Rita Renate Schönig

NOTH GOTTES


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„Trotzdem, sie ist eine gute Seele. Und du musst doch nicht gemeinsam mit ihr hinter einem Grabstein sitzen.“

      „Na, da bin ich ja beruhigt“, brummte Herbert. „Trotzdem.

      Du vergisst, dass der Friedhof nachts abgeschlosse is.“

      „Die Rowdys kommen doch auch irgendwie hinein“, gab Helene unbeirrt zurück und presste die Lippen zusammen.

      „Wahrscheinlich mache die ne Räuberleiter. Des wär in unserm Alter dann doch e bissje gewagt, und die Gundel heb ich schon gar net hoch.“

      „Dann müssen wir uns auf dem Friedhof verstecken, bevor dort zugesperrt wird.“

      „Wir müsste vielleicht Stunden dort verbringe.“ Herbert setzte seine Lesebrille ab.

      „Na und!“

      Sein ohnehin bröckelnder energischer Widerstand entschwand in die unendlichen Weiten des Universums. Oder wie er sich ausdrücken würde, ins Nirwana.

      ***

      „Ihr seid verrückt! Wie grauslich.“

      Mit dir bestimmt. Herbert verzog das Gesicht.

      „Jetzt stell dich nicht so an.“ Helene deutete zum benachbarten Gebäude, das auf dem ehemaligen Grundstück der Häuslers errichtet worden war. „Jahrzehntelang hast du quasi mit zwei Leichen quasi Tür an Tür gewohnt und dann gruselt dich ein Besuch auf dem Friedhof.“

      „Hör bloß auf. Noch heute kriege ich Gänsehaut, wenn ich daran denke“, antwortete Gundel. „Ich fürchte mich auch nicht vor einem Besuch auf dem Friedhof; mir graut es nur vor einem Besuch nachts auf dem Friedhof.“

      „Papperlapapp. Wir müssen den Vandalen das Handwerk legen“, drang Helene weiter auf Gundula Krämer ein.

      „Ja das schon. Aber warum wir?“ Gundel wand sich. „Ist das nicht Sache der Polizei? Warum unternimmt die nichts oder deine Frau Wegener?“

      „Nicole ist bei der Mordkommission“, konterte Herbert. „Die komme nur, wenn en Mord passiert ist. Also en frische. Des, dort“, er zeigte ebenfalls in die Richtung des neuerbauten Nachbarhauses, „des war e Ausnahme. Außerdem, was da momentan auf em Friedhof passiert, is Sachbeschädigung. Und dafür is unser Stadtpolizei zuständig. Aber die komme ja net weiter, wie se selber zugebe. Deshalb bitte die um Hinweise aus der Bevölkerung. So steht‘s jedenfalls im Blättche.“

      „Ganz genau“, bekräftigte Helene. „Und diese Hinweise könnten wir liefern. Du, ich und der Herbert.“

      „Was ist mit dem Sepp und dem Schorsch?“

      „Des muss ich dir jetzt net werklich erkläre?“ Herbert schnaufte tief. „Also, nix gege de Sepp. Des is en gude Kerl. Aber erstens is der net mehr so schnell auf de Füß und dann hört er schlecht. Der würd‘ übern ganze Friedhof plärre, wenn er überhaupt was bemerke tät. Will heiße, wir wärn aufgefloge, bevor die Lumpe was anstelle könnte.“

      „Stimmt“, gab Gundel kleinlaut zu. Dann erhellte sich ihr Gesicht. „Und deshalb braucht ihr mich.“

      Leider. Herbert rollte mit den Augen und sagte: „So is es.“

      „Trotzdem. Mir wäre es lieber, wenn der Schorsch auch mitkommen würde. Ich könnte doch zusammen mit ihm in einem Versteck liegen? Eh …, also nicht so richtig liegen.“ Sie knetete verlegen ihre Hände. „Ich meine …, ich denke nur, vier Augen sehen mehr als zwei.“

      Herbert räusperte sich und schüttelte in Gedanken den Kopf. ... dass Gundel und Schorsch …? Nein, so richtig vorstellen wollte er sich das nicht!

      „Na gut. Ich red mal mit ihm“, sagte er letztlich. „Dann kann’s heut‘ Nacht losgehe.“

      „Was? Heute schon.“ Gundel schlug ihre kleinen fleischigen Hände aneinander. „Eijeijei. Darauf bin ich jetzt überhaupt nicht vorbereitet.“

       Donnerstag, 27. August – 20:30 Uhr

      Die drei nächtlichen Friedhofsbesucher verharrten in ihrem Versteck, hinter der Mauer des Ehrenfriedhofs, der den Opfern des Zweiten Weltkriegs angedacht war, bis der Bedienstete der Friedhofsverwaltung die Örtlichkeit durch die südwestliche Pforte verließ.

