Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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er sich genau erinnern konnte, was dort bei dieser Frau mit ihm geschehen war. Der Besuch in Friedrichshain am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis war ihm in den Knochen stecken geblieben. Er quälte sich, durch intensives Nachempfinden herauszufinden, welche Botschaften die Frau ihm überbracht hatte. Auf dem Weg, das irgendwie haften gebliebene Kürzel DWB zu entwirren und mit Anschlägen gegen seine Republik in Verbindung zu bringen, schwirrten immer wieder Assoziationen und Wortfetzen durch seinen Kopf, von denen er nicht wusste, welchen Ursprung sie hatten. Mit der Zeit jedoch war er sich immer sicherer geworden, dass bei der Verabschiedung von seiner Wahrsagerin noch ein Satz von ihr gesprochen worden war, der zunehmend als Last des Besuchs auf seiner angespannten Seele lag. Als er nämlich die Frau nach dem Tag der Sonnenfinsternis tief in der Nacht verlassen hatte, und sie im matten Schein der Kugel Auge in Auge sehr nahe gegenübersaßen, hatte sie seine beiden Hände fest gedrückt, was bei ihr nie üblich war, und hatte fast ängstlich mit unterdrückter Stimme geflüstert: „Es wird sehr bald etwas Fürchterliches geschehen, das unser ganzes Land in Schrecken versetzen wird. Ich sehe, wie etwas in voller Wucht zerschellt, sehe einen Regen aus Trümmern vom Himmel fallen.“ Ihre Stimme war dann erloschen, und die Wahrsagerin hatte ihn schnell aus der Tür gedrückt und sie hinter ihm laut verschlossen.

      M kann sich gut erinnern, wie unsicher seine Schritte auf der Straße waren, obgleich er sich viel Mühe gab, keinerlei Aufsehen zu erregen. Er winkte sich ein Taxi und ließ sich in ein ihm bekanntes Hotel in die Mitte der Stadt fahren. Er hatte nur wenige Sachen in eine Handtasche gesteckt, als er seine Wohnung am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis verlassen hatte. Unter den wenigen Sachen war auch die neue Kladde. Er blieb von der Nacht bis zum Montag früh im Hotel. Seine einzigen Ausflüge in dieser Zeit führten ihn zur Polizei. Dort hatte er mit dem Kommissar Peter L. einen vortrefflichen Informanten getroffen.

      Er hatte herausgefunden, dass es in den letzten Monaten jeweils in der Nacht vom Sonntag auf den Montag vier Anschläge gegeben hatte, deren Handschrift gleich war und auf ein und denselben Täter hinwiesen. Dennoch blieben Hintergründe und Tatabläufe rätselhaft. Brandsätze, die alle ohne großen Schaden anzurichten gezündet waren, wurden gegen den Reichstag, gegen die CDU-Geschäftsstelle im Tiergarten und zweimal gegen das Paul-Löbe-Haus, den langen Gebäudetrakt des Bundestages gegenüber dem Bundeskanzleramt, geworfen. Diese Objekte galten als besonders gut gesichert und mit Videokameras überwacht. Kein einziges Mal hatte es irgendwelche Spuren eines Täters gegeben. Kommissar Peter L. war sicher, dass bei den Ermittlungen die Scham über das Versagen der umfangreichen Überwachungen die Tateinschätzung mit weitem Abstand am stärksten prägte. Die Öffentlichkeit hätte sich mehr über die staatlichen Stellen als über die Taten empört, zu Recht, wie er meinte.

      An jedem der Tatorte wurden Flugblätter der DWB gefunden, sehr amateurhaft gemacht, mit inhaltlich unauffälligen Aneinanderreihungen allgemein bekannter Sätze gegen Flüchtlinge und Migranten. Über die Deutsche Widerstandsbewegung wussten die Geheimdienste eigentlich nichts. Das war der politische Skandal, wie M sofort erkannte. Auch M interessierte sich nicht besonders für die Inhalte der Pamphlete. Er las da den üblichen rechtsradikalen Unsinn, wie er zurzeit zuhauf verbreitet wurde. M empörte es, dass eine bisher unbekannte Gruppe, ohne aufzufallen, zentrale Gebäude der Demokratie attackieren konnte. Das darf sich eine wehrhafte Demokratie nicht gefallen lassen. Mit vergleichsweise beschränkten Mitteln können ein paar Verrückte alle aufwändigen und teuren Sicherheitssysteme überlisten und Anschläge im Allerheiligsten der Macht verüben, und keiner weiß etwas Genaues. M fühlt sich im Herzen getroffen.

      M fühlt aber in der Empörung und Verwirrung auch einen anderen Zugang zu der skandalösen Sache. Offensichtlich ist er der erste Politiker, der dieser Spur nachgeht. Auf ihn kommt es jetzt an. M sieht in sich seine Bedeutung als Politiker wachsen. Ab nun wird seine Stimme Gewicht bekommen. Er wird gefragt sein. Er wird ruhig und selbstbewusst Antworten vortragen, in seinem Ausschuss berichten, vor der Presse sein Gesicht zeigen. Dieses Wochenende wird der Ausgangspunkt für einen Sprung in seiner Karriere sein. Mit Peter L. hat er ins Schwarze getroffen. Auf ihn wird er sich berufen können, ohne ihn als Informationsquelle zu nennen und ihn in seinem dienstlichen Umfeld beruflich zu gefährden. Natürlich wird er mit keiner Silbe erwähnen, wie ihn seine Wahrsagerin auf die Spur gesetzt hatte. Für sie empfindet er jetzt dankbare Zuneigung.

