Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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Beiträge von ihm wurden schriftlich eingereicht und zu Protokoll gegeben.

       M wurde 2013 in den Bundestag gewählt. Seine Partei pflegt in seinem Wahlkreis immer die Mehrheit zu erhalten, und so ist M ein direkt gewähltes Mitglied des Parlaments. Dort gilt er als ein geschätzter Kollege, dessen Ambitionen als überschaubar gelten. Gegenüber dem Führer seiner Fraktion ist er vollständig loyal, was mit steter Freundlichkeit erwidert wird. Bei seinen politischen Freunden ist er geachtet, vor allem auch wegen seines bescheidenen Auftretens und wegen seiner unbedingten politischen Zuverlässigkeit denen gegenüber, die im Bundestag auf ihn zählen. Man hat ihn in den großen Innenausschuss geschickt, wo er sich mit weiteren 36 Mitgliedern dem Schwerpunkt Innere Sicherheit widmet.

      Im Bundestag unterhält M wie alle Mitarbeiter des Bundestages, kurz MdB, ein Büro. Dafür hat er im Jakob-Kaiser-Haus in der zweiten Etage zwei Standardräume mit je achtzehn Quadratmetern und mit den für ihre Zwecke typischen biederen, aber durchaus freundlichen Einrichtungen. Im vorderen Zimmer arbeiten seine Sekretärin und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin. Mit diesem Raum verbunden residiert er selbst im hinteren Zimmer. Die Tür zum Gang hält er von seinem Zimmer aus immer verschlossen.

      Über seine Sekretärin spricht M meistens in warmherzigeren Worten als über seine Mitarbeiterin. Im Alltagsbetrieb nennt er die Sekretärin immer Schatz. Schatz ist mit 55 Jahren ungefähr genauso alt wie er, eine durchaus attraktive Frau, unauffällig, aber stilvoll gekleidet, bestens vernetzt vor allem in der Verwaltung des Bundestages. Schatz führt seinen Terminkalender mit den vielen offiziellen und halboffiziellen Treffen, Veranstaltungen, Gesprächen, Sitzungen und Unterhaltungen. Sie macht die Ablage, die Korrespondenz, räumt auf, telefoniert, mailt im Namen des Abgeordneten. Ohne Schatz, das weiß M, wäre er völlig hilflos dem politischen Stressbetrieb ausgesetzt und nicht in der Lage, auf den Bühnen der Gesellschaft des politischen Berlins mitzuspielen.

      Seine wissenschaftliche Mitarbeiterin nennt er ausschließlich Madame. Mit 37 Jahren ist sie jünger als M. Die studierte Soziologin arbeitet mit M auf der Grundlage eines privatwirtschaftlichen Arbeitsvertrags, der für eine Legislaturperiode mit gegenseitigen Kündigungsrechten abgeschlossen worden ist, und wird aus dem ihm zustehenden Personalbudget finanziert. Bevor sie ihre Arbeit bei M begann, hatte Madame bereits für zwei andere Abgeordnete aus seiner Fraktion gearbeitet, kennt sich also in der Büroleitung, dem Redenschreiben und den Anforderungen an die Öffentlichkeitsarbeit aus. Madame hatte sich durchaus auf M gefreut, da er vergleichsweise jung und als neues MdB auf ihre Zuarbeit besonders angewiesen war. Sie hatte allerdings schnell gemerkt, dass mit ihrem neuen Arbeitgeber keine großen politischen Sprünge zu machen sein würden. Das demotivierte sie aber nicht in ihrem Arbeitseifer. M war ihr in einer Weise sympathisch, die außerhalb des Politischen lag. Manchmal sitzt Madame vor ihrem Computer und baut an den Sätzen eines politischen Textes. Dann denkt sie an M, lächelt, weil sie ahnt, dass M den Inhalt ihrer Sätze nie verstehen wird.

      M verbringt mehr als die Hälfte seiner Zeit in Berlin. In den 22 Sitzungswochen ist seine Anwesenheit dort Pflicht. Um sie herum hat er sich in der Stadt ein eigenes Arbeitsprogramm aufgebaut, mit dem seine Verweildauer stetig gewachsen ist. Zu Beginn seines Mandats hatte er noch seinem Wahlkreis versprochen, die Hälfte seiner Arbeitszeit bei seinen Freunden zu Hause zu verbringen. Es gehörte zu den stark unterstrichenen Kernaussagen daheim, dass die großartige parlamentarische Verantwortung im fernen Berlin getragen bleiben müsse durch die Anliegen und die Lebensweisheiten der vielen Freunde in der Heimat. „Ich stehe mit beiden Beinen auf der Erde, zu der ich gehöre.“ So stand es noch in dem Wahlbrief, den er im Sommer 2013 an alle Haushalte seines Wahlkreises hatte verteilen lassen. Auch deshalb hatte man ihn gerne gewählt.

      In Berlin ist er unwichtiger und unsicherer als zu Hause auf dem Land, von dem aus er in die große Politik aufgebrochen war. Hauptstadt und Provinz ist für M ein schwieriges Paar. Fast täglich spürt er die Diskrepanz. Umso mehr achtet er darauf, dass sein Büro tadellos funktioniert. Für ihn ist es wichtig, dass es überschaubar und ordentlich bleibt, dennoch den ernsthaften Eifer ausstrahlt, der jeden Entsandten in diesem Hohen Haus als absolut notwendig erscheinen lässt. Einer von den 631 Abgeordneten ist M. Bei einer so großen Zahl würde man ihn auf einem Gruppenfoto aller Abgeordneten kaum mehr erkennen.