      „Hoffentlich schließt der jetzt net zu. Wie solle mer dann widder rauskomme?“, fragte Schorsch im Flüsterton.

      „Im schlimmsten Fall mit einer Räuberleiter.“

      Gundels spontaner Vorschlag brachte seine Gesichtsmuskeln kurzzeitig zum Zucken. Und bei Herbert machten sich erneut Bilder breit, die er nicht sehen und schon gar nicht umsetzen wollte.

      „Hier, für Helene.“ Gundel drückte ihm einen aufklappbaren Campinghocker in die Hand; den zweiten hielt sie selbst fest umklammert. „Damit wir keine Blasenentzündung bekommen“, fügte sie erklärend hinzu.

      Diese Äußerung auf mögliche urologisch bedingte gesundheitliche Auswirkungen überhörten beide Männer ebenso großzügig. Stattdessen zog Schorsch einen Flachmann aus seinem Rucksack und reichte ihn Herbert. „Hier, der is vom Sepp, aus soim Vorrat. Wenn er schon net dabei soi kann, dann kennte mer wenigstens bei jedem Schluck an en denke, hot er gemoant.“

      „Na ihr seid ja auf alles vorbereitet“, brummte der und mahnte: „Denk aber net zu oft an Sepp.“ Spätestens jetzt wurde ihm klar, dass er diese Aktion bereuen würde.

      Zielstrebig ging er auf die nahe gelegene Gebetskapelle zu, um sich im Inneren zu verbergen. Indessen spazierten Gundel und Schorsch zur Noth Gottes Kapelle, auf der gegenüberliegenden, nordwestlichen Seite des Friedhofs. Helene suchte sich einen Platz, zwischen den Gräbern, an der dritten Pforte. Alle vier waren von Herbert mit Taschenlampen, Kameras und Funkgeräten ausgestattet worden. Von Letzterem machte Gundel anfangs reichlich Gebrauch, bis er drohte, ihr die Sprechanlage wieder abzunehmen.

      Fast zwei Stunden waren seither vergangen und noch immer ließen die Rabauken sich nicht blicken. Herbert streckte seine Beine aus und rieb über die Oberschenkel. Is halt des Alter. Er schaute auf seine Digital-Quarz-Armbanduhr. Er hatte sie erst kürzlich erworben. Abgesehen von der Zeit lieferte sie etliche unentbehrliche Informationen wie zum Beispiel einen Höhenmesser, plus Addition und einen Digitalkompass. Gut – im Moment brauchte er diese Zusatzfunktionen nicht wirklich. Ebenso wenig war die Auskunft über den Sonnenuntergang, bei gerade nachtschwarzem Himmel mit vereinzelten Sternen und der Sichel des zunehmenden Mondes. Gegenwärtig irrelevant. Hingegen verriet der Zeitmesser, um Viertel vor zehn, eine Temperatur von 21 Grad. Für eine Nacht im August schon noch beinahe kuschelig – ausgenommen, man befindet sich gerade auf einem Friedhof, der das Wärmegefühl empfindlich beeinträchtigt.

      Entfernte Stimmen lenkten Herberts Aufmerksamkeit wieder auf den Grund ihres Hierseins. Er drückte die Sendetaste seines Funkgeräts, die er mit einer Zwei gekennzeichnet hatte.

      „Schorsch, tut sich was bei euch?“, flüsterte er.

      Es knackte kurz. „Nix. Die Gundel verbiet‘ mir nur den Schnaps.“

      „Geht des vielleicht e bissje leiser?“

      Nach einem erneuten Knackgeräusch zischelte er: „Mir is awer kalt.“

      „Es is net kalt“, widersprach Herbert, in Erinnerung an die soeben abgelesenen 21 Grad. „Außerdem sollst du dich net vollsaufe.“

      „Mit dem, was do in dem klaane Fläschje drin ist, werdst de net amol benewwelt“, maulte Schorsch zurück.

      Herbert, der einige Zeit zuvor an dem hochprozentigen Mitbringsel gerochen und sich angewidert geschüttelt hatte, war anderer Meinung.

      „Schluss jetzt. Gosche halte“, fauchte er in sein Sprechgerät.

      Schlagartig setzte wieder Totenstille ein.

      Eine gute halbe Stunde später meldete Helene mit deutlich bebender Stimme. „Herbert! Da ist wer. Aber ich bin mir