Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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war. M sitzt staatsmännisch mit aufrechtem Rücken vor seinem Schreibtisch, öffnet seinen Füller, neigt den Kopf leicht nach rechts, führt die Feder zu der vorbestimmten Stelle am Ende des Textes und unterschreibt mit seiner markanten Signatur, innerlich mit gefühlter Würde, ein wichtiges Dokument nun auf den Weg zu bringen.

      Unter anderem lag in seiner Mappe eine Notiz von Madame: „Ihr Hinweis auf sprachliche Eigentümlichkeiten des Pamphlets der DWB ist interessant. An Ihren Vermutungen könnte etwas dran sein. Tarnung ist ja heute ein weit verbreitetes Mittel in öffentlichen Bekundungen. In der Sache bin ich nicht darüber hinausgekommen, was Ihnen bereits bekannt ist. Anders als Sie sehe ich aber noch keinen parlamentarischen Handlungsbedarf, da eine Verdunklungsgefahr oder ein Versagen der staatlichen Stellen noch nicht zu erkennen ist. Vielleicht sollten Sie mit ihrer Unterschrift unter den Briefen noch etwas warten. Die Angelegenheit scheint mir bei der Staatsanwaltschaft im Augenblick ausreichend gut aufgehoben.“

      M ärgert sich über diese Einschätzung. Er überlegt nicht lange, was Madame zu diesen Zeilen bewogen haben könnte. Er hält seine Mitarbeiterin für klug, aber für zögerlich. In seinem Kopf steht fest das Wort: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ Er holt zwei Briefumschläge, tütet seine Briefe ein, schaut sich noch einmal kurz im Büro um und verlässt schnell die Räume. Die Briefe befördert er in die Hauspost und entfernt sich aus dem Bundestag. Bereits gegen 18.00 Uhr ist er wieder in seiner Charlottenburger Wohnung. Dorthin hat er sich mit dem Fahrdienst des Bundestages befördern lassen. Ausspannen, etwas Abstand gewinnen, früh ins Bett gehen ist sein Programm.

      Bilder und Informationen der vergangenen Tage gehen ihm durch den Kopf. Macht, Schicksal, Verantwortung, Irritationen sind ihm Koordinaten, die es ihm schwer machen, seine Identität und sein Persönlichkeitsprofil klar zu erkennen. Kosmische Einflüsse auf das Tagesgeschehen sind stets auf seinen Rechnungen, wenn er über sich nachdenkt. Sie gehören zu seinen privaten Überzeugungen. Er weiß, sie sind kaum mit den intellektuellen Anforderungen an einen Politiker zu vereinbaren. Deshalb spricht er darüber mit keinem und lässt als Bundestagsabgeordneter nicht erkennen, welche Bedeutung sie für ihn haben. Er kann sich die Logik solcher Einflüsse nicht erschließen. Die Wirkungen sind für ihn offensichtlich, aber die Wirkungszusammenhänge kann er nicht erkennen. In seiner Person lagern Schichten, die jenseits der Politik ein üppiges Leben führen und auf ihm nicht bekannte Weise den privaten Menschen M mit dem politischen Menschen M verbinden.

      Er glaubt daran, dass es Medien gibt, die kosmische Einflüsse auf seine Persönlichkeit zu lesen und zu vermitteln verstehen. Diese Medien leben versteckt unter den Menschen und sind Personen, die mit Politik nichts zu tun haben. M zieht es zu solchen Personen, die einen Zugang zu dieser anderen Ebene der Gesetze über Leben und Geschehen auf der Erde haben. Es würde ihn auch zu diesen Personen ziehen, wäre er nicht in der Politik. Aber er verspricht sich ein zusätzliches Kraftfeld für seine berufliche Tätigkeit, wenn er die Logik des Irrationalen zulässt. In seinen Aufzeichnungen findet sich der Satz: „Über eine Wahrsagerin als Medium kosmischer Konstellationen für unser Leben gewinne ich Hinweise für meinen politischen Kosmos. Von außen gesehen wird man mich als Politiker mit Machtinstinkten zu begreifen versuchen. In Wirklichkeit sind meine Instinkte das Ergebnis eines Lebenslaufs, dessen Rationalität mir selber verborgen bleibt. Was ich nicht nach außen kommuniziere ist meine Gewissheit und die daraus resultierende politische Praxis, dass neben Religion oder Natur ein kosmisches Regulativ für die Entwicklungen auf der Erde mitbestimmend ist.“ Er glaubt, mit seiner Wahrsagerin einen schicksalshaften Glücksgriff gemacht zu haben, obgleich er sie als Person nicht mag, sie ihm als Frau zuwider ist.