      Ganz so ahnungslos waren die staatlichen Einrichtungen allerdings nicht, wie M zunächst annahm. M hatte nicht ganz genau hingehört, was ihm bereits Peter L. zu berichten wusste. Diese Passage der Unterhaltung war zu sehr überlagert durch die Versicherungen und Rückversicherungen für einen unbedingten Informantenschutz, die mit einer Art Schwur durch M abgeschlossen wurden, dass sich M dafür verbürge, nie dieses Treffen zu erwähnen und nie den Namen des Informanten oder seine Dienststelle ins Gespräch zu bringen. Peter L. zur Folge hatte der Generalbundesanwalt bereits nach dem zweiten Anschlag wegen des Inhalts der Flugblätter einen „Beobachtungsvorgang“ für die Akten anlegen lassen und darüber in der Sitzung des „Gemeinsamen Extremismus und Terrorismus Abwehrzentrum“ informiert. M hatte sich lediglich das Stichwort Generalbundesanwalt notiert, das Zentrum hatte er nicht weiter beachtet. Ihm gehörten auch das Bundeskriminalamt und das Landeskriminalamt Berlin an. Das waren Informationen, die M nicht sorgfältig genug registriert hatte. So war ihm entgangen, dass das LKA bereits die Berliner Staatsanwaltschaft informiert hatte, die in Sachen Brandstiftung wegen der rätselhaften Nachtanschläge ermittelte. Aber richtig liegt M mit der Einschätzung, dass es keine Aufklärung gegeben hatte, dass die ganze Sache der Öffentlichkeit vorenthalten war.

      In seinem Hotel grübelt M über seine nächsten Schritte. Vor seinen Augen entsteht die Dramaturgie für die Einrichtung eines neuen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, möglichst unter seiner Leitung. Seine Handlungsstrategie ist aus seiner Sicht konsequent und politisch zwingend. Das kriminelle Delikt der Anschläge muss in die politische Sprache des Schutzes von Staat und Gesellschaft übersetzt werden. Die Inhalte der Flugblätter sieht er nicht als die eigentliche Gefahrenquelle. Sie sind für ihn die intellektuelle Form rechtsradikaler Parolen, nicht gerade anregend, aber leider nun mal Bestandteil der laufenden Auseinandersetzungen in der Bevölkerung, Ausdruck der Angst vor den Flüchtlingen, die ins Land kommen, Abneigung gegen die vielen Menschen aus anderen Ländern, die sich in Deutschland breitgemacht haben. Doch die Anschläge als Tat verweisen auf einen anderen Zuschnitt der Täter als jene Menschen, die Vorstellungen haben, wie sie in den Flugblättern aufgeschrieben sind, und die in großer Zahl politisch zu umwerben, M nicht als Problem seiner politischen Grundeinstellungen empfindet. Die Täter, so baut M seine Hypothese auf, stammen aus dem aktionistischen Milieu der Stadt, das als Folge der sozialen und kulturellen Verwahrlosung immer größer wird und das er an vielen Stellen der Stadt immer anschaulicher besichtigen kann. Die Tat selbst läuft stets nach dem gleichen Muster ab. Das stärkt den zweiten Teil seiner Hypothese, dass es sich um einen Einzeltäter handeln wird, der für eine Kerngruppe austestet, wie die Sicherheitsvorkehrungen gerade dort zu überlisten sind, wo sie ihren höchsten Standard erreicht haben.

      Am Montag, dem 23. März, steht M sehr früh auf, frühstückt einigermaßen entspannt im Hotel und genießt seit Tagen zum ersten Mal wieder seinen Kaffee. Er möchte pünktlich in seinem Büro sein. Vor ihm liegt nicht nur eine anstrengende Sitzungswoche. Er hat darüber hinaus politische Verantwortung durch Eigeninitiative umzusetzen, die ihm sein neues Wissen auferlegt hat. Schatz und Madame werden eine Menge zu tun bekommen. Wie es seine Gewohnheit ist, überfliegt er am Morgen in seinem Smartphone die lange Liste der News, die ihm von seiner Partei zur Verfügung gestellt werden. So macht er es auch heute Morgen in der Hotellounge. Keine der Überschriften fesselt ihn sonderlich oder regt zum Weiterlesen an. Er ist bereits in der Nachhut der Nachrichten angekommen, beim Vermischten und Sex and Crime des Tages sozusagen. Diese weniger wichtigen Meldungen scrollt M normalerweise im Schnelldurchgang. Aber da! Wie elektrisiert liest er: „Brandsätze gegen das Paul-Löbe-Haus“.

       Als Sturm rasen die Zeilen durch seinen Kopf, die er da liest. Die gerade eben zurecht gelegten Sätze über den DWB wirbeln durcheinander. Seine kaum wieder etwas ins Gleichgewicht gependelte Gemütsverfassung bricht im Beben erschüttert zusammen. „Zerschellen“ fällt als erste Wortassoziation in sein Bewusstsein. Und ein schwaches Erinnerungsbild meint er aus seinem tiefen Inneren auferstehen zu sehen, als er zu lesen beginnt: „Gegen das Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages