Ulrich Pätzold

Sonnenfinsternis


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hatten sich wie ein Mantel um die Ereignisse geschmiegt, die sich in den wenigen Tagen abgespielt hatten. Es liegt nun an ihm, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

      Mit der Sonnenfinsternis und den für einen Politiker dunklen Wegen, die er ihretwegen in den vergangenen Tagen gegangen ist, verbinden sich für M aktuelle Ereignisse in Zusammenhängen, die andere Politiker offensichtlich nicht sehen können, jedenfalls noch nicht. In Friedrichshain war es in der Nacht nach der Sonnenfinsternis zu einem kurzen großflächigen Stromausfall gekommen. Die Straßenlaternen erloschen, und sofort waren Randalierer zu Stelle. In der düsteren Rigaer Straße brannten schnell errichtete Barrikaden, ein Supermarkt wurde geplündert und Polizisten wurden mit Steinen beworfen. Die Chaoten kamen von einer „Soli-Party“, die nur wenige Häuser von der Wahrsagerin entfernt stattgefunden hatte. Wie ein Schwarm waren die Randalierer durch das Viertel gezogen und hatten zerstört, was auf dem Weg lag oder was sich ihnen entgegenstellte. Autos wurden beschädigt und angezündet, Polizisten verletzt.

      M hatte die Meldungen verfolgt, weil sie so genau in das Bild passten, das ihm vorher seine Wahrsagerin gezeichnet hatte. Das war ebenso präzise wie das Bild von dem schießwütigen Mann in der Straße der Pariser Kommune. Der Mob in diesem Viertel, so die Vorstellung von M – ist nicht nur eine ständige Herausforderung des Rechtsstaates, sondern zeigt, wie der Politik die Zügel entglitten waren. Die Bevölkerung wird eingeschüchtert und die Politik findet keine angemessenen Mittel, mit diesen Zerstörungen im Inneren der Gesellschaft fertig zu werden.

      Dann war da noch der Satz seiner Wahrsagerin, der ihm am meisten zu schaffen machte und so viele Energien in den wenigen Tagen freigesetzt hatte: „Es wird sehr bald etwas Fürchterliches geschehen, das unser ganzes Land in Schrecken versetzen wird. Ich sehe es, wie es in voller Wucht zerschellt, sehe einen Regen aus Trümmern vom Himmel fallen.“ M hatte diese Prophezeiung als Umschreibung der Ungeheuerlichkeit verstanden, dass nun selbst die starken Mauern des Parlaments zur Zielscheibe von Anschlägen werden konnten. Er fühlte in sich den Auftrag, die Initiative zu ergreifen, um die politische und öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Schauspiel zu lenken, das in höllischer Unverfrorenheit die Stein gewordene Demokratie zu zertrümmern begann. Natürlich waren fürs Erste keine sichtbaren Beschädigungen mit den Anschlägen verbunden, und die Tat an sich mochte marginal erscheinen. M aber sah hinter dieser zu vernachlässigenden Äußerlichkeit einen Anschlag mit unendlichem Zerstörungspotenzial. Nicht nur die Gesellschaft erodierte in ihren Kernen. Nun wurde die Demokratie selbst angegriffen und ihre stärksten Symbole wurden der Lächerlichkeit preisgegeben.

      Die Stimmung am Dienstagmorgen im Büro ist spürbar gereizt. M kann seine Nervosität kaum verbergen und schreitet ziellos durch sein Büro. Schatz ist über Gebühr lange mit der Kaffeemaschine beschäftigt. Ihr Lächeln beim Begrüßen ihres Chefs bleibt künstlich. Der Morgen im Büro, das ist sonst ihre große Zeit. Die Bilder früherer Tage, als die drei in freundlicher Konversation mit Kaffee den neuen Arbeitstag begannen, sind ein irritierender Kontrast gegen die unbeholfene Art, wie M und Madame vergeblich den Einstieg in ein Gespräch suchen. Es ist ein grauer Tag, und die Sekretärin hat noch nicht gemerkt, dass sie vergessen hatte, die Jalousien vor den Fenstern hochzuziehen. Es ist lähmend still im Büro, und die Minuten vergehen zäh, in denen alle drei schweigen und jeder mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint.

      Schließlich ist es Madame, die den Bann bricht und sich mit festen Schritten in das Zimmer von M begibt. „Darf ich Sie kurz stören?“ Ihre Stimme klingt unsicher. Schatz sieht sie aus dem anderen Zimmer in der Tür stehen und bemerkt, wie verlegen die junge Frau mit den Fingern ihrer rechten Hand durch die Haare fährt. Auch M wittert, dass seine Mitarbeiterin nicht das Selbstvertrauen ausstrahlt, das er sonst von ihr gewöhnt ist. Er zaudert einen Augenblick, steht dann aber sehr gerade und mit seinem Körper ihr zugewandt: „Sie dürfen. – Sie haben sicher zur Kenntnis nehmen müssen, dass ich Ihrem Rat nach langem Nachdenken nicht gefolgt bin.“ Seine Stimme klingt ein wenig gepresst, als müsse er künstlich Haltung gegen seine Emotionen bewahren. Nach kurzer Pause fügt er zu: „Ich weiß Ihre analytischen Fähigkeiten sehr zu schätzen. Aber ich bin Politiker und muss zum richtigen Zeitpunkt tun, was ich für richtig halte. Und diesen Zeitpunkt halte ich jetzt für richtig.“