       Auf dem großen Winkelschreibtisch aus dunklem Nussbaumholz liegen immer nicht zu hohe Stapel Papiere und Mappen. Dort liegen auch die drei Zeitungen, die er abonniert hat, und rechts neben dem Computer stehen die wichtigsten Gesetzestexte und Verordnungen für seine Tätigkeiten. An den Wänden hängen schöne Plakate aus seinem Wahlkreisgebiet und über dem Besprechungstisch hängt ein riesiges Foto, auf dem ihm die Bundeskanzlerin auf einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Marktplatz seiner Geburtsstadt lächelnd die Hand drückt. Mit Filzstift hatte er quer ins Foto eigenhändig die Worte geschrieben: „Viel Glück!“ Im Bücherregal lagern viele Protokolle. Die wenigen zeitgeschichtlichen Schriften werden eigentlich nur von Madame genutzt. So bleibt viel Platz in den Regalen, in denen Pokale und Andenken aus seiner Heimat ihren Platz gefunden haben. Aber auch eine Reihe Kriminalromane gibt es da und – als einzige individuelle Beigabe – astrologische Bücher, zum Teil in prachtvoller Aufmachung. Seinem Schatz hatte er mal anvertraut, diese Bücher seien für ihn zwar nicht beherrschend, sie seien für ihn aber auch nicht verzichtbar, weil er „die Marotten eines siebten Sinnes“ habe. Schatz hatte das nicht weiter hinterfragt und nur geantwortet: „Ich lege mir auch manchmal die Tarotkarten.“

      M legt großen Wert auf Pünktlichkeit und auf das Einhalten möglichst gleichlaufender Präsenzzeiten in seinem Büro. Das war für Madame eher ungewöhnlich im Bundestag mit den Stoßzeiten, ständig neuen Terminanforderungen und langfristig verplanten Verpflichtungen. Aber M hatte gleich am ersten Tag in seiner Begrüßungsansprache in seinem Büro die Regel ausgegeben: „Zwischen 10.00 und 16.00 Uhr ist Kernarbeitszeit. Wenn ich in diesen Stunden nicht gerade woanders sein muss, sind wir drei hier.“ Schatz und Madame lernten, mit dieser Regel gut zu leben, versprach sie doch vor allem, im Vergleich zu den anderen Abgeordnetenbüros, einen planbaren Dienstschluss und attraktive Übergänge ins Privatleben.

      Die wachsende Inanspruchnahme von M in Berlin lag nicht nur in dem kaum zu bewältigenden Arbeitspensum für die Abgeordneten. M sucht die geordneten Verhältnisse. Was Stress erzeugt und ihn aus zeitlichen Routinen drängt, ist ihm zuwider. Deshalb musste er den Weg einschlagen, die Fülle seiner Verpflichtungen als Abgeordneter nicht in die Enge der Sitzungswochen zu pressen. Entzerrung wurde ein von ihm immer häufiger genutztes Wort. So übernahm er nicht mehr die Gewohnheit, sich am Freitag so früh wie möglich auf den Weg nach Hause zu machen, um am Montag zu nachtschlafender Zeit wieder in die Hauptstadt zu reisen. Mit den Wochenenden entdeckte er Tage, die nicht mehr ausschließlich durch seine Arbeit im Bundestag bestimmt wurden. Er hatte mit der Zeit gelernt, dass er umso mehr Persönlichkeit ausstrahlte, je weniger innere Anspannung und zeitliche Überforderung ihn belasteten. So wurde seine Anwesenheit im Wahlkreis immer knapper und seltener.

      In den zwei Jahren seines Lebens als Abgeordneter in Berlin hatte er Spielräume gewonnen, die er zu nutzen verstand. Er wirkte, wie er zu beobachten meinte, ruhiger als viele seiner geschäftigeren Kolleginnen und Kollegen. Als Bestätigung empfindet er die Beweise an Zuneigung, die er in der dicht neben seinem Büro gelegenen Parlamentarischen Gesellschaft erfährt. Dort ist er ein gern gesehener Gast. So oft wie möglich begibt er sich am späten Nachmittag in die prächtigen Räume des Palais an der Spree, um die hervorragende Küche mit dem empfindsamen und diskreten Service zu genießen, bevor er dann zu einem abendlichen Glas Wein oder Bier in Ossis Kellerkneipe im Souterrain dieses herrschaftlichen Hauses zieht, wo er sich im Lauf der Zeit zahlreiche Freunde aus allen Fraktionen des Parlaments gemacht hat.

      Nicht geringen Einfluss auf seine wachsende Verweildauer in Berlin hatte noch eine andere Entwicklung. Außerhalb des Kreises der vielen Menschen, die Nähe zur Politik suchen oder diesem Kosmos angehören, hatte er eine Wahrsagerin kennengelernt. Sie arbeitete in Friedrichshain, in einer ziemlich verborgenen Hinterhofwohnung in der Sonntagstraße nahe dem Ostkreuz. Als er sie zum ersten Mal unverbindlich besuchte, wusste er sofort, dass er sich ihrem Bann nicht würde entziehen wollen. Er verband mit ihr keinerlei erotische Ambitionen. Sie ist etwa so alt wie er. Er weiß, dass ihre Anwesenheit ihn Macht spüren lässt. Er ist überzeugt, ihre Macht über ihn wird ihm mit der Zeit den