      Die in Berlin gefundene Wahrsagerin hält er für ein Medium, über das er nicht wissen will, wie es funktioniert. Sie verfügt, das spürt er, besonders zuverlässig über die Gabe der klaren Sicht des Kosmischen. Sie ist für ihn wie eine Brücke zwischen seinem Alltag als Politiker und den Außeneinwirkungen auf die Dinge, mit denen er sich zu befassen hat. Die Sonnenfinsternis ist nach seiner Überzeugung mehr als ein markantes Großereignis in den ständigen Interdependenzen zwischen dem raumzeitlich Unendlichen und dem raumzeitlich Begrenzten im Hier und Jetzt. Diese Interdependenzen können Politiker – auch das eine Feststellung, die sich in seinen Aufzeichnungen findet – nicht aufheben oder beseitigen. Das sei so unmöglich, „wie ein Erdbeben, einen Vulkanausbruch oder einen Tsunami verhindern zu wollen.“ Für ihn als Politiker sind Zeichen des Himmels, die aus dem Reich des Unendlichen unmittelbar im begrenzt Überschaubaren eingeschrieben sind, wichtige Botschaften, um einem Kompass folgen zu können, was Aufmerksamkeit zu beanspruchen hat. „Wir können keine Katastrophen vermeiden und nicht die Ungerechtigkeit in der Welt beseitigen. Wir können auch nicht das Leben für alle sicher und planbar machen. Aber wir können uns sensibilisieren für Ereignisse und Entwicklungen, die von uns angemessenes Handeln erfordern“, hat sich M an den Anfang seiner Kladde „Im Jahr der Sonnenfinsternis“ geschrieben.

      Für seinen Kompass ist seine Wahrsagerin sehr wichtig. M hält sich für einen der wenigen Politiker, der mit diesem Kompass arbeitet. M sagt sich, andere haben ihren Beichtvater oder Erzbischof, ich habe meine Wahrsagerin. Wahrscheinlich ist er der Einzige im Bundestag, der zu einer Wahrsagerin läuft. Instinkte und Intuitionen, da ist er sicher, spielen auch bei vielen seiner Kolleginnen und Kollegen eine Rolle. Anders ist kaum zu erklären, warum die einen in der Politik aufsteigen, die anderen aber scheitern. Für ihn ist es auch ein Wettkampf, nach oben zu kommen. Er registriert durchaus, dass die meisten der Parlamentarier in der Hierarchie bedeutender und höher angesiedelt sind als er. Doch das muss nicht so bleiben, das letzte Wort in seiner Karriere ist noch nicht gesprochen. Den höher angesiedelten Instinktpolitikern unterstellt er eine Logik der Intuition. Sie perfektionieren Mittel, die sie aus Irrationalem schöpfen. Für ihn sind Intuition und Instinkte, die man ja nur von außen beobachten und so bezeichnen kann, Ergebnisse aus Überzeugung und Methode. Er kennt also die Grundlagen und Instrumente für den Aufstieg in der Politik. Sie sind bei ihm besonders ausgeprägt, weshalb M zu der Annahme neigt, in der großen Schar der Abgeordneten einzigartig zu sein und ein Alleinstellungsmerkmal des Politischen in seiner Persönlichkeit zu haben.

      Über seine Wahrsagerin weiß er nur sehr wenig. Er hat von ihr erfahren, dass sie seit fünfzehn Jahren in Berlin wohnt und des Öfteren zu einem Familientreffen auf den mittleren Finger der südlichen Peleponnes nach Griechenland fährt. Diese Halbinsel trägt den Namen Mani. Die Wahrsagerin behauptet, ihre Großmutter stamme aus einer uralten manischen Familie, die nicht weit von einer zerklüfteten karstigen Bergkette zu Hause war, an deren Fuß man seit der Antike den Eingang zur Unterwelt, zum Hades verortet hatte. Von dieser Großmutter, eine Zauberin, habe sie viel geerbt. Was sie in den Seancen mit ihrem zweiten Gesicht sehen und erfahren könne, sei wahr, so unzureichend es in ihrer Sprache auch geäußert sein möge. Zu dieser Wahrheit gehöre auch, dass sie nur im Augenblick ihrer Offenbarung Ausdruck finde und von ihr im Nachhinein nicht erinnert werden könne.

      M hatte akzeptiert, das genaue Funktionieren dieses Mediums nicht verstehen zu können. Die Distanz zwischen ihr und ihm war am spürbarsten, wenn sie in den Sitzungen vollständig in ihre Welt eintauchte, in der er für sie ganz ausgeblendet war. Er war dann eigentlich nur ein gebannter Zuhörer ihrer murmelnden Selbstgespräche, in denen es immer auch wieder Passagen gab, von denen er nichts verstand, die er mit nichts in Verbindung bringen konnte, was in seinem Leben interessierte. Legt sie die Karten und schaut in die Kugel, klingt alles viel harmloser, erscheint ihm wie prosaische Psychologie einer sehr gebildeten Frau. M sieht keinen Grund, an der Seriosität seiner Wahrsagerin zu zweifeln. So gibt es auch keinen Grund, an seiner Methode zu zweifeln, sich ihrer für seine Tätigkeit zu bedienen. Seine Methode vertraut er nur seiner Kladde an und hat sich geschworen, nie mit einem anderen Menschen darüber zu reden.

      In der Politik gilt es, keine Spur zu hinterlassen, die dazu führen könnte, ihn der Scharlatanerie zu bezichtigen. Nach außen ist er deshalb der absolut loyale Abgeordnete, der stets den vorgegebenen Spielregeln der parlamentarischen Abläufe folgt und großen Wert darauf legt, als sehr zuverlässig und gewissenhaft zu gelten. Dass er diese Wahrsagerin gefunden hatte, ist für M ein Beweis, dass er, wenn auch nur auf unterster Stufe, einbezogen ist in das kosmische System. Seinen Auftrag versteht er in der ihm eigenen einfachen und prägnanten Art: Signale und Botschaften zu empfangen, sie in politischen Zusammenhängen zu verstehen, Lösungen im