      Madame macht ein paar Schritte in Büro hinein und setzt sich auf die Lehne eines Sessels an der Vorderseite des Besprechungstisches. Ihr Chef steht fast ungeschützt vor seinem Schreibtisch, und sie schaut ihm direkt ins Gesicht. Sie holt tief Luft und merkt, wie sie ruhiger wird, wie ihr die Sätze auf die Zunge kommen, die sie sich vorhin überlegt hatte, als sie zur Kenntnis nehmen musste, dass die Briefe bereits nicht mehr im Büro waren. „Ich hatte Ihnen die Notiz geschrieben, weil ich überzeugt war, es könne der Sache nur guttun, noch einmal eine Nacht über die Absicht zu schlafen, einen Untersuchungsausschuss anzuregen. Ich hoffte, im Gespräch können wir klären, ob wir genügend Indizien und Argumente haben, um für diesen Vorschlag Verständnis und Unterstützung Ihrer Kollegen beanspruchen zu können.“

      M schaut sie nicht an, während sie redet. Seine Augen liegen abgelenkt auf dem dicken Stapel der Unterlagen für die gleich beginnende Sitzung. Er braucht diesen kurzen verbalen Schlagabtausch mit seiner Mitarbeiterin, will ihn aber auch nicht richtig. Am liebsten wäre es ihm jetzt gewesen, der Gong für die Abgeordneten wäre in dieses Gespräch gefallen, das Zeichen, sich nun in den Plenarsaal rufen zu lassen und die Plätze einzunehmen. Er schaut auf seine Uhr und vergewissert sich, dass es bis zum befreienden Gong noch etwas dauern wird. So gewinnt er Zeit und bewegt sich langsam hinter seinen Schreibtisch, setzt sich auf seinen Stuhl und faltet seine Hände auf der Tischplatte. Die innere Ordnung stellt sich bei ihm wieder ein, die Dinge um ihn herum verlieren ihr provozierendes Eigenleben. Es ist wieder klar, wer hier Chef ist. Durch die geöffnete Tür ruft er seiner Sekretärin mit seiner liebenswürdigen Stimme zu: „Schatz, hast du für uns noch einen Kaffee?“ Er wendet sich nun seiner Mitarbeiterin zu, die er mit konzentriert ernster Miene ins Visier nimmt. „In der Politik gibt es Situationen, in denen entschieden werden muss, auch wenn noch nicht alle Fakten und Argumente auf dem Tisch liegen, die gegen diese Entscheidung ins Feld geführt werden können.“ Seine Augen bleiben jetzt fest auf das Gesicht von Madame gerichtet.

      M ist über sich selbst verwundert, wie leicht ihm diese tiefsinnige Erkenntnis über das Politische über die Lippen kam. Denn der Satz erscheint ihm nicht nur sehr analytisch zu sein, sondern auch sehr praktisch, weil er den Unterschied zwischen ihm und seiner Mitarbeiterin deutlich macht. M ist ein wenig stolz, wie er Madame gerade mit den Mitteln der Analytik schlagen kann, auf einem Gebiet also, dem sie sich ihm gegenüber überlegen weiß. Und er will ihr ebenso eindrucksvoll deutlich machen, dass er der Entscheider bleibt und seine Mitarbeiterin eine zuarbeitende Rolle einzuhalten hat. Seine Haltung hinter dem Schreibtisch verharrt in einer bei ihm nur selten erkennbaren Festigkeit und Konzentration, welche die Überlegenheit seines Status ebenso signalisieren soll wie die Angespanntheit eines sich selbst reflektierenden Denkers.

      Madame schaut ihn entspannt an und lächelt leicht. Sie ist ihm jetzt ferner denn je. Sie fühlt die stickige Luft, in der seine Worte verhallt sind. Innerlich setzt sich in ihr nur ein Wort fest, das sie wie ihren Augapfel hütet: „Phrase“. Einen Augenblick lauscht sie in sich, genießt, wie dieses Wort klingt. Aber freundlich und korrekt antwortet sie ihm: „Selbstverständlich werde ich mit Ihnen den Weg gehen, den Sie eingeschlagen haben. Ich halte den Weg nicht für richtig, aber ich werde meine Aufgabe so gut wie möglich erfüllen, Sie optimal in dem Entscheidungsrahmen zu unterstützen, der von Ihnen gesetzt ist.“

      In die kurze Pause, die entsteht, kommt Schatz mit dem Kaffee und den Tassen. Sie stellt die Utensilien eines friedlichen Morgens auf den Besprechungstisch. Sie selbst setzt sich gleich zu Tisch, und auch M erhebt sich nun und nimmt seinen Platz zwischen den beiden Damen ein. Beim Eingießen des Kaffees sagt die Sekretärin zu ihrem Chef: „Der Fraktionsvorsitzende hat anrufen lassen. Er möchte Sie gerne um 11.00 Uhr kurz sprechen. Er wird dann im Plenum anwesend sein und lässt Sie bitten, mit ihm ein paar Schritte gemeinsam auf den Gängen hinter dem Plenarsaal zu machen.“

      M zieht die Luft tief in seine Lungen. „Ach, Schatz, öffne doch bitte die Jalousien, es ist ja hier viel zu dunkel.“ Er streckt sich und sagt mit ernstem Gesicht zu den beiden: „Der Wagen rollt. Ich glaube, wir bekommen viel Arbeit.“ Nun ist er auch