liebsten schwer wie ein Stein in ihr Bett fallen und endlich, wenigstens für ein paar Stunden, die Augen schließen würde. Beides gehört zu ihrem Beruf, die freundliche Grundeinstellung genauso wie die Dauermüdigkeit. Die alten Leute sind meist sehr dankbar für ein gutes Wort und Adele ist für viele der einzige Ansprechpartner den ganzen Tag über. Aber die alte Dame gibt keine Antwort.

      „Na, sie wird doch nicht ...“

      Bei der Schwester schleicht sich bereits die gar nicht so unbegründete Befürchtung ein, dass ihrer Schutzbefohlenen die Zeit zu lange geworden sein könnte. Dann krautert sie oft trotz ihrer Schmerzen irgendwo im Haus herum, in einer dieser gelegentlichen Anwandlungen, gemischt aus Ungeduld und Starrsinn, denen sie trotz eindringlicher Warnungen vor den Gefahren einer Selbstüberschätzung immer wieder nachgibt. Eine schlechte Angewohnheit, die der Patientin bisher noch jedes Mal eine darauf folgende, gefährliche Phase tagelanger Erschöpfung bescherte. Adele beeilt sich, durch den Flur in das angrenzende kombinierte Schlaf- und Wohnzimmer zu gelangen. Die Rollläden sind noch nicht einmal hochgezogen, was die Unruhe in ihr zusätzlich befeuert. Rasch zieht sie die Jalousien hoch, um ein bisschen Licht und durch Öffnen des Fensters zudem frische, gesunde Luft in das muffige Zimmer zu lassen. Aus der anfänglichen Unruhe wird rasch ein veritabler Schreck, einhergehend mit einer plötzlichen Atemnot, als sie Eleonore Lippl im Licht der hereinblinzelnden Morgensonne unbeweglich und mit starrem, nach oben gerichteten Blick auf ihrem Bett wie von einem Bestatter hindrapiert liegen sieht.

      Die alte Dame braucht heute keine Tabletten mehr. Der leidige Blutdruck ist auch ohne diese Hilfsmittel drastisch gesunken und liegt aktuell bei Null, ist völlig zum Erliegen gekommen. Exitus. Der Tod muss plötzlich und ohne jegliche Ankündigung gekommen sein, denn sie verharrt auch jetzt noch in einem verschreckten, völlig überraschten Gesichtsausdruck, die Augen weit aufgerissen.

      Adele Heller macht sich heftige Vorwürfe, weil sie heute so spät dran ist. Vielleicht hätte sie noch helfend eingreifen können, wenn sie zur normalen Stunde eingetroffen wäre. Mit zitternden Händen ruft sie den Hausarzt der Frau Lippl, den Dr. Eichberger an. Als der endlich eintrifft, kann aber nur mehr den Tod der alten Dame bescheinigen. Tod durch Herzversagen im fortgeschrittenen Alter. Die Jahre und die damit einhergehende Summe der Leiden haben ihren Tribut gefordert. Vielleicht kam auch ein finaler Asthmaanfall dazu, denn mit dem Schnaufen hatte die alte Dame zuletzt ebenfalls Probleme, weshalb sie immer ein rettendes Spray in Griffweite hatte. Und da lag es auch, mitten auf der geblümten Bettdecke. Es hatte nichts mehr geholfen. Der körperliche Verfall hat letztendlich über die wenigen verbliebenen Lebenskräfte obsiegt.

      Schwester Adele vergießt ein paar Tränen, denn die Tote ist ihr, wie alle ihre regelmäßigen Patienten doch sehr ans Herz gewachsen. Sie liebt ihren Beruf und kommt zwangsläufig immer wieder mit solchen Situationen in Kontakt. Doch trotz aller Routine, an den Tod gewöhnt man sich nie.

      Da die Verstorbene im Dorf selbst keine Angehörigen hatte, oblag es den Behörden, nach etwaigen Verwandten zu forschen, die der Bestattungspflicht unterliegen würden, das heißt, die für eine angemessene Beisetzung zu sorgen hätten. Der Hausarzt wusste von nichts dergleichen, jedoch die Schwester Adele berichtete von einem Enkel, den die alte Dame zu Lebzeiten gelegentlich erwähnt hatte und dem sie ihren gesamten Nachlass zu vermachen gedachte. Ein entsprechendes Testament läge wohlbehütet im Kleiderschrank zwischen zwei Lagen Betttüchern. Das, was so vollmundig Nachlass genannt wurde, bestand hauptsächlich aus dem kleinen Häuschen im Dahlienweg, dem gefiederten Lebensgefährten Hansi nebst Voliere, sowie einigen Altertümlichkeiten von eher zweifelhaftem Wert.

      Frau Lippls Ehemann war zeitlebens ein Sammler alles Antikem und dem was er dafür hielt. Ein gut erhaltener, weil regelmäßig liebevoll polierter Paradehelm der Königlich-Bayerischen Ulanen, einige dazu passende Literkrüge, verziert mit allerlei militärischen Motiven und mit auf dem verzierten Zinndeckel thronenden Reiterfiguren, anscheinend vom ursprünglichen Besitzer anlässlich des Ausscheidens aus dem aktiven Dienst erworben, was aus der Aufschrift „Es lebe der Reservemann“ unschwer abgeleitet werden konnte. Vergilbte Gebetbücher aus der Zeit der Jahrhundertwende, der vorletzten wohlgemerkt und unzählige Sterbebildchen von den Gemeindemitgliedern, die vor Eleonore Lippl die Dorfgemeinschaft in Richtung Ewigkeit verlassen mussten und die sie noch auf deren letztem Weg begleitete hatte. Die Einrichtungsgegenstände, sowie die teilweise noch originalverpackt in den Schränken gelagerten, auf ihren ersten Einsatz harrenden Bettbezüge, die spitzenbesetzten Deckchen aller Größen und Farben würden wohl den direkten Weg in den Wertstoffhof des roten Kreuzes finden, sobald der potentielle Erbe ihrer ansichtig würde.

      Doch zunächst musste er gefunden werden. Darum kümmerte sich die Teilzeitmitarbeiterin des Röthenbacher Bürgermeisters. Zu diesem Zweck suchte sie zusammen mit Adele Heller noch einmal das Sterbehaus auf, um in den Unterlagen nach dem erwähnten Testament und der Adresse des einzigen, soweit man wusste, noch lebenden Verwandten zu suchen.

      Die beiden betraten den Sterbeort der alten Frau Lippl mit dem nötigen Respekt. Die unvermeidlichen Gespräche wurden leise, nahezu flüsternd geführt, so als könnte man die Ruhe des Leichnams stören oder die Seele der Verstorbenen bei deren Aufstieg in den Himmel behindern. Das wurde schon immer so gehalten. Doch verweilte eine Seele überhaupt in der Nähe der sterblichen Hülle, war sie vielleicht schon längst im Jenseits angekommen oder was ging unmittelbar nach dem Tod vor? Niemand weiß das und vielleicht ist auch die daraus resultierende Ungewissheit über das was danach kommt der Grund für dieses beklemmende Gefühl, das einem unweigerlich in der unmittelbaren Umgebung des Todes befällt.

      Den toten Körper konnten sie schon allein deshalb nicht stören, weil die Verblichene noch am Todestag vom Gemeindearbeiter und einem Gehilfen abgeholt worden war. Vermutlich lag sie in diesem Moment friedlich in den Geschäftsräumen des Bestattungsinstituts Unvergessen in Erlenbach, um für die bevorstehende